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Duineser Elegien

Der Dichter Rainer Maria Rilke verbrachte an der norditalienischen Adria im Januar 1912 einen einsamen Urlaub in dem kleinen Ort Duino. Zwischen Langeweile, Depressionen und Arbeitseinfällen schrieb er den Gedichtszyklus "Duineser Elegien". Heute kann Rilkes Wanderweg begangen werden.

Von Franz Nussbaum |
    Es war vielleicht ein Tag wie heute, damals Mitte Januar 1912. Und unser Blick geht über die weite Bucht von Triest. Triest liegt drüben, ungefähr 20 Kilometer entfernt im fahlen Licht der milchigen Wintersonne. Direkt vor uns fällt der blanke Felsen 50 Meter fast senkrecht ab. Und unten schlägt die Adria mit leicht gekräuselten Wellen an. Etwa zwei Kilometer entfernt von uns wird an der Adria eine gigantische Urlaubsanlage hoch gewuchtet. Eine Anlage für Anleger. Mit feudalen Eigentumswohnungen, Hotel und Sportanlagen. Mit Marina und Wellness-Schnickschnack. Und Spötter sagen, hier kommen am Wochenende gerne deutsche Zahnärzte vorbei und verbuddeln hier ihr Zahngold. Zurück zum Rilke Wanderweg. Rilke notiert an diesem 13. Januar 1912 zum Wetter und zu seiner Befindlichkeit:

    "Die Sonne schien, das Meer war von einem leuchtenden silbern schimmernden Blau. (…) Nun ist wieder Einsamkeit, hoffentlich recht lange. Ich habe nichts anderes nötig, für mich ist's der Urstoff."

    Wir beginnen unseren Sonntagsspaziergang in dem Örtchen Sistiana. Die Touristikmacher wissen, mit dem Rilke kann man etwas anfangen oder einfangen. Und auch ich will nicht verhehlen, auch mich hat der bloße Namen Rilke und die Frage, was hat der hier gemacht, das hat mich angelockt. Rilke, ein touristischer Fliegenfänger, der sommers ganze Busladungen hierher zu einer Wanderung auf dessen Spuren locken soll. Und wer hier auf Rilkes Spuren wandert, ist nicht inklusiv literarisch bewandert. Selbst gute Reiseführer belassen es oft mit nur wenigen Zeilen zu Rilkes Aufenthalt.

    Dann stöckeln die Leute mit ihren Nordic-Wanderstecken den Rilke-Weg ab. Er führt von Sistiana nach Duino, oder umgekehrt. Die Strecke zwischen den beiden Orten ist hin und zurück etwa fünf Kilometer- oder gute anderthalb Stunden lang. Immer oberhalb dieser dramatischen Adria-Steilküste.

    Das Leben in den Adria-Orten scheint außerhalb der Touristiksaison stehen geblieben. Wie bei einer Standuhr, bei der man vergessen hat, die Kette mit den Gewichten hochzuziehen. Wem die Stunde schlägt? Wem schlägt die Stunde in Duino? Wir lesen:

    "Die Stunde schlägt hier nicht nur Rainer Marie Rilke, auch dem großen Dichter Dante Alighieri im 13. Jahrhundert. Sie schlug auch dem Pianisten Franz Liszt. Ebenso Victor Hugo oder Mark Twain. Auch der Film bekannten österreichischen Kaiserin Sissi, die immerfort reiste, auf der Flucht vor sich selber oder beim Ausbruch aus ihrem goldenen Käfig in Wien. Oder Richard Strauß. Nicht der Walzer-Strauß. Richard ist der Rosenkavalier- und Zarathustra-Strauß aus München. Alle und noch viele mehr, auch ein Prinz Charles aus London. Sie alle waren in Duino zu Gast."

    Was mag diese Besucher neben dem Namen "Thurn und Taxis" hierher angezogen haben? Das Klima? Oder das grob-geröllige Karstgebirge mit seinen bizarren Felsblöcken? Dieses Karst-Gestein ist ein Ausläufer der Alpen und trifft hier jäh auf das Mittelmeer. Fast senkrecht bricht die Kante unseres Panoramawegs ab. Es gibt da drüben einen interessanten Blickwinkel. Da sieht es fast aus wie auf der Insel Rügen, an der Ostsee. Da, wo vor rund 200 Jahren der Maler Caspar David Friedrich mit viel romantischer Natur- und Gefühlsstimmung seine berühmten Kreidefelsen gezeichnet hat. Und solche Felsen stehen auch hier ufernah in der Adria.

    Drehen wir unsere Standuhren winterlicher Langeweile zurück. Rainer Maria Rilke, 36 Jahre alt. 6,5 Monate lang, von Oktober 1911 bis Mai 1912 überwintert Rilke hier auf Einladung der Gräfin Marie von Thurn und Taxis im Burgschloss von Duino. Ein früheres Gedicht von Rilke zum Ankuscheln:

    "Wir standen Hand in Hand und schwiegen,
    Und Deine Augen träumen hell
    Schon kam die Nacht auf hellen Stiegen
    ins abendeinsame Castell
    Und tausend leise Türen gingen
    und seltsam rauschte ein Gewand
    Und hoch, wie blaue Blüten hingen
    die Sterne überm Mauerrand."


    Ist das nicht zauberhaft? Händchen halten, Türen, die sich da nächtlings öffnen, und ein Kastell? Rilke bedichtet aber darin nicht die Türme des Kastells von Duino. Diese Ode schreibt der 22-jährige Rilke, damals sehr flott aussehend. Er notiert diese Verse am Gardasee. Hier in Duino ist er 36 und schreibt unter anderem seine Duineser Elegien. Eine kleine Hörprobe, gesprochen von dem Rilke-Kenner Dietrich Hoppe:

    "Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnung?
    Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz;
    Ich verginge von seinem stärkeren Dasein
    Denn das Schöne ist nichts
    als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
    und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
    uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich."

    Rilkes Duineser Elegien. Welch düsterliche, schwer verdauliche Kost. Elegie nannte man im alten Griechenland einen Trauergesang mit Flötenbegleitung. Heute ist Elegie in Griechenland ein Trauergesang mit Euro-Schirm-Begleitung. Und von diesem Kaliber mit Schwermut und Demut schreibt Rilke. Jedenfalls beginnt er, damals in Duino zehn Elegien. Und diese schwermütigen Gedanken sollen ihm hier bei Wanderungen auf diesem Weg gekommen sein, in dieser Landschaft. Fünf-Sterne-Blick auf die Adria, Steilküste, Wolken, Einsamkeit. Er lebt im Januar nämlich fast allein in dem fürstlichen Refugium. Nur von einer Köchin, einer Aufwartung und einem Bediensteten, der einige Zimmer beheizt, begleitet. Sind die Duineser Elegien eine Art "Wasserstandsmeldung" des Dichters? Frage an Dietrich Hoppe:

    "Ich greif mal Ihre Beurteilung düster auf. Also düster finde ich sie eigentlich nicht. Geheimnisvoll, ja, sie entziehen sich sicher dem unmittelbaren Verständnis. Durchzogen von tiefer Melancholie. Es ist der Mensch, der auf der Suche nach sich selbst, und nach seiner Aufgabe im Universum sich nicht findet und sich unterlegen fühlt. Diese Elegien, die in Duino entstanden sind, habe ja vor allem die Ersten einen geheimnisvollen Ton. Sie sind 1912 ja nicht erarbeitet worden, da hat er ja nicht am Schreibtisch gesessen. Sondern die sind ihm im Toben der Bora visionär eingegeben worden. Das ist ein aus dem Norden kommender berüchtigter Wind. Das sind ja Offenbarungen. Das erinnert an Mohamed, der den Koran empfangen hat. Oder an Johannes-Offenbarungen. So sind religiöse Mythen entstanden."

    Gudrun Hoppe, auch Sie kennen Rilke, wie ging es ihm denn 1912 gemütsmäßig in Duino?

    "Also von seiner Gemütslage her ging es ihm gut. Und er fühlte sich auf diesem Schloss Duino unter der mütterlichen Betreuung der Grande Dame Marie von Thurn und Taxis sehr wohl. Sie verehrte ihn, aber sie leitete ihn auch. Er war offenbar ein bisschen lebensuntüchtig. Und sie nahm es auch auf sich ihm des Öfteren mal die Meinung richtig zu sagen."
    Wir wandern weiter. An unserem Rilke-Weg sind heute immer wieder im Fels vorspringende Kanzeln eingerichtet, mit Holzbänken mit herrlichen Ausblicken auf das Wasser. Und damit kein Wanderer abstürzt, sind da vorne kräftige Holzgatter angebracht. Der Blick geht, wie gesagt auch steil abwärts in die Tiefe, wo sich unten winzige kleine Kiesstrände finden lassen. Die könnte man aber nur vom Wasser aus ansteuern. Oder aber, und das ist mit Verbotsschildern und Bildersymbolen streng untersagt, oder man lässt sich am Seil 40 bis 50 Meter runter und wäre auch in der Lage, später am Seil wieder hoch zu klimmen? Und hing nicht auch Rilke, bebildert gesagt, wie ein Suchender an einem Seil? Wusste er nicht, bin ich lyrisch entrückt oder habe ich noch literarische Bodenhaftung? Und irgendwo habe ich aufgeschnappt, Rilke sei auch ein ausgemachter Frauenversteher? Oder anders gesagt, sind es in der Hauptsache Frauen, die zu Rilkes Literatur greifen?

    "Rilke war sicherlich kein männlicher Chauvinist. Und der Lyriker Holthusen bescheinigt ihm eine empfindliche, fast feminine Natur. Obwohl Rilke andererseits auch ein Fable für das Ritterliche und das edle Männlich-Militärische hatte. Dabei ist er in der Kadettenanstalt, wo ihn seine Eltern hingezogen hatten, gescheitert und im Ersten Weltkrieg wurde er auch nicht als Soldat gebraucht."

    "Man kann Rilke genießen, ohne ihn zu verstehen. Seine Sprache hat soviel Zauber, Charme und Melodie. Und, ja, wer lässt sich lieber verzaubern als wir Frauen?
    Die Gunst der Frauen flog ihm zu aufgrund dieser melancholisch melodischen Kunst, die er darbot. Und die mäzenatische Hilfe, die ihm die Frauen zugleich anboten, die nahm er gerne an und hatte dabei auch keinerlei Hemmung bei."

    Und das beantwortet auch die Frage nach dem literarischen Reiseweltmeister Rainer Maria Rilke. Wer finanziert ihm das? Nur ein Auszug seiner Reiseziele aus dem Jahre 1911, bevor er nach Duino eingeladen wird.

    "Er reist 1911 nach Nordafrika. Algier, Tunis, Kairouan. Dann von Neapel nach Ägypten, ausgiebige Nilfahrt, weiter über Venedig nach Paris. Es schließt sich eine Reise nach Böhmen an, dann wieder Paris. Rilke wartet, pointiert gesagt, quasi auf Einladungen seiner wohlhabenden Gönner, deren leerstehende Zweitwohnsitze oder Schlösser angeboten zu bekommen."

    Und in Paris bekommt er von der Fürstin Marie von Thurn und Taxis, wenn man schon Taxis heißt, bekommt er ein standesgemäßes Töff-Töff mit Chauffeur zur Weiterfahrt. Damit kutschiert Rilke nach Südfrankreich - ein paar Tage Aufenthalt zwischendurch. Dann weiter über Venedig nach Duino.

    Unser Rilke-Weg wird auch von Felsbrocken begleitet. Und plötzlich, hinter einer Biegung sehen, nein, erblicken wir nun erstmals das Schloss von Duino. Ockergelb mit roten Dächern und einigen Türmchen. Das dreistöckige Schloss, eine Mischung aus mittelalterlicher Burg und dreiflügeliger Anlage, thront massiv auf einem vorspringenden Felssporn in der Adria.

    Und dabei treffen wir nun auf unserem Sonntagsspaziergang einen Sonntagsmaler. Er steht vor einer kleinen Staffelei und hat ein Farbkästlein dabei, ein Pinselchen zur Hand und tupft an einer fast fertigen postkartengroßen Ansicht des Kastells von Duino. Was regt Sie an?

    "Zum einen gehe ich gerne diesen Rilkeweg. Ich besuche gerne das Schloss. Mir ist das Malen wichtiger als das Ergebnis des Malens. Denn beim Malen sehe ich mehr und deutlicher, erkenne die Strukturierung. Natürlich sehe ich auch den Hintergrund dieses Schlosses, das aus verschiedenen Zeiten stammt und in dem Rilke verweilt hat. Und ich kenne natürlich auch die Dichtung, die dort entstanden ist. Ich bin kein Fachmann. Nun ich kapier keineswegs alles, was dort geschrieben ist. Es sind nicht nur die Elegien entstanden, sondern auch die Sonette an Orpheus. Und die sind viel verständlicher."

    Wie viel Zeit haben Sie in diese postkartengroße Ansicht etwa investiert?

    "Zehn Minuten, viertel Stunde? Aquarell muss immer schnell gemalt werden."

    Zehn Minuten werden wir auf dem Rilkeweg noch bis zum Schloss von Duino brauchen. Rilke notierte ja an diesem 13. Januar 1912. "Nun ist wieder Einsamkeit". Das heißt, ab Mitte Dezember ist die Fürstin Taxis abgereist nach Wien, in die Welt der Opernbälle und Theaterpremieren. Und Rilke ist wieder für längere Zeit sorgenfrei, von wirtschaftlichem Druck befreit, durch das großzügige Sponsoring der Fürstin.

    Noch eine kleine Notiz. 2,5 Jahre nach dem Trauergesang der Duineser Elegien legt hier von Duino aus 1914 der österreichische Erzherzog und designierte Thronfolger Franz Ferdinand nach Sarajewo ab. Am Adria-Ufer und hier auf diesem Wanderweg werden Fähnchen schwenkende Ober- und Untertanen gestanden haben. Der Erzherzog reist zu einem Manöverbesuch auf einem Schiff der K.u.k.-Marine. Und in Sarajewo ist ein Stadtbesuch geplant. Dabei verübt man das Attentat, das dann Europa in den Ersten Weltkrieg ziehen lässt.