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Dunkle Lebenslinien

Aus dem Schatten – wie tritt man aus ihm heraus? Klein und schwach oder lebensmutig und sonnenbeschienen? Licht und Schatten, sie sind Geschwister des Lebens. Diese Lange Nacht beleuchtet Lebensgeschichten: Da ist eine junge Frau, die in ihrer Sehnsucht nach Liebe auf die falschen Menschen trifft. Ihre traumatischen Verletzungen versucht sie, mit noch tieferen Schnitten zu heilen.

Von Doris Arp und Judith Grümmer | 12.09.2009
    Da ist ein junger Familienvater, der nicht lesen kann. Seine Söhne zweifeln dennoch nicht an ihm. Und er selbst fühlt sich jetzt richtig stark, nachdem er zusammen mit seinem Jüngsten Lesen und Schreiben lernt. Alle nennen ihn Vater, nur die eigene Tochter darf das nicht: Zwei Töchter von katholischen Priestern erzählen, wie das Familiengeheimnis ihr Leben überschattet.

    Eine Mutter mit Lernbehinderung erzählt von ihrer Liebe zu ihrem Sohn und wie sie in Begleiteter Elternschaft durch das Jugendamt einen Weg auf die Sonnenseite des Lebens finden.

    Und eine junge Frau, deren Lebensstart denkbar schlecht war, zeichnet ihre vielen Irrwege nach, an deren Ende sie ein neues Zuhause gefunden hat.

    Warum erstarken die einen, woran andere zerbrechen? Was geschieht mit Kindern, die in ihrer Familie nicht willkommen sind, die am Rand der Gesellschaft aufwachsen und deren Lebenswege über Stolpersteine und durch dunkle Tunnel führen. Welche Lebensstrategien haben sie?

    Die Lange Nacht zeigt, wie Menschen trotz Verletzungen, Vorurteilen, Ausgrenzungen und Lieblosigkeiten aus dem Schatten gesellschaftlicher Vorurteile hervortreten und aus der verordneten Normalität ausbrechen. So wird manches tatsächlich erst aus dem dunklen Abseits betrachtet so richtig hell und deutlich – und zu einer Hommage an das Leben in allen Schattierungen.

    Gäste:

    - Dr. Carola Riedner, Fachärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapeutin, Psychoonkologin und Palliativmedizinerin. Verantwortliche onkologische Ärztin in der Münchener onkologischen Praxis (MOP). Carola Riedner ist im Vorstand am Tumorzentrum München.

    - Jimmy Hartwig, Ex-Fußballprofi und Schauspieler
    kontakt@jimmy-hartwig.com
    www.jimmy-hartwig.com

    Der Sohn eines afroamerikanischen GIs und gelernte Maschinenbauer begann seine Karriere 1972 auf dem Bieberer Berg bei Kickers Offenbach. Weiterlesen: http://de.wikipedia.org/wiki/Jimmy_Hartwig

    Jimmy Hartwig spielt Woyzek im Cenraltheater Leipzig

    - Dr. Hans-Jochen Jaschke, Hamburger Weihbischof


    Prof. Eckhard Frick und Dr. Carola Riedner
    Spiritualität und Medizin
    Gemeinsame Sorge für den kranken Menschen
    Kohlhammer Verlag 2009



    Beiträge, Informationen und Links:

    Evas Chance

    Wenn in der eigenen Familie nichts mehr geht, kommen Kinder oft ins Heim – zu ihrem eigenen Schutz. (Zahlen) Doch manche haben so viel schlimme Dinge erlebt, dass sie sich nur schwer überhaupt noch irgendwo im Leben zurecht finden. Viele verweigern sich Lehrern und Erziehern und werden von Heim zu Heim verschoben. Im Bergischen Land gibt es ein Ehepaar, dass sich ganz bewusst für ein Zusammenleben mit solchen Kindern und Jugendlichen entschieden hat. In einer Art Wohngemeinschaft mit Pferden und Hunden auf dem Land kümmern sich Elke und Michael als Ersatz-Eltern um maximal fünf sogenannte "schwerst erziehbare" Jugendliche. Finanziert wird das Projekt von der Jugendhilfe. Die heute 24 jährige Eva hat bis vor einigen Jahren auch hier gelebt und ein Zuhause gefunden.

    Evas Chance – eine neue Familie

    O-Ton Eva Also das Kinderheim war für mich echt die Hölle. Na ja und dann hab ich angefangen zu schlagen und andere Leute zu verhauen – aus Frust einfach. Aus Frust einfach, dass ich so ein beschissenes Leben hatte. Und ich bin einfach nie geliebt worden. Ich bin einfach nie geliebt worden und ich wusste es auch. Und irgendwie: Ich wollte, dass die Leute mich mögen und wollte das erzwingen und wollte mich auch in den Mittelpunkt stellen, nur dass sie mich anerkennen. Dann habe ich gedacht, wenn es so nicht geht, machst du es halt so wie die anderen. Dann war ich ständig in irgendwelche Schlägereinen verwickelt. Ich konnte mich einfach nicht anders wehren.

    O-Ton Eva Ich wollte einfach in eine normale Familie kommen mit Mutter, Vater, Kind und alles ist toll. Das wollte ich einfach immer und hier hab ich halt meine Chance gesehen. Ja und dann haben Elke und Micha, beziehungsweise Micha hat mich dann irgendwann auch akzeptiert, sodass ich mich auch sehr an ihn geklammert habe. Also auch die Elke war für mich klar so, die ist einfach da für mich, mit der kann man über alles reden, das ist ne Super-Frau. Elke ist echt ne Super-Frau und Micha war einfach so derjenige, an den ich mich gehalten habe. Ich wollte einfach, dass Elke und Micha meine Eltern werden.

    Sprecher: Elke und Micha

    O-Ton Micha Ich bin ein dunkelhaariger, südländischer Mensch, gelernter Dachdecker, von daher auch ziemlich breit, und das ist eigentlich auch ganz gut für die Jugendlichen, weil sie mich dann ernst nehmen.

    O-Ton Elke : Blond, mittelgroß kein südländischer Typ, eher so, eigentlich auch recht lebendig, aber ich bin bei uns beiden eher so die Besonnenere. Ich bin eher die so sehr positiv, optimistisch an alles ran geht. Micha ist immer derjenige, der eher wieder dämpft und eher wieder reguliert. Ich denke mir, das ist eben auch so der ganz gute Ausgleich.

    O-Ton Micha: Ich komme vom Bau, ganz einfach, ich komme vom Bau und das brauche ich auch zwischendurch, das mache ich auch übrigens heute noch zwischendurch, körperlich arbeiten, weil einfach nur diese Büroarbeit oder nur mit Jugendlichen, das wäre nicht das Richtige für mich.

    O-Ton Elke: Ich bin so diejenige, die eher so, na sage ich mal diese formalen Sachen eben ganz klar auch übernimmt bei uns in der Gruppe, also Verwaltung, Jugendamt diese ganzen Geschichten und ich bin für die Kinder eher so der ruhigere Ansprechpartner. Emotional sind sie mit Sicherheit mehr mit Michael verbunden.

    O-Ton Micha Vielleicht, was auch noch dazu kommt, was mich auch so hart gemacht hat, ist ein Stückchen meine Jugend. Ich bin zum Beispiel auch – oder ich habe sehr viele Tätowierungen und das ist auch ein großes Problem heute mit den Jugendlichen, die meinen, weil ich tätowiert bin, könnten die sich auch alle tätowieren lassen. Das verbiete ich dann so lange wie sie bei uns wohnen, weil mich haben sie als Jugendlichen "Bilderbuch" genannt und ich möchte nicht, dass unsere Jugendlichen das auch erleben.

    Sprecher: Eva macht Musik
    O-Ton Eva Ich war total wütend auf das Leben, ich wollte nicht mehr, ich wollte nicht so sein wie ich bin. Ich bin auch nicht in die Schule gegangen, ich bin ein Jahr nicht in der Schule gewesen im Kinderheim, weil da haben sie mich auch gehasst und das einzigste, was ich damals schon gemacht habe, ich habe Musik gemacht. Das war das einzigste, wofür ich mich jemals interessiert habe . Das war das einzigste, was ich machen oder was ich werden wollte.


    O-Ton Eva Meine Mutter hat mich mit 18 Jahren gekriegt, da wusste mein Vater allerdings noch nicht, dass ich geboren worden bin. Meine Mutter hat in der Zeit, als sie mich gekriegt hat, bei meinen Großeltern gelebt und ist dann mit, ja ich glaub mit fast 20 Jahren dann ausgezogen. Und dann war ich ungefähr drei, dann fing das dann alles an, sie ist halt ja akut an irgendwelche Leute geraten, die halt nicht so toll waren und ist auch sehr schnell drogensüchtig geworden. Als ich dann vier Jahre alt war, ist mein Bruder zur Welt gekommen, also ich hab auch noch einen Bruder und da war meine Mutter in der Zeit auch schon arg drogensüchtig gewesen und ist auch auf den Strich gegangen, also sie war Prostituierte. Das war die schlimmste Zeit.


    O-Ton Eva Ich wurde dann auch von so einem Arsch mal angefasst. Einfach so, der hat sich dann zu uns ins Bett gelegt und hat uns dann ja mehr oder weniger missbraucht oder sonst irgendwas. Das sind halt so Szenen, die sind bei mir immer noch im Kopf drinne, also ich hab auch heue noch starke Probleme, wenn mir irgendwas zu viel wird, dann fange ich das Hyperventilieren an und dann schaltet sich auf einmal mein ganzer Körper aus und ich denk dann an so Sachen wie so was, dass ich halt mit meinem Bruder ins Badezimmer renne und mich darin verstecke oder einsperre.



    O-Ton Michael Ich mache unheimlich viel aus dem Bauch raus, was manchmal auch sehr verletzend ist auch für mich, aber dadurch merke ich auch, dass ich viel weiter komme mit den Jugendlichen wie zum Beispiel – ja ich sag es mit meinen Worten – ein studierter Pädagoge, Erzieher etc. Das Praktische habe ich eigentlich ganz gut drauf, weil das was die Jugendlichen zum Teil denken, habe ich als Jugendlicher auch erlebt und ich bin meistens einen Schritt voraus, sei es die wollen abhauen oder Suizid-Versuche oder Drogen konsumieren etc.

    O-Ton Eva Also direkt als ich hierhin gekommen bin, also nicht direkt, aber ich glaube so ein halbes Jahr später, hat der Micha mich auch richtig an sich rangelassen und dann wusste ich einfach: So ich bin akzeptiert. Ich bin jetzt was, ich habe eine Familie gefunden, die mich einfach so nehmen, wie ich bin und keine Vorurteile gegen mich haben und einfach normal sind, einfach normal in ihrem Verhalten. / Hier war einfach so ganz klar: So Mädel du machst deine Schule, das ist das einzigste, was du machen musst. / Wenn ich das so herauskristallisieren könnte, dann würde ich sagen, Vertrauen ist eigentlich das Geheimnis, dieses Vertrauen, dass ich das eben aufbauen konnte und das die es mir auch gegeben haben, das ist letztendlich das Geheimnis, glaube ich, warum es bei mir letztendlich geklappt hat.

    O-Ton Elke Ich weiß noch, kannst du dich dran erinnern, dass du dem immer am Arm gesaugt hast? Lange Wochen, Monate und den Michael das am Anfang echt reichlich irritiert hat, aber er hat das zugelassen und wir haben schon überlegt, was ist das? Und wir haben dann auch gedacht – du bist nach kurzer Zeit bist du hier wirklich wie ein Kleinkind, du hast doch wie ein Kleinkind verhalten, du hast dir ganz viel zurückgeholt, auch wirklich dieses Saugen, ne und irgendwann war es dann auch gut bei dir. Wir haben es nie eingeschränkt ne. Eva lachend: Ja natürlich das habe ich immer gemacht eigentlich. Ich hab auch mit 16 das erste Mal Kindergeburtstag gefeiert hier zu Hause und dann haben wir auch Topfschlage gemacht, ich wollte einfach meine Kindheit noch mal neu aufleben lassen.

    Sprecher: Evas leibliche Familie?

    O-Ton Eva Also ich muss sagen, ich bin ne schlechte Schwester, aber mir fehlt einfach der Bezug zu meinem Bruder. Das war für mich irgendwie wie mein Kind praktisch und heute, ich weiß, dass er gerne den Kontakt möchte und ich – Wir sind einfach zu verschieden habe ich das Gefühl. Und ja meine Mutter – ich weiß nicht, ein paar Mal hatte ich sie jetzt am Telefon gehabt und ich wollte aber nicht mit ihr sprechen, weil ich bin selber nicht darauf vorbereitet. Ich habe zuviel Fragen und ich schäume über, meine Emotionen kommen einfach hoch, wenn ich mit dieser Frau. Ich weiß nicht, für mich ist die das Kind und ich bin die Mutter. Die Frau ist einfach fertig. (lacht) Das tut mir leid, wenn ich das so sage – Ich hab halt Angst, wenn ich ihr sage, wo ich bin oder wo ich wohne, dass sie dann bei mir ist. Die räumt mir die Hütte aus, es ist einfach so. Und dass sie wieder verlangt, dass ich für sie zuständig bin. Und mir geht es jetzt gut und warum soll ich das, was vorher schlecht war jetzt wiederholen? Ich will das nicht.


    Papa kann nicht lesen


    Trotz Schulpflicht können in Deutschland mindestens 4 Millionen Menschen nicht richtig lesen und schreiben. Vermutlich sind es weitaus mehr (geschätzt werden 6 Mio.), denn Analphabeten leben oft versteckt und versuchen krampfhaft ihre Schwäche zu verbergen. Die meisten von ihnen, so schätzen Fachleute, sind Erwachsene mit einer Legasthenie. Sie haben entweder gar keine oder die falsche Unterstützung während der Schulzeit erhalten und das Problem so ins Erwachsenenalter getragen. Heute weiß man, dass die Lese-Rechtschreib-Schwäche hirnorganische und genetische Ursachen hat. Sie ist unabhängig von der Intelligenz. Kinder mit einer LRS sind in der Schule extrem benachteiligt, immer noch wird viel zu wenig Rücksicht auf ihre besonderen Bedürfnisse genommen. Über die Hälfte besucht eine Schule unter ihrem Begabungsniveau, 43 Prozent wiederholen mindestens ein Schuljahr. Für Erwachsene mit Legasthenie verschärft sich die Situation. Es gibt kaum Berufe in denen Lesen und Schreiben nicht vorausgesetzt wird. Und wer einen Job hat, lebt unter der ständigen Angst als "Analphabet" entlarvt zu werden. Eine enorme psychische Belastung. Mit ein Grund, warum viele straffällig, alkoholabhängig oder drogensüchtig werden. Aber es geht auch anders:

    O-Ton Thomas Ich hab immer nur Fünfen gehabt in der Schule, Vieren und Fünfen. Man wollte mich damals unbedingt auf die Sonderschule schicken. 1´38 Sobald es auf Buchstaben ging, das war für mich Horror. Das war für mich, weiß ich nicht, von Kindheit an schon Horror.

    Frau Ich war damals noch sehr jung als wir uns kennen lernten und es war damals nicht so wichtig. Zwischendurch hab ich schon mal gesagt, Mensch... Dass ihn das immer so runter gezogen hat. Er hat schon auch Minderwertigkeitskomplexe gehabt. Es wäre in seinem Leben sicherlich einiges anders gelaufen, wenn das nicht gewesen wäre, dass er einfach mehr Mut gehabt hätte.

    O-Ton Thomas Ich hab das ganz klar verborgen. Ich hab es versteckt, es wusste keiner.

    O-Ton Sohn Ich find das nicht schlimm, weil ich bin das so gewohnt halt und ich find das ist nix Schlimmes. Ich wünsch mir für meinen Vater, dass er das kann. Wenn wir mal was spielen, dann muss ich ihm nicht immer helfen und dann kann er sich das auch mal selber durchlesen.

    O-Ton Frau Es hat eine Situation gegeben, da hat unser Großer die Klasse übersprungen. Es war Elternabend, alles neue Gesichter, und wir saßen in der Runde und die Lehrerin gab ein Buch rum und da sollte jedes Elternteil ein Stück draus vorlesen. Und in dem Moment – ich konnte das. Aber wenn mein Mann da gewesen wäre, wäre es in dem Moment peinlich gewesen. Das finde ich ganz, ganz schlimm und das hat nachher bei uns zu ganz großen Diskussionen geführt.

    Autorin: Und zu einer großen Entscheidung – Mit fast 40 Jahren beginnt Nikolaus Thomas eine Lese-Schreib-Therapie.

    Einstieg Begrüßung bei der Therapeutin

    O-Ton Reuter-Liehr Als Erstes haben wir versucht zu lesen und zu schreiben. Und dabei ist mir wohl aufgefallen, dass er irgendwie rausbekommt, was da steht. Aber das dauert endlos und bringt ihn völlig zur Verzweiflung.
    Thomas Mama haben wir geschrieben und ich glaub noch zwei oder drei Worte, da war schon klar, was mein Problem ist.

    Einspielung Therapie liest eine Geschichte

    Autorin: Nikolaus Thomas ist 42 Jahre alt. Der große, athletisch gebaute, blonde Mann ist Facharbeiter, Vorgesetzter von 15 Mitarbeitern und Vater von zwei Söhnen. Zusammen mit seinem jüngsten Sohn Can lernt er Lesen und Schreiben.

    O-Ton Thomas Bei dem ersten habe ich den Zug verpasst. Weil der war ja damals bevor ich hier angefangen habe, schon so weit, dass er das konnte. Aber bei dem jetzigen, er weiß dass ich dieses Problem habe, aber für ihn ist selbstverständlich, Papa komm mal her, ließ mir das mal vor. Das ist für ihn selbstverständlich.

    Einspielung Vater und Sohn lesen

    Autorin: Can´s Papa hat eine Legasthenie, also große Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Bilder vom arbeitenden Gehirn zeigten, dass Sprachreize bei Legasthenikern weniger Impulse auslösen. Reime, Silben, Laute erzeugen nur schwache Rückmeldungen in dem Bereich des Gehirns, der Gehörtes verarbeitet. Sprache kommt also bei Legasthenikern nur verwaschen an, obwohl sie gut hören. Deshalb muss Nikolaus Thomas üben Laute zu erkennen und Silben zu ordnen.

    Einspielung Therapie

    Autorin: Auch das Sehen ist bei einer Legasthenie leicht verändert. Bestimmte Nervenzellen reagieren deutlich verlangsamt und das Sehzentrum wird vergleichsweise spät aktiviert. Das gilt aber nur für Wörter und Buchstaben. Bilder und Symbole werden problemlos verarbeitet. Deshalb kann sich Nikolaus Thomas, obwohl er ein sehr gutes Gedächtnis hat, Wörter nicht merken.

    O-Ton Reuter-Liehr Die ersten Stunden, er wollte unbedingt jedes Blatt mitnehmen, weil er sagte, ich vergesse das wieder. Ich hab das immer wieder vergessen. Er hat gedacht, man muss die Wörter trainieren, trainieren, auswendig lernen. Und irgendwann hat man sie vielleicht. Aber die waren ja immer wieder weg. Er hat genau dieses Speicherproblem.

    Autorin: Nikolaus Thomas war ein Wörtersammler, bevor er mit der Therapie der Diplompädagogin Carola Reuter-Liehr begann. Seit rund 37 Jahren bringt sie Legasthenikern Lesen und Schreiben bei, vor allem Kindern, aber manchmal eben auch Erwachsenen. Der Schriftspracherwerb wird ganz von vorn noch einmal vollzogen, gestützt durch Lautgebären und rhythmisches Sprechern der Silben.

    Einspielen Silbenschreiten

    Autorin: Der Familienvater steht mit einem Stück Kreide vor der Tafel im Arbeitszimmer seiner Therapeutin. Silbenbögenlesen – das Wort soll er sich ertanzen.


    Autorin: Jede gesprochene Silbe ist ein Tanzschritt nach rechts. Gleichzeitig schwingt der rechte Arm bei jeder Silbe von der linken Schulter zur rechten. So durchquert der große, athletisch gebaute Mann laut sprechend, mit den Armen schwingend den Raum. Das Tanzschreiten in Schreibrichtung erleichtert anschließend das synchrone Sprech-Schreiben.

    Autorin: Nach zwei Jahren hat Nikolaus Thomas den Stoff der ersten beiden Grundschuljahre erarbeitet. Das klingt mühsam.

    O-Ton Thomas Das ist richtig anstrengend. Für mich ist das genauso, als wenn ich acht Stunden bei der Arbeit bin. Diese eine Stunde, das ist wirklich Arbeit für mich.

    O-Ton Reuter-Liehr Das erfahre ich durchaus bei Erwachsenen, dass sie es eigentlich nicht durchhalten, dass es sehr schwer ist im Erwachsenenalter eine solche Therapie noch unterzubringen und das noch in diesen Alltag mit einzubeziehen.
    Autorin: Aufgeben kommt für Nikolaus Thomas nicht in Frage. Dafür sind ihm seine Erfolge zu wertvoll.

    O-Ton Thomas Ich war so ein Mensch, der immer in der letzten Reihe gesessen hat, die Lehrer haben immer gesagt, setzt dich in die letzte Reihe, du kannst es sowieso nicht. Das sind natürlich Sachen, die schlimm sind. Wenn man ein Leben lang gesagt kriegt man kann es nicht, man kann es nicht. Dann hat man da irgendwann ein Problem mit. 55´10 Ich hab mich mein Leben lang durchgeboxt und hab dann meinen Gesellenbrief gemacht, hab meine Lehre geschafft. 1´38 Ich konnte wirklich alles umsetzen. Aber sobald es auf Buchstaben ging, das war für mich Horror.

    O-Ton Reuter-Liehr Da ist ganz viel versäumt worden auch in der Schulzeit. Er ist auch in die Sonderschule geschickt worden mit durchschnittlicher Intelligenz. Da ist er vorne rein und hinten raus gegangen und der Lehrer hat noch nicht einmal mitbekommen, ob er überhaupt da ist. Also es stecken sehr dramatische Schicksale dahinter.
    O-Ton Thomas Ich habe das bevor ich hier angefangen habe, ganz klar verborgen Ich hab´s versteckt, es wusste keiner. Jetzt red ich da auch mit meinen Nachbarn drüber, weil man ist deswegen ja kein schlechterer Mensch, obwohl man das ja immer denkt. Wenn man nicht lesen kann in dieser Gesellschaft, meint man, man ist ein schlechterer Mensch.

    Autorin: Weder Muskeltraining, noch Entspannungsübungen und Psychotherapien konnten ihm die nagenden Selbstzweifel und die tief im Magen sitzende Angst nehmen. Das konnte nur die Arbeit am eigentlichen Problem.

    O-Ton Thomas Das bringt Selbstsicherheit, dass ich jetzt irgendwo hingehen kann und sagen kann, so schlecht bin ich ja eigentlich gar nicht, ich kann das ja. Nicht so gut wie andere, aber ich kann es. / 6´07 Ich merke das in meiner Familie auch, meine Frau, die wird das auch bestätigen. Die würde jetzt auch mit mir in Urlaub fahren, was sie früher nie gemacht hätte, weil sie alles für mich hätte machen müssen. Jetzt ist es so, dass sie merkt, sie kann mich mit den Kindern irgendwo hinschicken, dass ich selber auch zurecht komme.

    Frau Er hat letztens den Kaufvertrag für mein Auto fertig gemacht. Also das war ganz toll als ich nach Hause kam. Also das ging früher überhaupt nicht. Das sah auch alles ganz schön aus, also toll. 39´11 Für ihn selber ist es ganz wichtig, dass er zufriedener ist und ausgeglichener. Er traut sich jetzt was in der Firma und kann da auch mal in einer anderen Position was tun. Und das finde ich auch für ihn als Menschen ganz wichtig.
    Thomas Selbstbewusstsein ist viel höher geworden, dass ich da ganz anders drüber sprechen kann und das ist glaube ich das Wichtigste und ich hab nicht mehr so extrem Probleme mit meinem Magen. Was auch zeigt, dass es eine Situation war, die mich jahrelang richtig doll belastet hat.

    O-Ton Sohn Ich wünsche mir für meinen Vater, dass er da auch mit sich selbst zufrieden ist. Und dass ihn das später auch nicht mehr belastet, dass das früher mal so war. Auch wenn mein Vater das hat, trotzdem lieb ich ihn.

    O-Ton Thomas: Das wäre mein größter Traum, dass ich irgendwann mit meinem Sohn vor dem Rechner sitze und ihn nicht fragen muss, was steht da./ Dass ich mich hinsetzen könnte, was ich nicht weiß zu lesen und dann sagen, ich kann das jetzt auch oder ich weiß das jetzt auch. Das wäre der größte Traum für mich.



    Die Last des Schweigens - Priesterkinder

    Regeln helfen Menschen, in der Gemeinschaft besser zusammen zu leben. Manche Regeln sind Gesetz geworden und damit unter Strafe zu befolgen. Doch nicht jede Regel macht ewig Sinn – denn das Leben der Menschen verändert sich. Ein Gesetz der katholischen Kirche, der Zölibat, ist so eine Regel, die viele Menschen – auch Katholiken – für überlebt halten. Immerhin handelt es sich um ein im Jahr 1139 durch das Zweite Laterankonzil verbindlich erklärtes Verbot der Priesterehe. Die Begründung: Da die Priester "Tempel Gottes, Gefäße des Herrn und Heiligtum des Heiligen Geistes sein müssen, ist es unwürdig, dass sie dem Ehebett und der Unreinheit dienen." Der Zölibat ist also weder urchristlich, noch steht davon irgendetwas in der Bibel. Und es ist ein Gesetz, dass von Anfang durchbrochen wurde. Es gab Bischöfe und sogar Päpste mit Kind und Kegel und es gibt laut Schätzungen hierzulande mehrere tausend Priesterkinder. Die meisten leben als Illegale, verheimlicht, versteckt und mit dem Tabu belegt, niemandem jemals etwas über ihren Vater, den Herrn Pfarrer, zu erzählen. Wie fühlt sich das an, wenn alle Vater sagen, nur das eigene Kind muss den Vater Onkeln nennen? Zwei erwachsene Priesterkinder erzählen:

    O-Ton Veronika Dass mein Vater Priester ist, das weiß ich, so lange ich denken kann. Das war auch immer für mich etwas Normales. Erst als ich zur Schule gekommen bin ist mir das klar gemacht worden, dass das nicht normal ist und dass man da eigentlich nicht drüber reden soll, dass das eigentlich ein Geheimnis sein soll.

    O-Ton Claudia Man muss einfach still und leise sein, nicht auffallen, dann darf man bleiben. Ne, wenn man als Priesterkind nicht auffällt, nicht drüber redet, dann kann man leben. So, diese Daseinsberechtigung, hab ich die überhaupt oder nicht?
    Autorin: Veronika und Claudia sind Töchter von katholischen Priestern.
    Veronika ist 31 Jahre alt und lebt als Waldführerin in Bayern.

    O-Ton Veronica Also Priester leben ja so ein bisschen in einer heilen Welt. Der Schoß der Mutter Kirche, die Kirche regelt alles und der Pfarrer braucht sich im Privatleben eigentlich um fast nichts zu kümmern. Ich glaub, dass ihm da die Realität so richtig eins drüber gegeben hat und er erst mal gar nicht wusste, was geht denn jetzt, jetzt hab ich net nur ne nette Freundin sondern jetzt kommt da auch Nachwuchs. Ja und er hat für sich die Entscheidung getroffen, er will Pfarrer bleiben. Er will nicht zur Familie, er will keinen Neuanfang wagen. Er möchte Pfarrer bleiben. Er möchte sich nicht zu uns bekennen, das war eindeutig.

    Autorin: Und die Mutter? Sie ist Witwe und schwanger vom jungen Herrn Pfarrer. Das alles in Bayern auf dem Lande mitten in den 70er-Jahren.

    O-Ton Veronika Sie hätte die Möglichkeit gehabt abzutreiben. Sie war Spätgebärende, Erstgebärende, dann die ganzen Umstände dazu. Das waren die 70er-Jahre, da war der ganze Umbruch, mehr Freiheiten, also sie hat tatsächlich den Schein schon in der Hand gehabt abtreiben zu dürfen. Aber sie hat sich für das Kind entschieden. Sie hat sich für mich entschieden.

    Autorin: Die Entscheidung für das Kind hat ihr niemand leicht gemacht.

    O-Ton Veronika Sie ist ziemlich alleine da gestanden, weil alle gemeint haben, jetzt hast du dich mit dem eingelassen, jetzt musst du die Suppe auch ausbrocken, die du die da eingelöffelt hast. Sie hatte in der Zeit nicht viel Rückhalt aus Familie und Freundeskreis./ Meine Mama hat von allen Seiten die Schläge eingesteckt. Mein Papa ist eigentlich mit einem blauen Auge davon gekommen. Meistens hieß es vom Umfeld: Ja, die Mama ist eigentlich an allem schuld. Also der Herr Pfarrer der kann eigentlich gar nichts dafür, die Mama ist an allem schuld.

    Autorin: Der Herr Pfarrer bekommt am Ende beides. Seine kleine Familie, die er heimlich besucht und zwei Autostunden entfernt ist er der Vater seiner Gemeinde. Nur die eigene Tochter darf ihn öffentlich nicht Vater nennen. Obwohl es alle wissen – die Kirchenoberen, das Dorf, die Mitschüler.

    O-Ton Veronica Das ist die Zweischneidigkeit. Einerseits wissen es alle. Und andererseits ist es trotzdem ein Geheimnis und man soll nicht darüber reden. Das ist ne ganz komische Sache, das kann man auch rational gar nicht erklären. Aber es ist tatsächlich Fakt.

    Autorin: Das große Schweigen, die stille Lüge – das kennt auch
    Claudia. Sie ist 38 Jahre alt, Grundschullehrerin und im katholischen Paderborn aufgewachsen.

    O-Ton Claudia Mein Vater ist Ordenspriester gewesen bei den Franziskanern. Ich weiß noch nicht sehr viel darüber, weil meine Mutter mir verboten hat, mit meinem Vater darüber zu reden oder darüber mit irgendjemandem zu reden. Daher weiß ich nur, dass es eine Nacht und Nebel-Aktion wohl war, als ich dann irgendwann geboren war, ist mein Vater dann irgendwie verschwunden. Aus dem Orden verschwunden, aber in der Familie geblieben.

    Autorin: Claudias Vater verabschiedet sich von seiner Berufung als Ordensmann, steht zu seiner Familie und wird Bürokaufmann. Doch seine Lebensuhr hat nicht mehr den richtigen Takt gefunden, meint seine Tochter. Die Kirche, Religion, Glauben war nie mehr ein Thema in der Familie. Im Gegenteil – ein absolutes Tabu.

    O-Ton Claudia Das sind die ganzen Ängste meiner Eltern. Mein Vater dieses Schweigen, nicht reden über irgendetwas. Das ist dann auch etwas, was mich geprägt hat. Man darf nichts verraten, man darf nicht fragen, sondern man ist still und schluckt die Sache so, wie sie ist. Ich glaube das habe ich unbewusst von Anfang an irgendwie eingetrichtert bekommen. Sodass ich als Kind mit meinen Eltern auch nie über irgendwas geredet hab, was mich bewegt hat oder irgendwelche Ängste. Man redet nicht, das ist geheim, man behält es für sich.

    Autorin: Es sind vergiftete Geheimnisse. Und sie prägen oft das Ganze Leben der Kinder von Priestern, egal ob die Väter der Kirche oder der Familie den Rücken kehren. Streng katholisch gesprochen sind sie die Fleisch gewordene Sünde ihrer Eltern. Geheim gehalten wird der Bruch des religiösen Gelübdes – geheim gehalten wird die Existenz des Kindes.

    O-Ton Claudia Nicht gewollt zu sein. Ja, das ist es. Mehr kann man dazu eigentlich nicht sagen. (lacht) Dieses nicht gewollt zu sein, nicht geliebt zu sein, sondern einfach nur ausgehalten werden. Und dann auch immer die Frage, wie lange werde ich dann ausgehalten.

    Autorin: Die Angst verlassen zu werden, kein Vertrauen in Beziehungen – das erzählen fast alle Priesterkinder. Wenn sie überhaupt erzählen. Für Veronika war das Durchbrechen des familiären Schweigegelübdes ein lebensnotwendiges Ja zu sich selbst. Dabei erzählt sie durchaus von einer glücklichen Kindheit, allein mit der Mutter und dem Besuchs-Vater. Als Kind habe sie das alles nie in Frage gestellt.

    O-Ton Veronika Das kommt dann in der Pubertät. Da hatte ich auch eine Phase, wo ich eine recht seltene Krankheit gehabt habe, einen kreisrunden Haarausfall. Und da rätseln ja die Ärzte bis heute, woran das liegen mag. Man ist sich heute aber sicher, dass es einen großen Anteil an psychischen Ursachen haben kann. Und da ist mir mit 13/14 durchaus schon bewusst gewesen, dass das der Auslöser sein kann, dass ich so viel in mich reinfress und immer wieder lügen muss oder zumindest dem Thema ausweichen muss, wo es doch eigentlich ganz selbstverständlich ist. Also über seine Eltern sollte man ja eigentlich ganz selbstverständlich sprechen können. Das war eigentlich auch der Zeitpunkt, wo ich gesagt hab, okay, wenn es jetzt daran liegt, ich kann ja am allerwenigsten dafür, wenn man jetzt überhaupt von Schuld sprechen kann. Ich schweig jetzt nimmer. Wenn mich jemand fragt, wer ist denn dein Papa, dann sag ich ganz normal, ja der ist Pfarrer. Und hast du ein Problem damit?

    Autorin: Die meisten haben kein Problem damit – selbst im sehr katholischen Bayern nicht. Probleme haben die Eltern und die Kinder. Viele wenden sich von der Kirche ab, geben ihr und dem mittelalterlichen Zölibat die Schuld. Auch Veronika ist nur noch auf dem Papier Katholikin. Den Zölibat hält sie für ein Machtinstrument der Kirche, das ihr gehorsame Diener und gefüllte Kassen bewahrt.

    O-Ton Veronika Am Ende war es doch so weit, dass sich mein Vater offiziell im Notariat zu mir bekannt hat und dann wäre er ja eigentlich unterhaltspflichtig. Er musste aber nix zahlen. Er hat sich freiwillig verpflichtet für uns zu sorgen, indem er mal eingekauft hat für uns oder mal ne Waschmaschine gekauft hat. Aber er war nicht unterhaltspflichtig.

    Autorin: Das Modell dieser heimlichen Familie hält bis heute. Die 73jährige Mutter wohnt mit ihrer Tochter zusammen und der Vater kommt dann und wann zu Besuch.
    Die Familie von Claudia ist zerbrochen. Die Mutter ist psychisch krank, der Vater Alkoholiker. Zu beiden hat sie keinen Kontakt. Claudia fand im Schoß der Kirche eine neue Familie. Sie ist trotz allem sehr eng mit ihrem Glauben und der katholischen Kirche verbunden.

    So verschieden ihre beiden Schicksale sind, als Priesterkinder tragen Veronika und Claudia das gleiche Kreuz – ihr großes Familiengeheimnis. Das versperrt ihnen bislang auch die Tür zu einer eigenen Familie:

    O-Ton Veronika Das prägt einen wohl auch, dass wenn man kein funktionierendes Beziehungsgefüge erlebt, das man kein Zutrauen hat in Beziehungen, dass man kein Vertauen drauf hat, dass der Mann immer da ist, dass man zueinander hält, dass man alles durchsteht nicht nur die schönen Tage, sondern auch die schlechten Zeiten oder den Alltag. Da bin ich eher der einsame Kämpfer. Da will ich mich lieber nur auf mich selber verlassen.

    O-Ton Claudia Das ist absolut nichts für mich. Ich glaub das ist zuviel Nähe und irgendwie habe ich vermittelt bekommen, dass Nähe etwas Verkehrtes ist. Von daher ist das nichts für mich. Das ist auch dieses Grundding, was Veronika und ich gleich haben, haben wir festgestellt. Beziehung, Nähe ist etwas, was mit sehr viel Vorsicht genossen wird – lieber nicht.

    "Legale" Priesterkinder, deren Väter sich irgendwann zu Frau und Kind bekannt haben, gibt es in Deutschland nach Schätzungen etwa 14.000 und weltweit mindestens 2.000.000.
    "Verleugnete" Kinder werden auf mindestens 2000 in Deutschland und weltweit auf über 60.000 geschätzt.

    www.vkpf.de
    Vereinigung katholischer Priester und ihre Frauen

    www.priesterkinder.foren-city.de
    Seite von Veronika und Claudia
    www.menschenrechtefuerpriesterkinder.de

    Annette Bruhns, Peter Wensierski
    Gottes heimliche Kinder
    Töchter und Söhne von Priestern erzählen ihr Schicksal"
    Dtv 2004
    Tausende katholische Priester, dem Keuschheitsgebot und der Ehelosigkeit verpflichtet, haben Kinder. Für sie wird das Leben oft zur Hölle auf Erden. Ihre Geschichten berichten von Verlorenheit und Verlogenheit, dem Kampf um Anerkennung und immer wieder von der Sehnsucht nach dem Vater. Priesterkinder sind das bestgehütete Tabu in der katholischen Kirche. Von den 17000 Geistlichen in Deutschland haben schätzungsweise 9000 eine heimliche Geliebte - und es gibt rund 3000 Kinder aus diesen verbotenen Beziehungen. Die Kinder sind meist die hilflosen Opfer: Die Väter verleugnen sie aus Angst um ihre Existenz und die Kirchenoberen lassen die Kinder, die es nicht geben darf, im Stich. Annette Bruhns und Peter Wensierski haben erschreckende, bewegende Lebensgeschichten recherchiert. Offen reden Betroffene - Kinder, deren Mütter und Priesterväter - über die Heuchelei der katholischen Kirche und ihr Leben in Lüge und Heimlichkeit. Priestertochter Christina, 21, aus Osnabrück: "Damit sich keiner mehr schämen muss."

    Karin Jäckel
    "Sag keinem, wer dein Vater ist"
    Neuauflage Bastei-Lübbe 2004

    Karin Jäckel, Thomas Forster
    "....weil mein Vater Priester ist"
    Bastei Lübbe 2002

    Rote Lebenslinien – Selbstverletzung als Heilungsversuch

    Die meisten Menschen gehen dem Schmerz aus dem Weg. Doch es gibt eine wachsende Zahl von Menschen, die fügen sich selber Schmerzen zu, drücken brennende Zigaretten auf ihre Haut, schneiden sich mit Messern und ritzen sich mit Rasierklingen, so wie es die Schriftstellerin Svenja Leiber in der gerade gehörten Erzählung "Der erste Schnitt" erzählt. Selbstverletzendes Verhalten nennt man das. Eine Studie aus Ulm kommt zu dem Ergebnis, dass ein Viertel der 600 anonym befragten Jugendlichen der Klasse neun sich zumindest schon einmal absichtlich verletzt haben. Neun Prozent gaben an, dies regelmäßig zu tun. Für die meisten ist es, wie mit Piercing und Tattoos, Jugendprotest und gehört zum Lebensstil dazu. Doch für einige ist es, so eigentümlich es klingt, eine bittere Form der Selbstfürsorge. Sie suchen das Leben im Schmerz. Betroffen sind vor allem Mädchen und Frauen.

    O-Ton Sachsse Es ist eine Maßnahme, wo über einen sehr heftigen Reiz, einen Schmerzreiz, plötzlich der Körper wieder gespürt wird, wo das Leben wieder gespürt wird, dabei ist es auch nicht unwichtig, das Blut zu sehen, weil dann fließt etwas. Manche sagen, das Blut ist warm und wenn ich das auf der Haut spüre, dann bin ich wieder lebendig.

    O-Ton Anna Als ich damit angefangen habe, habe ich mich nachher nicht gut gefühlt. Weil es halt komisch war diese Narben am Arm zu sehen und zu wissen, es geht dir jetzt zwar besser, aber die Narben bleiben halt. Aber später war es mir egal, weil alle anderen Sachen für mich so schlimm waren, dass das einfach keine Bedeutung mehr hatte und ich einfach nur froh war, dass da was war, womit es mir besser gehen konnte. – ja, je mehr Blut, desto mehr Erleichterung.
    Autorin: Anna ist hübsch, zierlich, mit großen, braunen Augen, die sie leicht versteckt hinter dem blonden Seitenscheitel. Sie trägt ein schwarzes Wickel-T-Shirt, auf ihrem dunklen Rock sind kleine rote und grüne Herzen gestickt. Die 21jährige schaut offen, freundlich, ruhig erzählt sie von ihre schmerzhafte Geschichte. Von allein käme wohl niemand auf die Idee, dass diese junge Frau unter ihren langen Ärmeln schlimme Narben verbirgt.

    O-Ton Anna Angefangen hat es mit einer Nagelschere, da war das eher so ein Kratzen, immer wieder rein in die gleiche Wunde und später dann hab ich halt Rasierklingen genommne, ja und halt geguckt, wie tief ich schneiden kann.

    O-Ton Sachsse Emotionaler Missbrauch, Vernachlässigung, eine nicht gelungene Entwicklung des Gefühlslebens, der Stressbewältigung, der Umgang mit inneren Zuständen steht grundsätzlich hinter der Symptomatik dieser Art, die länger anhält. Bei etwa 2/3 der Mädchen geht es auch um sexualisierte Gewalt.

    Autorin: Sagt der Psychiater Ulrich Sachsse aus Göttingen, der schon vor rund 15 Jahren ein Buch zum Thema selbstverletzendes Verhalten geschrieben hat. Wer sich so tief ins eigene Fleisch schneidet, sagt er, ist in großer seelischer Not. So wie Anna.
    Dabei begann alles eher harmlos.

    O-Ton Anna Rückblickend würde ich sagen, dass die problematische Zeit angefangen hat als ich zehn geworden bin. Ich bin behütet aufgewachsen. Ich hatte ne gute Familie, ich bin Einzelkind. Und es war so, dass meine Oma irgendwann Krebs bekommen hat und das war ziemlich plötzlich und sie hat dann beschlossen sich nicht helfen zu lassen, also keine medizinische Behandlung. Und dann hat meine Mutter beschlossen, dass sie sich um meine Oma kümmert. Das war dann in einem Zeitraum von vier Jahren. Der Krebs ist total ausgebrochen, hat das am ganzen Körper gesehen. Und meine Mutter ist davon ausgegangen, dass unsere kleine Familie, dass wir uns diesem Problem annehmen. Das war dann für mich die Zeit, wo meine Mutter sich nur noch um meine Oma gekümmert hat und nicht mehr um mich. / Das war eine ziemlich traurige Zeit, das war auch eine schlimme Zeit, weil auch schlimme Sachen am Körper passiert sind. Und wir haben da nie drüber gesprochen. Als wäre es ganz normal, als würde es jedem halt passieren und man muss damit normal umgehen. Das war völlig klar, dass ich mit meiner Mutter nicht darüber rede und sie nicht mir.

    Autorin: Anna spielt die perfekte Tochter. Und beginnt ein Eigenleben.

    O-Ton Anna Dass ich mir ständig neue Freundschaften gesucht habe, mit Jungen halt, um irgendwie das Gefühl von Liebe zu bekommen, weil ich das überhaupt nicht mehr hatte, da wurde mir einfach so weggenommen. Ich hab versucht das über den Sex zu bekommen, halt auch schon sehr früh.

    Autorin: Sie macht schlimme Gewalterfahrungen mit Männern. Diese in ihren Körper eingebrannten Angstzustände springen Anna bis heute immer wieder an. Lange Zeit hat sie versucht, diese Bilder wegzuschneiden. Flash back nennen Psychologen das Phänomen der plötzlich auftauchenden Erinnerungen. Manchmal reicht ein Geruch, ein Wort, eine Bewegung, eine Melodie und traumatisierte Menschen sind plötzlich wieder mitten in ihrem erlebten Albtraum. Der einzige Ausweg ist dann für einige der Schnitt in den eigenen Körper.

    O-Ton Anna Ich stand auf jeden Fall unter Druck. Wo ich nur gedacht habe, wie es ist, wenn ich mich schneide, wenn dieser Druck endlich aufhört. Für mich war es auch innere Leere und auch ein Druck. Ein Druck im Körper, aber eine Leere im Kopf.

    O-Ton Sachsse Alle sagen, ich war unter Druck, ich konnte Platzen, ich konnte nicht mehr klar denken, in meinem Kopf war nur noch Nebel, meinen Körper habe ich gar nicht mehr gefühlt. Ich fühlte mich wie ein Zombie, wie eine lebende Leiche, der Zustand war unerträglich. Das was man als Depersonalisationszustand, alsodass ich nicht mehr in meinem Körper drin bin bezeichnet, ist doch 80 bis 90 Prozent der Hintergrund dafür, dass Frauen sich dann verletzten. Dabei ist die Selbstverletzung gerade nicht eine Art Suizidversuch, sondern eher eine Wiederbelebung.

    O-Ton Anna: Es tut auch nicht weh. Es ist nur Erleichterung und wenn das Blut da raus fließt, dann ist das auch nicht eklig in dem Moment. Ich wollte, dass soviel Blut wie möglich raus fließt. Je tiefer desto besser, weil – ja, je mehr Blut desto mehr Erleichterung.

    Autorin: Der Körper spielt "verkehrte Welt". Während der Verletzungen schüttet er Glückshormone aus, die ein gutes Gefühl machen, wo eigentlich Schmerz ist. Und, es klingt absurd: Aber das Schneiden ist angesichts großer seelischer Not ein Ja zum Leben, ist eine fast gesunde Reaktion auf zerstörende Ereignisse, sagt Gerd Kuznik, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Kinderklinik Hannover. Zu ihm kam Anna, als nichts mehr ging.

    O-Ton Kuznik Anna war damals 16 und ist gekommen, nachdem sie eine ziemliche Odyssee hinter sich hatte. Sie hatte neben Drogenproblemen das Problem, dass sie nicht mehr zur Schule ging, zum Gymnasium, was sie bis dahin erfolgreich besucht hatte. Sie war sehr abgeglitten in die Drogenszene, wo sie dann auch sexuell ausgenutzt wurde. Sie hatte das selbstverletzende Verhalten in sehr, sehr starker Ausprägung genutzt, um sich zu befreien. Weniger um sich selbst zu bestrafen. Das ist sowieso eher die Ausnahme, sondern wirklich um sich aus diesen Zuständen zu befreien. Und das war doch schon sehr zur Gewohnheit geworden als Versuch, diese Belastungszustände vermeiden zu können. Das konnte man an ihren Armen sehen, dass sie sehr in Not war.

    Autorin: Freiwillig kam sie nicht. Eine Freundin hatte die Schule informiert.

    O-Ton Anna: Meine Eltern sind aus allen Wolken gefallen, die haben von alledem überhaupt nichts mitbekommen. Ich würde mal sagen, ich hab gut geschauspielert.

    O-Ton Kuznik Wir haben dann schon in der ersten Stunden feststellen können, dass es sich mit Sicherheit um eine gravierende Traumastörung handelt, die man hier in unserer Einrichtung gut behandeln kann.

    Evt. Musik

    O-Ton Anna Diese Patienten-Therapeuten-Beziehung hat mir sehr viel gegeben. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich gesehen werde und wahrgenommen werde mit meinen ganzen Sorgen. Das war sehr wichtig für mich, verstanden zu werden.

    O-Ton Anna Erst mal stand natürlich die Trauma-Arbeit im Vordergrund. Ich wurde jetzt nicht gezwungen mich nicht mehr zu schneiden. Man sollte zwar seine ganzen Sachen abgeben, aber es ist natürlich klar, dass er's einfach ist, was zu behalten. Und wenn ich das Bedürfnis hatte mich während der Traumaarbeit trotzdem zu ritzen, dann wurde ich auch versorgt, das wurde geklammert oder genäht, verbunden und desinfiziert. Das stand nicht so im Vordergrund.

    O-Ton Kuznik Es geht in vieler Hinsicht darum, sich selbst wieder positiv zu erleben. Das heißt Körperwahrnehmung ist nicht immer ganz einfach mit Traumatisierten. Die nehmen sich eben nicht gerne wahr. Weil es ihnen auch Angst macht. Da muss man auch vorsichtig sein. Aber andere Dinge zu machen, die mehr positiv getönt sind. Sportliche Aktivitäten, sie ist sehr sportlich. Natürlich dann auch immer Einzelgespräche.

    O-Ton Anna Später dann, je mehr ich mich damit auseinander gesetzt habe, desto weniger musste ich mich auch schneiden. Es war so ein schleichender Vorgang bei mir. Ich wusste mehr, wer ich war und warum ich das gemacht habe und dann fand ich es unsinnig das zu tun./ Ich würde auf jeden Fall sagen, dass ich das überstanden habe. Das Problem ist, ich könnte nicht sagen, dass ich es nie wieder mache. Wenn ich irgendwann wieder in eine Situation komme, die so schlimm ist, dass mich das so doll erschüttert, dann kann ich es nicht versprechen, dass ich es nicht noch mal mache.

    Autorin: Mit einer guten Traumatherapie und etwas Glück verblassen irgendwann die schrecklichen Erinnerungen. Doch so wie seelische Narben ein Leben lang bleiben, so bleiben auch die Spuren der schmerzlichen Selbstheilungsversuche.

    O-Ton Anna Ehrlich gesagt, ich möchte sie auch nicht missen. Sie gehören zu meinem Arm, ich will die da haben, auch wenn ich darüber fass und es sind irgendwelche Beulen - das gehört einfach zu mir, das sind meine Erfahrungen, die erinnern mich an die schlimme Zeit, aber auch, dass ich es
    nicht mehr machen möchte.

    Joseph Roth
    Hiob
    Roman eines einfachen Mannes.
    2 Audio-CDs 99 Min..
    Herausgeber: Schwiedrzik, Wolfgang M. .
    Sprecher: Walter Schmidinger .
    Hörbühne
    2005 Edition Mnemosyne
    Seit vielen Jahren hat Walter Schmidinger seine Fassung des Hiob von Joseph Roth auf deutschen und österreichischen Bühnen vorgetragen und das Publikum tief beeindruckt. Als wir ihn im Akademietheater in Wien hörten, baten wir ihn spontan, die Lesung aufzeichnen zu dürfen. Walter Schmidinger stimmte zu, und wir begannen, eine Möglichkeit für eine Aufzeichnung zu suchen. Denn wir waren - und sind - überzeugt, dass ein Live-Mitschnitt in diesem Falle das Beste sei. Das Berliner Ensemble, an dem Walter Schmidinger zur Zeit engagiert ist, erklärte sich bereit, den Hiob von Joseph Roth ins Programm zu nehmen. Am 28. Januar 2005 fand die Lesung auf der Probebühne des Berliner Ensembles statt - aus Anlaß des 60. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz.



    Begleitete Elternschaft

    Eltern zu sein, ein Kind großzuziehen, ist ein Grundrecht, das allen Menschen zusteht. Umgekehrt haben Kinder das Recht, sich frei und unversehrt zu entfalten. In diesem Spannungsverhältnis leben immer mehr Eltern: die einen weil sie am Rande des Existenzminimums leben. Jedes 6. Kind ist, laut des UNICEF-Berichtes zur Lage der Kinder in Deutschland vom Mai 2008, von Armut bedroht. Kinder von Alleinerziehen sind besonders gefährdet. Aber auch Eltern, die selbst kaum in der Lage sind Verantwortung für sich zu übernehmen, Menschen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung. Projekte haben gezeigt, dass sich die betroffenen Kinder ganz normal entwickeln können, sofern die Familie genug Unterstützung bekommt. Die Rechtslage sieht deshalb auch vor, dass ein Kind nur dann von seinen leiblichen Eltern getrennt werden darf, wenn sein leibliches und seelisches Wohl gefährdet ist und alle Hilfen ausgeschöpft sind. Die Nachrichten von misshandelten, vernachlässigten oder gar getöteten Kindern sind die traurige Spitze individueller Überforderung und fehlender gesellschaftlicher Unterstützung. Zunehmend leben Kinder am Rande unserer Gesellschaft, obwohl sie doch die Mitte unserer Zukunft sind. Das folgende Beispiel einer Mutter und ihrem Sohn zeigt, wie wichtig Hilfe ist - auch wenn keine unmittelbare Gefährdung in Sicht ist.

    Atmo Mutter und Sohn richten das Kinderzimmer ein
    Autorin: Annemonn ... und ihr Sohn Manuel sind umgezogen. Überall stehen Tüten, Kisten und große blaue Plastiktaschen an den Wänden. Im Zimmer der Mutter steht nur ein altes Bett, das sie geschenkt bekommen hat, mit einer Tagesdecke und ihren Kuscheltieren aus Kindertagen. Möbel haben die beiden nämlich fast keine – die sind alle beim Vater geblieben. Nur Manuel hat ein paar Regale und natürlich seine Spielsachen mitgenommen. Anemonn würde sich über einen staatlichen Zuschuss für einen Kinderschrank freuen:

    O-Ton Mutter: Dass es mehr Unterstützung gibt für Menschen, die sich trennen. Das man sagt, gut da ist wirklich nichts. Das Kind ist wichtig, es kriegt vielleicht ein Zimmer, es gibt vielleicht Zuschüsse, dass er was machen kann in den Ferien, das wird noch nicht gegeben.

    Autorin: Annemonn ... ist 36 Jahre alt und lebt von Hartz IV und den Unterhaltszahlungen des Vaters – wenn er denn zahlt.

    Autorin: Zusammen mit ihrer Betreuerin des Projekts "Begleitete Elternschaft" der Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld geht Annemonn ... die neuen Anträge für die Bewilligung der Wohngeldzahlungen durch.

    O-Ton Mutter: Es tut einen so ein bisschen entlasten. Man kann dann sagen, gut, ich hab den Text nicht verstanden, ich weiß nicht, wie ich das formulieren soll, dann spricht man die eben an.

    Autorin: Die Betreuerin hilft beim Antragsdschungel von Hartz IV, aber sie begleitet Annemonn ... auch in ihrem Alltag als Mutter. Die 36jährige hat die Förderschule für Lernbehinderte absolviert und eine Lehre als Bekleidungsfertigerin in der Werkstatt gemacht. Das meiste schafft sie allein, auch wenn ihr das damals als sie schwanger wurde, niemand zugetraut hat.

    O-Ton Mutter Ich habe mich eigentlich sehr gefreut, weil man mir immer gesagt hat, nein Kinder kriegst du nicht, das gibt es nicht. Hab mir dann aber gesagt, das ziehst du durch. Mir war auch gleich bewusst, dass ich die meiste Verantwortung habe, weil mein Mann unter geistiger Behinderung leidet und dadurch auch keine Wahrnehmung, was ist en Kind, was mache ich, mache ich es richtig. Das war mir dann von Anfang an klar, ich stand praktisch für mich allein.

    Autorin: Annemonn ... musste auch mit der Ablehnung von Menschen klar kommen, die es nicht richtig fanden, dass ein Vater mit einer geistigen Behinderung und eine Mutter mit einer Lernbehinderung ein Kind in die Welt setzen.

    O-Ton Mutter Wenn man mal was gesagt hatte, dann zogen sich die Menschen viel zurück. Auch in der schule, wenn ich mal was schreiben musste oder Manuel irgendwas anstand un dich dann gesagt habe, dass ich auf der Sonderschule war, dann haben sich die Menschen zurückgezogen. Das habe ich extrem gemerkt und das tat auch manchmal sehr doll weh. Aber ich bin trotzdem da drauf zugegangen.

    Autorin: Die 36jährige ist patent und zielstrebig – vor allem, wenn es um Manuel geht. Vor zwei Jahren hat Annemonn ... sich von ihrem Mann getrennt. Seither leben Mutter und Sohn allein und sind ein eingeschworenes Team.

    O-Ton Mutter Also die Panik war da, kann ich Manuel helfen, wenn er Probleme hat oder was nicht verstanden hat. Aber ich hab gleich gesagt, versuchst du und komischerweise habe ich es gekonnt. Also besser als ich es früher verstanden habe, habe ich es durch Manuel noch mal erklärt bekommen.

    O-Ton Manuel Wenn mein Mathe-Lehrer mir das erklärt und wenn ich es dann nicht kapiere und wenn sie es noch mal erklärt, dann komm ich zu Mama und dann erklärt sie es mir besser.

    Autorin: Mutter und Sohn haben zur Zeit jeder einen Betreuer. Annemonn ... über Bethel und Manuel vom Jugendamt.

    O-Ton Manuel Der macht mit mir so sportliche Sachen, so klettern, Ausflüge, so Sachen, die Spaß machen. Er frägt mich, dann machen wir halt auch meistens die Sachen. Einmal in der Woche, drei Stunden hat er dann in der Woche für mich Zeit, manchmal auch zweimal je nachdem wie die drei Stunden aufgeteilt sind. Das macht mir richtig Spaß.

    Autorin: Auch wenn beide gut miteinander klar kommen, einfach ist ihr Leben nicht. Annemonn ... fühlt sich manchmal im Alltag überfordert. Doch für Manuel schafft sie Dinge, die sie früher nicht konnte – und zwar nicht nur Rechenaufgaben:

    O-Ton Betsch Ich bin stolz, dass ich Manuel ohne große Hilfe von Anfang an großgezogen habe. Ich haben gleich gesagt, ich kann das jetzt erst recht. Und jetzt nach herein sagen sie, ja sie hätten nicht gedacht, dass ich das schaffe und haben aber immer noch skeptisch. Trotzdem ist aus Manuel was geworden. Das soll auch so bleiben..

    Kontakt:
    Bundesarbeitsgemeinschaft Begleitete Elternschaft, Waller Heerstraße 55, 28217 Bremen, Telefon 0421/3877767
    Angebotsführer Begleitete Elternschaft
    Mobile - Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V., Steinstr.9, 44147 Dortmund. Tel.: 0231/477321623 - Ulla Riesberg
    Ursula Pixa-Kettner/Stefanie Bargfrede/Ingrid Blanken
    "Dann waren sie sauer auf mich, dass ich das Kind haben wollte...". Eine Untersuchung zur Lebenssituation geistigbehinderter Menschen mit Kindern in der BRD, Nomos Verlag, 1996
    Ursula Pixa-Kettner
    "Tabu oder Normalität? Eltern mit geistiger Behinderung und ihre Kinder"
    Universitätsverlag Winter
    Jugendbücher zum Thema:
    Sarah Weeks
    "So B. it. Heidis Geschichte"
    Hanser Verlag
    Kimberly Willis Holt
    "Vollmondtage"
    dtv junior
    Weiterer Buchtipp:

    Ika Hügel-Marshall
    Daheim unterwegs
    Ein deutsches Leben
    Orlanda Verlag
    Die kleine Erika ist ein "Besatzungskind". Ihre Mutter kommt aus einer bayrischen Kleinstadt, ihr Vater, ein afroamerikanischer Soldat, wird noch vor ihrer Geburt wieder in die Staaten beordert. Mit sieben Jahren wird Erika vom Jugendamt in ein Kinderheim verfrachtet, wo sie unter der strengen Herrschaft von "Schwester Hildegard" traumatische Jahre verbringt - und selbst eine Teufelsaustreibung überlebt.

    ika-huegel-marshall.de


    Fröhlich-Gildhoff, Klaus / Rönnau-Böse, Maike: Resilienz

    Innenteil zweifarbig. 2009. 98 Seiten. UTB-Profile (978-3-8252-3290-0) , 9,90

    Resilienz – die Stärkung der seelischen (und körperlichen) Widerstandskraft – gewinnt in Forschung und Praxis an Bedeutung. Die Autoren stellen Konzepte und aktuelle Forschungsergebnisse verständlich dar. Sie führen in relevante Themengebiete wie Prävention, Risiko- und Schutzfaktorenkonzept sowie Salutogenese ein und beschreiben Programme in Kindertageseinrichtungen und Schulen, mit denen Fachkräfte die Resilienz von Kindern fördern können.