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Dünndarm schlägt in der Brust

Transplantationschirurgie. - Wissenschaftler der Medizinischen Hochschule Hannover haben einer herzkranken Patientin aus einem Stück Dünndarm ein neues Herz geformt. Die entscheidende Arbeit leisteten dabei aber die im Gewebe steckenden Stammzellen.

Von Michael Engel | 22.07.2011
    Der bösartige Tumor der 40-Jährigen aus Holland hatte bedrohliche Ausmaße. Deshalb wurde die Frau zu Professor Axel Haverich nach Hannover überwiesen. In der Medizinischen Hochschule leitet er die Klinik für Herz, Thorax-, Transplantations- und Gefäßchirurgie.

    "Bei dieser Patientin war eben sehr speziell, dass dieser Thymus-Tumor sowohl auf den rechten Eingangsbereich des rechten Herzens übergegriffen hatte, aber auch auf die Wurzel der rechten Lunge, so dass sie in Holland als inoperabel klassifiziert war, und sich dann als letzten Rettungsanker nach Hannover gewandt hat."

    Den Tumor aus dem Herzen einfach herauszuschneiden, wäre der sichere Tod gewesen. Eine Organtransplantation kam ebenfalls nicht in Betracht, weil Krebs ein Ausschlusskriterium ist. So entschied sich Prof. Axel Haverich für ein vollkommen neues Verfahren: Den krebsbefallenen Vorhof des Herzens chirurgisch präzise zu entfernen und mit einem Stück Dünndarm der Patientin neu aufzubauen. Während dieser Zeit hing die Patientin an einer Herz-Lungen-Maschine. Haverich:

    "Also der Dünndarm, den wir entfernt haben mit den da dranhängenden Blutgefäßen, war etwa 15 Zentimeter lang. Wir können diesen Dünndarm sehr gut gebrauchen, vor allem weil Gefäße dort mit dran sind, die wir auch wie bei einer Bypass-Operation mit dem Patientenblutstrom verbinden, so dass wir ein funktionierendes, weil durchblutetes Implantat haben."

    Der Chirurg nähte die zuvor gereinigte Darmwand auf das im Körper verbliebene Herz, und zwar genau an jener Stelle, wo zuvor die Herzwand der rechten Vorkammer war. Was dann im Körper der Patientin passierte, konnte der Mediziner im Ultraschall verfolgen: Aus der trägen Darmwand entwickelte sich allmählich eine pulsierende Herzwand.

    "Nach etwa drei Wochen begann tatsächlich so eine Kontraktion dieses Darmabschnittes. Und nach sechs Wochen haben wir eine fast normale Funktion im Sinne einer rechten Vorhoffunktion gesehen, die auch EKG-synchron mit dem Herzschlag der Patientin geschlagen hatte."

    Aus langjährigen Versuchen mit Ratten, später dann auch mit Schweinen und Schafen wusste der Wissenschaftler, dass es funktionieren könnte. Doch woher kamen eigentlich die Herzmuskelzellen? Um diese Frage zu beantworten, wurden Gewebeproben aus den Tierversuchen an das Max-Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung nach Bad Nauheim geschickt. Haverich:

    "Wir haben zwei verschiedene Formen von Herzmuskelzellen gefunden. Eine etwas embryonalere Art von Stammzellen, die sich mitten in dem Darmgewebe gebildet hat, und eine andere, die sich unmittelbar um die Blutgefäße herum gebildet hat, so dass wir im Moment davon ausgehen, dass ein Teil dieser Herzmuskelzellen sich aus Stammzellen des Blutes entwickelt. Nämlich die Herzmuskelzellen, die dann unmittelbar um die Gefäße herum liegen. Ein anderer Teil der Herzmuskelzellen aber offensichtlich aus Stammzellen, die sich im Darm selbst befinden, entwickelt haben."

    Wie und woher die Stammzellen dann ihr Signal für die kurios anmutende Metamorphose bekommen, ist noch nicht aufgeklärt. Entwickelt wurde das Verfahren nicht für Krebspatienten, sondern für Kinder mit schweren Herzfehlern. Allerdings hat man bei Kindern bislang noch keinen klinischen Versuch unternommen. Rund 1000 Betroffene werden jedes Jahr in Europa mit einem Herzfehler geboren. Viele sterben frühzeitig, weil nicht genügend Organe für eine Transplantation bereit liegen. Haverich:

    "Ja, wir wollen das Verfahren übertragen – eigentlich war das auch unsere primäre Motivation – auf Kinder mit angeborenen Herzfehlern, die eben nur mit einer von zwei Herzkammern oder einem von zwei Vorhöfen geboren werden, wo wir mit Hilfe dieses Verfahrens dann eine Linderung, vielleicht sogar eine Heilung des angeborenen Problems herbeiführen können."

    Bald, so Professor Haverich, könnten die ersten Kinder von dem neuen OP-Verfahren profitieren. Vorerst im Rahmen von sogenannten Heilversuchen, nämlich dann, wenn den Betroffen anders nicht mehr geholfen werden kann. So ein Fall war auch die Patientin aus Holland. Ohne Operation wäre sie schon gestorben. Seit wenigen Tagen lebt die Mutter von vier kleinen Kindern wieder bei ihrer Familie – mit einem Herzen, das früher einmal ein Stück ihres Darmes war.