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Durs Grünbein: "Jenseits der Literatur"
Der Dichter und die Photosynthese

In seinen Oxford Lectures, die Durs Grünbein im vergangen Jahr am St. Annes College gehalten hat, untersucht er vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus das Verhältnis zwischen Geschichte, Sprache und Erinnerung. Er stellt fest: Der Dichter schreibt zwischen Wort und Bild, Vergangenheit und Zukunft.

Catrin Stövesand im Gespräch mit Tanya Lieske |
Vordergrund: Buchcover "Jenseits der Literatur / Hintergrund: Stockimage Oxford University
Durs Grünbein hielt 2019 die Oxford Lectures (Suhrkamp / Inselverlag)
Der Büchner Preisträger Durs Grünbein (*1962 in Dresden) gilt als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Lyriker unserer Zeit. Seine Gedichte werden in viele Sprachen übersetzt, seine Interventionen zur Zeitgeschichte auch im Ausland wahrgenommen. 2019 erhielt Grünbein die Einladung, am St. Annes College in Oxford die Oxford Lectures zu halten. Sie werden auch Weidenfeld Lectures genannt nach Arthur George Weidenfeld (1919 -2016). Er wurde 1919 in Wien geboren und emigrierte nach der Annektion Österreichs 1938 durch Hitlerdeutschland nach London, wo er Zeit seines Lebens als Journalist und Verleger tätig war. Ein frühes Buch Arthur George Weidenfelds beschäftigt sich mit der Sprache des Nationalsozialismus (The Goebbels Experiment, 1942).
Daran schließt der Lyriker Durs Grünbein mit seiner Vorlesungsreihe an, die nun unter dem Titel "Oxford Lectures. Jenseits der Literatur" in gedruckter Form vorliegt: Er untersucht, wie Sprache und Totalitarismus zusammenhängen.
Von der Briefmarke zur Autobahn
Grünbein geht dabei von seiner eigenen Biografie aus. Mit Verweis auf ein Haus seiner Kindheit beschreibt er eine Umgebung mit offenen und verdeckten Erinnerungen. Von der violetten Briefmarke mit dem Konterfei Hitlers über Postkarten, die im Weltkrieg verschickt wurden und eine in einer Schublade versteckte, abgewetzte Ausgabe von "Mein Kampf" zeigt Grünbein, wie Gegenstände Erinnerungen bewahren: "Aber auch in stillen Momenten der Vergegenwärtigung, beim Stöbern auf Flohmärkten, bei der Auswertung antiquarischer Fundstücke - Postkarten, Bücher, Photographien - war die Verstörung sofort wieder da. Im Lauf der Jahre wuchs sie sich zu einer mächtigen Erinnerungsdepression aus."
Sprache und Gewalt
Durs Grünbeins Blick weitet sich von den kleinen Objekten zum Bau der Autobahnen unter Hitler. Er führt aus, wie für dieses monumentale Vorhaben Menschen ausgebeutet wurden, der Zwangsstaat erstmals sein Gesicht zeigte: "Es waren Männer, schlechtgenährte, ausgepowerte Gestalten zumeist, die das babylonische Aufbauwerk stemmten, Tagelöhner aus dem großen Heer der Arbeitslosen, die das einzige hingaben, was sie zu bieten hatten, ihre abnehmende Arbeitskraft." Grünbein weist nach, wie sich im Autobahnbau Technikbegeisterung mit einer Überhöhung von Landschaft verband, und wie das Projekt Autobahn die deutsche Sprache beeinflusste. Das noch heute gebräuchliche Wort "spuren" stammt aus dieser Zeit.
Der Luftkrieg und das Schweigen
Durs Grünbein erwähnt vor seinen britischen Zuhörern auch die Zerstörung seiner Heimatstadt Dresden. In der Erfahrung des Luftkriegs sieht er den Beginn des Schweigens und der sprichwörtlich gewordenen Unfähigkeit der Deutschen zu Trauern: "Das totale Chaos, das sie schließlich überrollte, der Tod und die Trümmer, die Wüstenei ihrer zerbombten Städte, mit denen ihr Hochmt zugrunde ging, das war es, worüber sich nicht mehr sprechen ließ."
Abschließend beschreibt Durs Grünbein die Position des Dichters zwischen kollektiver und individueller Erinnerung, auch zwischen Vergangenheit und Zukunft: "Wir bemühen uns um eine Photosynthese der Worte und der Bilder. Die Worte arbeiten an der Überlieferung, die Bilder erreichen uns immer aus einer kleinen Zukunft."
Durs Grünbein: "Oxford Lectures. Jenseits der Literatur."
Suhrkamp Verlag, Berlin. 168 Seiten, 24 Euro.