In einem der Spiralhefte, die er unermüdlich voll schrieb, notierte Friedrich Dürrenmatt im Frühjahr 1955 (er war 34 Jahre alt):
"Bahnhof. Schnellzug hält durch Ziehen der Notbremse. Schlussbild ebenfalls Bahnhof. Die Männer auf der Bahnhofsbank. Bahnhofsbuffet."
Dürrenmatt erzählte auch gern, dass sich "Der Besuch der alten Dame" der Streckenführung der Schweizerischen Bundesbahnen verdankt, die bewirkt, dass auch Kleinstbahnhöfe Haltepunkte für Fernzüge sind. Der Bahnhof, an dem die alte Dame den "Rasenden Roland" mittels Notbremse zum Halt zwingt, damit das Unglück seinen Lauf nehmen kann, heißt Güllen. Das ist die pure Gemeinheit. "Gülle" ist Schweizerdeutsch für Jauche. Da hatten die Schweizer doch ein kleines Problem.
Auch der Schriftsteller und Publizist Carl Seelig. Wenige Wochen nach der Uraufführung des Stücks am 29. Januar 1956 im Zürcher Schauspielhaus fragte er im "St. Galler Tagblatt" vom 24. März besorgt, ob Dürrenmatt, "dieser farbige und kraftvolle, um witzige Aperçus und ironische Seitenhiebe selten verlegene Kulturkritiker", wirklich nur eine clowneske Pubertätserscheinung sei, "ein Zyniker, der nichts ernst nimmt?"
Dürrenmatt ein Zyniker – das wird den Sohn eines Bernbieter Landpfarrers verfolgen, solange bittere Wahrheit gleich Zynismus ist. Dabei ist "Der Besuch der alten Dame" ein starkes Stück emotionaler Doppelbödigkeiten, es heißt ja schon tragische Komödie. Kläre Wäscher, einst von ihrem Geliebten Alfred Ill geschwängert und dann verleugnet, kommt als Claire Zachanassian und reichste Frau der Welt 45 Jahre später in ihr verarmtes und verlottertes Heimatdorf. Grausamkeit und bösartiger Charme sind ihr eigen, sie kommt abzurechnen: "Die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell." Sie sucht und begegnet dem Geliebten von damals, einem abgewirtschafteten Krämer, der glaubt, sein Leben hätte längst von selber alle Schuld getilgt.
"Ich liebte dich einst. Du warst der Held meiner Jugend, der schwarze Panther meiner ersten Nächte, der mich verriet. Doch den Traum vom Leben, vom Vertrauen, diesen einst wirklichen Traum, habe ich nicht vergessen. Darum wollte ich deinen Tod. Nicht aus Rache, die nichts ändert, sondern dich wiederzufinden, indem ich dich töte. Das Bild herzustellen, in dem ich dich vernichte. Du bist geworden, was du warst, der Verrat ist ausgelöscht, nur ein toter Geliebter haust in meiner Erinnerung, ein mildes Gespenst in einem zerstörten Gehäuse."
Eine Milliarde bietet sie dem Städtchen Güllen - für Ills Leben. Diese Aussicht auf das Ende aller Sorgen ist zu verführerisch. Die Güllener töten ihn, er wehrt sich nicht. Er erkennt seine Schuld und nimmt seinen Tod an. Aber Achtung, warnt Dürrenmatt, die Güllener sind nicht böse, sie sind Menschen wie wir alle. Wenn sie Moral predigen, um Unmoral zu rechtfertigen, tun sie nichts, was wir nicht auch täten. Und seinen Schauspielern redete er ins Gewissen:
"Claire Zachanassian stellt weder die Gerechtigkeit dar noch den Marshallplan oder gar die Apokalypse, sie sei nur das, was sie ist: die reichste Frau der Welt, durch ihr Vermögen in der Lage, wie eine Heldin der griechischen Tragödie zu handeln, absolut, grausam, wie Medea etwa. Sie kann es sich leisten. Die Dame hat Humor, das ist nicht zu übersehen, da sie Distanz zu den Menschen besitzt als zu einer käuflichen Ware. Distanz auch zu sich selber, eine seltsame Grazie ferner, einen bösartigen Charme, eine dichterische Erscheinung."
So entschieden Dürrenmatts Kommentar ist, so unüberhörbar sind, wie hier zwischen Therese Giehse und Gustav Knuth in der Zürcher Uraufführung, die Zwischentöne: Traurigkeit, Verlorenheit, Einsamkeit, zerstörte Hoffnung, unerfüllte Wünsche, Sehnsucht nach Zuneigung:
Ill: "Ich danke dir für die Kränze, die Chrysanthemen und Rosen. Machen sich schön auf dem Sarg im Goldenen Apostel. Vornehm. Nun ist es soweit. Wir sitzen zum letzten Mal in unserem bösen Wald – voll von Kuckuck und Windesrauschen. Heute Abend versammelt sich die Gemeinde, man wird mich zum Tode verurteilen und einer wird mich töten. Ich weiß nicht, wer es sein wird und wo es geschehen wird, ich weiß nur, dass ich ein sinnloses Leben beende."
Claire: " Ich werde dich in deinem Sarg nach Capri bringen. Ließ ein Mausoleum errichten im Park meines Palazzo."
Ill:" Kenne ich nur von Abbildungen."
Claire:" Mit Blick aufs Mittelmeer. Dort wirst du bleiben, bei mir."
Da friert es. So wie es am Ende des "Besuchs der alten Dame" friert, wenn Dürrenmatts Chöre als Parodien auf den Chor der thebanischen Alten in der Antigone des Sophokles auftreten:
"Es bewahre uns aber
Ein Gott
In stampfender, rollender Zeit
Den Wohlstand."
"Bahnhof. Schnellzug hält durch Ziehen der Notbremse. Schlussbild ebenfalls Bahnhof. Die Männer auf der Bahnhofsbank. Bahnhofsbuffet."
Dürrenmatt erzählte auch gern, dass sich "Der Besuch der alten Dame" der Streckenführung der Schweizerischen Bundesbahnen verdankt, die bewirkt, dass auch Kleinstbahnhöfe Haltepunkte für Fernzüge sind. Der Bahnhof, an dem die alte Dame den "Rasenden Roland" mittels Notbremse zum Halt zwingt, damit das Unglück seinen Lauf nehmen kann, heißt Güllen. Das ist die pure Gemeinheit. "Gülle" ist Schweizerdeutsch für Jauche. Da hatten die Schweizer doch ein kleines Problem.
Auch der Schriftsteller und Publizist Carl Seelig. Wenige Wochen nach der Uraufführung des Stücks am 29. Januar 1956 im Zürcher Schauspielhaus fragte er im "St. Galler Tagblatt" vom 24. März besorgt, ob Dürrenmatt, "dieser farbige und kraftvolle, um witzige Aperçus und ironische Seitenhiebe selten verlegene Kulturkritiker", wirklich nur eine clowneske Pubertätserscheinung sei, "ein Zyniker, der nichts ernst nimmt?"
Dürrenmatt ein Zyniker – das wird den Sohn eines Bernbieter Landpfarrers verfolgen, solange bittere Wahrheit gleich Zynismus ist. Dabei ist "Der Besuch der alten Dame" ein starkes Stück emotionaler Doppelbödigkeiten, es heißt ja schon tragische Komödie. Kläre Wäscher, einst von ihrem Geliebten Alfred Ill geschwängert und dann verleugnet, kommt als Claire Zachanassian und reichste Frau der Welt 45 Jahre später in ihr verarmtes und verlottertes Heimatdorf. Grausamkeit und bösartiger Charme sind ihr eigen, sie kommt abzurechnen: "Die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell." Sie sucht und begegnet dem Geliebten von damals, einem abgewirtschafteten Krämer, der glaubt, sein Leben hätte längst von selber alle Schuld getilgt.
"Ich liebte dich einst. Du warst der Held meiner Jugend, der schwarze Panther meiner ersten Nächte, der mich verriet. Doch den Traum vom Leben, vom Vertrauen, diesen einst wirklichen Traum, habe ich nicht vergessen. Darum wollte ich deinen Tod. Nicht aus Rache, die nichts ändert, sondern dich wiederzufinden, indem ich dich töte. Das Bild herzustellen, in dem ich dich vernichte. Du bist geworden, was du warst, der Verrat ist ausgelöscht, nur ein toter Geliebter haust in meiner Erinnerung, ein mildes Gespenst in einem zerstörten Gehäuse."
Eine Milliarde bietet sie dem Städtchen Güllen - für Ills Leben. Diese Aussicht auf das Ende aller Sorgen ist zu verführerisch. Die Güllener töten ihn, er wehrt sich nicht. Er erkennt seine Schuld und nimmt seinen Tod an. Aber Achtung, warnt Dürrenmatt, die Güllener sind nicht böse, sie sind Menschen wie wir alle. Wenn sie Moral predigen, um Unmoral zu rechtfertigen, tun sie nichts, was wir nicht auch täten. Und seinen Schauspielern redete er ins Gewissen:
"Claire Zachanassian stellt weder die Gerechtigkeit dar noch den Marshallplan oder gar die Apokalypse, sie sei nur das, was sie ist: die reichste Frau der Welt, durch ihr Vermögen in der Lage, wie eine Heldin der griechischen Tragödie zu handeln, absolut, grausam, wie Medea etwa. Sie kann es sich leisten. Die Dame hat Humor, das ist nicht zu übersehen, da sie Distanz zu den Menschen besitzt als zu einer käuflichen Ware. Distanz auch zu sich selber, eine seltsame Grazie ferner, einen bösartigen Charme, eine dichterische Erscheinung."
So entschieden Dürrenmatts Kommentar ist, so unüberhörbar sind, wie hier zwischen Therese Giehse und Gustav Knuth in der Zürcher Uraufführung, die Zwischentöne: Traurigkeit, Verlorenheit, Einsamkeit, zerstörte Hoffnung, unerfüllte Wünsche, Sehnsucht nach Zuneigung:
Ill: "Ich danke dir für die Kränze, die Chrysanthemen und Rosen. Machen sich schön auf dem Sarg im Goldenen Apostel. Vornehm. Nun ist es soweit. Wir sitzen zum letzten Mal in unserem bösen Wald – voll von Kuckuck und Windesrauschen. Heute Abend versammelt sich die Gemeinde, man wird mich zum Tode verurteilen und einer wird mich töten. Ich weiß nicht, wer es sein wird und wo es geschehen wird, ich weiß nur, dass ich ein sinnloses Leben beende."
Claire: " Ich werde dich in deinem Sarg nach Capri bringen. Ließ ein Mausoleum errichten im Park meines Palazzo."
Ill:" Kenne ich nur von Abbildungen."
Claire:" Mit Blick aufs Mittelmeer. Dort wirst du bleiben, bei mir."
Da friert es. So wie es am Ende des "Besuchs der alten Dame" friert, wenn Dürrenmatts Chöre als Parodien auf den Chor der thebanischen Alten in der Antigone des Sophokles auftreten:
"Es bewahre uns aber
Ein Gott
In stampfender, rollender Zeit
Den Wohlstand."