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Durs Grünbein
Wiederauferstandene Kindheit

In seinem Buch "Die Jahre im Zoo" zeigt sich Durs Grünbein von der autobiografischen Seite. Der Dichter erinnert sich darin an seine Kindheit in der Gartenbaukolonie Hellerau bei Dresden. Eine Schlüsselfunktion spielen dabei zwei Träume. Doch entscheidend für den Weg ins Leben ist der Großvater.

Von Michael Opitz |
    Porträt von Durs Grünbein, Schriftsteller, Autor und Essayist
    Durs Grünbein ist in der Gartenstadt Hellerau im Norden Dresden aufgewachsen. (picture alliance / dpa/ Erwin Elsner)
    "Mit der Verlässlichkeit von Erinnerungen ist es, wie jeder aus Erfahrung weiß, nicht weit her. Dies zumindest haben Materie und Gedächtnis gemeinsam, dass sie ganze Welten verschlingen können, ohne dass die Oberfläche der Tage auch nur die leiseste Kräuselung zeigt. Tatsächlich können, so wie Gesichter, Stadtviertel, Straßenszenen im Klick einer Pupille verschwinden, ganze Lebensphasen, und die zugehörigen Schauplätze und Gefühlslagen fortgewischt werden, als hätte sie nie existiert."
    Mit diesen Sätzen beginnt das autobiografische Erinnerungsbuch "Die Jahre im Zoo", mit dem sich Durs Grünbein an die Orte der Kindheit begibt, um sich dort umzusehen, wo er einst aufgewachsen ist. Für diese Erinnerungsfahrt braucht es eine Rückfahrkarte, denn er will ja zurück zum Ursprung, während sich doch das eigentliche Leben in die entgegengesetzte Richtung fortbewegt. Noch einmal wird das vergangene Leben abgefahren. Dass eine solche Fahrt in die eigene Vergangenheit in einem Zug möglich wäre, wobei beim Blick aus dem Fenster das schön geordnete Leben vorbeizieht, diese Vorstellung einer Rückschau hat durchaus etwas Verlockendes. Aber Reisen in die eigene Kindheit sind beschwerlich, diese Erfahrung hat Durs Grünbein gemacht. Wer dahin zurück will, wo er einst hergekommen ist, kommt selten schnell und schon gar nicht kontinuierlich voran. Das Gedächtnis erweist sich auf solchen Fahrten als ein launischer Reisebegleiter, der häufig zurückhaltend ist, wenn er vergangene Geschichten liefern soll.
    "Eigentlich handelt dieses Buch von der Kindheit in einem hier und da ganz prinzipiellen Sinne: Was ist Kindheit? Was passiert da? Und was sind vielleicht die frühesten Erinnerungen und um welche Grunderlebnisse ranken sich dann die eigentlichen Erinnerungen? Da gibt es immer so Erinnerungskerne, meinetwegen einen Albtraum, oder eine Prügelei, eine Ohrfeige, oder der erste Tod eines Mitschülers und von diesen Sachen geht das aus. Das ist mir eigentlich das Wichtigste. Und dann kommt so nach und nach ein Raum in den Blick: Wo findet das statt, etwas außerhalb von Dresden, ich bin da in der Gartenstadt Hellerau großgeworden, im Norden von Dresden und da weitete es sich gewissermaßen zu einem Panorama einer solchen Siedlung."
    Ein wiederkehrender Traum, in dem sich das Panorama so deutlich weitet, das nicht mehr die Zimmerdecke, sondern der Sternenhimmel zu sehen ist, steht am Anfang des Buches, das von zwei Träumen gerahmt wird.
    "Die sind sehr entscheidend. Der eine Traum handelt davon, wie eines Tages das Dach des Hauses abgedeckt ist und der Blick auf den Himmel nachts frei wird und plötzlich der Himmel, das All in das Zimmer hineinragt. Und der zweite entscheidende Traum ist eine Vision, wie dieses Elternhaus auf der Autobahn davonfährt, sozusagen auf einem Tieflader draufgepackt davonfährt und einfach weg ist. Ich da nur noch vor so einer Baugrube stehe und es riecht nach Gras und Erde und es ist aber alles weg. Das sind entscheidende Träume. Der eine, der einem signalisiert: Die Dinge werden nie so bleiben, wie sie jetzt gerade sind, und jede Idylle wird verändert werden, bzw, es wird am Ende auch alles verschwunden sein, ganz klar. Und dann auf der anderen Seite diese eigene Kleinheit im All, dieses Geringe, was man doch selber nur ist. Das sind entscheidende Kindheitsschocks gewesen und davon durchzieht dann vieles das Buch."
    Die Sogkraft des Unbekannten
    Wie der kleine Häwelmann liegt der Erzähler in seinem Bett, aber noch bevor er sich auf die große Fahrt begibt, bekommt er eine Vorstellung von der Größe des Universums, als er den Sternenhimmel sieht, nachdem in seinem Traum plötzlich das Dach verschwunden ist und er im Freien liegt. Was er sieht, ist einerseits verlockend und weckt seine Neugier – das Unbekannte hat eine enorme Sogkraft. Doch zaghaft meldet sich auch eine innere Stimme, die fragt, ob es wirklich hinaus in die dunkle Welt gehen muss.
    "Kaum war es dunkel und ich lag in meinem Bett ausgestreckt, da begann sich der Raum nach oben zu weiten und um mich zu drehen. Aus großer Höhe sah ich mich selbst, winzig klein, da unten in meinem geblümten Schlafanzug liegen. Über der Kammer, die nur eine Schiebetür mit Milchglaseinsatz vom Schlafraum der Eltern trennte, der uns tags als Wohnzimmer diente, war das Haus aufgebrochen. Die Decke hatte sich wie die Himmelsluke eines Observatoriums zur Nacht hin geöffnet. Zwischen mir und dem Weltall gab es kein Dach mehr, und über den Kleiderschränken begann nun das Firmament. Ich war dem feuchtkalten, unfassbar schwarzen Außenraum ausgesetzt und hatte das Gefühl, mit großer Kraft nach draußen gezogen zu werden."
    Zwei Träume haben für Durs Grünbeins Buch "Die Jahre im Zoo" eine Schlüsselfunktion, doch entscheidend für den Weg ins Leben ist der Großvater, der seinen Enkel an die Hand nimmt und sich mit ihm auf den Weg von Dresden-Cotta in die Friedrichstadt macht. Der Gang zur alten Arbeitsstätte des Großvaters, der auf dem Dresdner Schlachthof beschäftigt war, ist für den Enkel ein Spaziergang, aber der Leser wird so hineingeführt in die Historie.
    "Es gibt so mehrere Unorte. Ein Unort ist der Dresdner Schlachthof und da hat es mich früh hingezogen oder ich bin hin geführt worden, weil der Großvater ein Leben lang auf dem Schlachthof arbeitete. Insofern ist es eben auch ein historisches Erinnerungswerk, zumindest punktuell. Der Ansatz ist zunächst, die Kindheit zu erzählen, aber die wird dabei immer weiter historisiert, notwendigerweise. Das suche ich mir nicht aus, sondern das hat eben zu tun mit dem Ort, an dem das stattfand. Man kann jede Kindheit historisieren, nur dort, wo ich herkomme, war schon viel Geschichte präsent."
    Annäherung in kleinen Schritten
    Die Annäherung an diesen Unort erfolgt in kleinen Schritten. Es ist das Schrittmaß des Kindes, das der Autor dem Erinnern zugrunde legt. Wenn das Ausflugsziel erreicht ist, dann spricht der Großvater noch mit dem Pförtner, bevor er sein Deputatsfleich in Empfang nimmt. Grauenerregendes ist nur zu ahnen, aber nicht zu sehen. Im Hintergrund stehen die Metzger mit den Bolzenschussgeräten und wetzen ihre Messer. Der Großvater führt den Enkel nur bis zu dieser Grenze, die erst vom sich erinnernden Autor überschritten wird.
    "Im Grunde wäre es gut für dieses Buch, so ein kleines Glossar zu haben. Dann hätte man eben das Stichwort Garten, das Stichwort Kindheit, das Stichwort Autobahn, das Stichwort neue Architektur oder auch neue Literatur, Prosa des Expressionismus – die mich lange interessiert hat. Und dann würde man merken, dass diese ganzen Sachen sich so nach und nach vernetzen. Es kehren Motive wieder – das habe ich vorher nicht direkt gesucht, aber dann wurde mir das klar. Das sie verschieden angelegten Einzelstücke erst in einem Zusammenhang aufgehen. Und es gibt dann so kleine Schlüsselpassagen, Schlüsseltexte gar, wie das Kaleidoskop, das ist ein Gedicht, das den Gegenstand beschreibt, ihn aber sozusagen als Erinnerungsprinzip herausarbeitet. Deshalb habe ich für mich dann auch von kaleidoskopischer Prosa gesprochen."
    Ein Motto, das dem Buch nicht vorangestellt worden ist, aber das die Entstehung dieser Erinnerungsprosa begleitet hat, müsste ihm eigentlich nachträglich vorangestellt werden. Es lautet:
    "Die Kindheit ist aus, das Kind steckt noch drin, geht durch den Körper und weiß nicht wohin."
    Durs Grünbein: "Die Jahre im Zoo". Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 398 Seiten, 24,95 Euro.