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Dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte

Als "Zwangsversorgte" wurden in der Schweiz jene Teenager bezeichnet, die vielleicht ein bisschen schwierig, aber keinesfalls kriminell waren - und dennoch bis in die 80er-Jahre in Gefängnisse gesteckt wurden. Der Schweizer Nationalrat ist dabei, sich dieses dunklen Kapitels der Geschichte anzunehmen.

Von Pascal Lechler | 20.12.2012
    Gina Rubeli ist eine attraktive Frau. Selbstbewusst läuft sie durch die Tischreihen eines Cafés in der Nähe des Bahnhofs in Neuchatel. Kaum zu glauben, dass sie als 17-Jährige als "erzieherisch erheblich verwahrlost" abgestempelt wurde. So stand es im Urteil der kantonalen Behörde. Dieses Amt ordnete die Unterbringung des Teenagers im Frauengefängnis Hindelbank an.

    "Wenn man mit 17 einen Freund hatte dann galt das als liederlicher Lebenswandel, wenn man mit 16 noch nicht genau wusste, welchen Beruf man ergreifen wollte, oder wenn man da noch nicht so sicher war, dann wurde es einem als arbeitsscheu ausgelegt. Da kann man alles reinpacken in diese Kriterien."

    Wie Gina Rubeli ging es vielen Schweizer Jugendlichen. Tausende wurden bis in die 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts statt in ein Jugendheim in ein Gefängnis gesteckt. Administrativ versorgt hieß das im Amts-Schweizerdeutsch. Die Eltern glaubten ihre Kinder in guten Händen, erzählt Gina Rubeli.

    "Den Eltern wurde dann erzählt, dass das Kind in ein Heim gebracht wurde. Und dass es dort eine Ausbildung machen könne und dass das natürlich bezahlt werden müsse, und die Eltern, die haben dann die Pensionskosten übernommen. Und dabei haben die uns einfach ins Gefängnis gesteckt und die Eltern haben bezahlt dafür."

    Kriminalprävention mit dem Vorschlaghammer, nennt das Dominique Strebel. Der Journalist hat sich intensiv mit den Fällen der administrativ Versorgten beschäftigt und ein Buch geschrieben. Sein Urteil: In allen Fällen ging es um Teenager, die einfach nur pubertierend waren. Keiner war wirklich kriminell. Mit Laien besetzte Fürsorgekommissionen in den Gemeinden brachten Jugendliche ohne richterliche Kontrolle hinter Gitter, berichtet Strebel:

    "Ich will nicht nur sagen, die Behörden waren ganz schlimm. Die Behörden waren getragen von einer damals herrschenden Mentalität. Die Behörden hatten, auch wenn sie versuchten, ein Kind oder eine jugendliche Person oder sonst eine - es waren ja nicht nur Jugendliche, es waren auch Erwachsene - adäquat zu betreuen, dann hatten sie keine adäquaten Heime. Also, die Gesellschaft hat das Geld nicht gesprochen, um solche Heime einzurichten, die ein therapeutisches Angebot für solche Personen zur Verfügung gestellt hätten."

    Lange wurde das Thema administrative Versorgung in der Schweiz unter den Teppich gekehrt. Vor etwas mehr als zwei Jahren entschuldigte sich dann die damalige Justizministerin Evelyn Widmer-Schlumpf bei den Opfern. Jetzt endlich, nach zwei Jahren, liegt ein Gesetz zur Rehabilitierung der Opfer im Parlament. Es könnte im kommenden Sommer verabschiedet werden. Die Sozialdemokratin Jaqueline Fehr war eine der treibenden Kräfte hinter dem Gesetzesvorstoß:

    "Es braucht die historische Aufarbeitung. Es braucht die juristische Rehabilitierung. Dass eben klar wird, dass diese Menschen zu Unrecht in diesen Anstalten gesessen haben. Und es braucht den Zugang zu den Akten und die Möglichkeit, eben auch die eigene Geschichte, wie sie behördlich quasi abgelegt worden ist, zu kennen. Diese drei Elemente sind jetzt zentral und dann kommt noch das Element dieser Kostenrückerstattung dazu, das gelöst werden muss."

    Eine Entschädigung sieht dieses Bundes-Gesetz nur indirekt vor. Es ist an den Kantonen und Gemeinden, den Opfern finanzielle Wiedergutmachung zu leisten. Für Gina Rubeli käme eine Entschädigung ohnehin viel zu spät. Nach ihrem Gefängnisaufenthalt schlug sie sich zunächst mit Jobs durch. Eine Lehrstelle bekam Gina Rubeli nie - wer nimmt schon eine, die im Gefängnis saß. Erst nach unzähligen Psychotherapien konnte Gina Rubeli ein halbwegs normales Leben beginnen.

    "Das ist natürlich etwas, das Sie fürs Leben zeichnet. Da kommen Sie nicht weg davon. Da kann man sich bei mir noch hundertmal entschuldigen. Das klebt an ihnen wie ... wie eine zweite Haut."

    Obwohl die administrative Versorgung bereits 1981 beendet wurde, gibt es in der Schweiz noch heute Heime, in denen schwererziehbare Jugendliche und kriminelle Jugendliche zusammen untergebracht sind.

    Immerhin: Jetzt zum 1. Januar 2013 werden die Laienbehörden, die bislang über das Schicksal von Schweizer Teenagern entschieden haben, durch professionelle Kommissionen ersetzt.