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Dunkler Hafen

Das wahrhaft Verblüffende, wirklich Überaschende und geradezu sensationell Neuartige an der Gedichtauswahl des amerikanischen Lyrikers Mark Strand, die der Suhrkamp-Verlag jetzt unter dem Titel "Dunkler Hafen" herausgebracht hat, ist wohl die Umschlagillustration. Es handelt sich um ein ansprechendes Stilleben des Malers William Bailey, und darauf sind - wie es sich für ein Stilleben gehört - Gegenstände aus dem richtigen Leben zu sehen: eine bauchige Tonflasche, ein grundsolider Krug, eine Tasse, ein Kelch, eine Schüssel. Zumindest äußerlich stellt "Dunkler Hafen" damit unter Beweis, daß der Suhrkamp-Verlag - bekannt für seine typographisch-abstrakten Buchgestaltungen - neuerdings bereit ist, sich den Herausforderungen der Realität zu stellen.

Steffen Jacobs |
    Leider ist jedoch zu befürchten, daß die schöne Idee auf einem Mißverständnis beruht. Es scheint, als habe der Umschlaggestalter sich von einem der Gedichte des Bandes in die Irre führen lassen. Es heißt "Die Dinge ganz lassen", und ist auch gleich auf der Umschlagrückseite abgedruckt.

    In einem Feld bin ich das, was es nicht ist. Immer ist das der Fall. Wo ich auch bin, bin ich das, was fehlt.

    Wenn ich gehe, teil ich die Luft, und immer strömt sie nach, um die Räume zu füllen, wo mein Körper gewesen ist.

    Alle haben wir Gründe, uns zu bewegen. Ich bewege mich, um die Dinge ganz zu lassen.

    Da sind sie also, die Dinge des äußeren Lebens. Doch ist dieser Schlußvers auch fast schon die einzige Stelle, an der sie ihren Platz im Text finden. Die große Mehrheit der Gedichte in "Dunkler Hafen" hat mit Stilleben wenig gemein, um so mehr aber mit jener seltsamen Form von Erkenntnistheorie, die der 1934 in Kanada geborene Mark Strand in diesem Gedicht auf den Punkt bringt: Ich bin, was das andere nicht ist.

    Die Umwelt ist immer nur das Kontrastprogramm, vor dem ein vielfach variiertes, im Grunde aber stets gleiches, gleich unsicheres lyrisches Ich zur Geltung zu kommen hofft. Man könnte auch sagen: überhaupt erst zu sich zu kommen hofft. Wenn man der Auswahl Glauben schenken darf, die die Übersetzer Michael Krüger, Rainer G. Schmidt und Richard Weihe getroffen haben, dann durchzieht das Motiv der Selbstvergewisserung alle sechs Gedichtbände, die Mark Strand seit 1964 veröffentlicht hat. Am stärksten ist es jedoch im Frühwerk vertreten.

    Das Ich dieser Gedichte ist ein verhuschter Fremdkörper in einer nur vage wahrgenommenen Dingwelt. Es hat viel zuviel mit sich selbst zu tun, um seiner Umwelt größere Beachtung zu schenken. Immer wieder sehen wir hier schwankende Gestalten mühsam um Fassung ringen. Die letzte Strophe des Gedichts "Der Unfall" zieht in nur sechs Zeilen so etwas wie die Summe der frühen Gedichte Mark Strands:

    Ich lausche dem Wind, presse mich fest an das Haus. Ich kann nicht schlafen. Ich kann nicht wach bleiben. Die Läden schlagen zu. Das Ende meines Lebens beginnt.

    Niemals ist das Ende so gegenwärtig wie ganz am Anfang. Fast jedem Leser wird die Angst vor dem Unbeschreiblichen, das das Leben ist, bekannt vorkommen. Es ist die Angst des Kindes, das mit gesträubten Haaren im Bett sitzt, während der Nachtwind um das Haus fährt. Und tatsächlich sind diese Gedichte gut durchlüftet, gelegentlich sogar recht zugig. "Unbewegt von des Windes Treiben / Die Fenster bleiben" lautet, ziemlich ungelenk gereimt, gleich der erste Vers des Bandes; "Heftiger Sturm" heißt das zweite Gedicht, und so geht es weiter. Etwa mit einem "Geisterschiff" - "Wie Wind / So vage sein Gewicht" - und anderen spukhaften Randerscheinungen einer luftigen, ja, windigen Existenz.

    Die philosophische Frage "Wer bin ich" ist letztlich eine Kinderfrage. Angst entsteht in dem Moment, wo das Zusammenfügen der Persönlichkeit aus den Bruchstücken des täglichen Lebens nicht mehr gelingen will. Der fast schon manisch zu nennenden Ichbeschwörung geht daher nicht selten ein Verlust des Ichs voraus. In Gedichten, die eine geradezu schizophrene Aufspaltung der handelnden Person zeigen, spiegelt sich dieser Verlust. Und er spiegelt sich in Bildern einer oft grausamen, manchmal aber auch sonderbar heiteren Selbstzerstörung:

    Es ist unmöglich, mit dieser plumpen Hand zu leben, die da auf dem Tisch liegt. Rasch! Schneide sie ab! Hack sie in Stücke und wirf sie ins Meer.

    Man könnte sagen, die Gedichte von Mark Strand seien in Körpersprache geschrieben. In einer Sprache, die nur in der Bewegung existiert, die keinen Stillstand kennt, aber auch keine Reflexion. Diese Gedichte vollziehen sich fast ausschließlich in der Aktion - darin der Bildsprache des Films ähnlich. Aber auch dem haspeligen Sprachduktus von Kindern, die in möglichst kurzer Zeit möglichst viel von dem mitteilen wollen, was ihnen widerfahren ist. Form und Inhalt der Gedichte entsprechen sich perfekt.

    Aber die Reduktion auf äußere Tätigkeiten birgt auch eine Gefahr. Es ist, wie wenn ein Kind zu lange von seinen Abenteuern berichtet: aus der bewegten Schilderung wird eine klappernde Litanei. In seinen Gedichten vom Anfang der siebziger Jahre erliegt Mark Strand immer öfter der Versuchung eines langweiligen und eitlen Auflistens von Selbstbeobachtungen. Man spürt, daß der radikale Solipsismus der ersten Gedichtbände nun zur Routine geworden ist. Nur ganz allmählich geraten auch andere Menschen in das Blickfeld des Egomanen. Eine wichtige Station auf diesem Weg markiert die autobiographische "Elegie für meinen Vater", aus Anlaß von dessen Tod Ende der sechziger Jahre geschrieben.

    "Mehr Umsicht, weniger Verve" - mit diesem Wort hat Hans Magnus Enzensberger beschrieben, worin sich das Alterswerk eines Schriftstellers vom Frühwerk unterscheidet. "Mehr Umsicht, weniger Verve" - das gilt auch für die knapp dreißig Stücke aus dem 1993 erschienenen Zyklus "Dark Harbor", die den Auswahlband "Dunkler Hafen" beschließen. Nicht der rauhe Wind der frühen Jahre bewegt diese Arbeiten des knapp Sechzigjährigen, statt dessen liegen sie, wie es heißt, "ausgebreitet unter dem mürrischen Blick des Mondes". Auch sonst findet sich manches Motiv des jungen Strand in aphoristisch abgemilderter Form wieder. Eugenio Montale hat einmal gesagt, er habe seine frühen Gedichte im Frack, die späteren aber im Schlafanzug geschrieben. Mark Strands jüngste Gedichte bieten, wenn man so will, "Verzweiflung im Schlafrock". Ob er die radikalen Selbstzweifel der frühen oder die sanften Irritationen der späten Gedichte bevorzugt, wird jeder Leser für sich entscheiden müssen. Lesenswert sind sie beide allemal.