Es war ein verzweifelter Aufruf, mit dem sich Jean-Denis Lejeune zehn Tage nach dem Verschwinden seiner achtjährigen Tochter Julie und deren gleichaltrigen Freundin Melissa Russo an ihre Entführer wandte:
"Wer Sie auch sind, wo Sie auch sein mögen: Wir beknien Sie, uns unsere Kinder zurückzugeben."
Es sollte noch über ein Jahr dauern, bis die belgischen Behörden am 13. August 1996 Marc Dutroux, seine Frau Michelle Martin und einen weiteren Komplizen verhafteten. Die beiden achtjährigen Mädchen waren da bereits tot, verhungert in Dutroux Kellerverlies.
Mindestens sechs Mädchen wurden von Dutroux in den 90er-Jahren entführt und missbraucht. Zwei von ihnen konnten nach dessen Verhaftung aus einem Keller in der Nähe von Charleroi befreit werden, die anderen überlebten das Martyrium nicht. Dass Dutroux trotz vieler Hinweise nicht schon eher ins Visier der Fahnder geriet, lag auch am Chaos zwischen den Ermittlungsbehörden, konstatiert rückblickend der damalige Justizminister Stefaan de Clerck:
"Mit dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss hat man feststellen müssen, dass es überall Probleme gab: bei der Justiz und bei der Polizei. Die Behörden lieferten keine Informationen. Es wurden enorm viele Fehler begangen. Das Misstrauen der Bevölkerung und die geäußerte Kritik waren berechtigt."
Affäre Dutroux führte zu einer Staatskrise
Von Anfang an stand der Verdacht im Raum, dass Dutroux und seine Komplizen geschützt wurden. Dutroux selbst gab immer wieder an, nur ein kleiner Teil eines ganzen Pädophilen-Netzwerkes gewesen zu sein, zu dem auch einflussreiche Personen aus Politik und Wirtschaft gehört hätten. Bewiesen werden konnte die Existenz solch eines Netzwerkes nie. Die Affäre Dutroux führte so jedoch zu einer Staatskrise. Der Polizei- und Justizapparat wurde grundlegend reformiert. Stefaan de Clerck erinnert sich:
"Es gab eine Konkurrenz unter den Polizeidiensten, einen richtigen Wettbewerb. Der Eine sprach nicht mit dem Anderen, man behielt Informationen für sich. Deshalb hat man dann beschlossen, die Polizeidienste zu integrieren, die Kriminalpolizei, die lokale Polizei und die Gendarmerie."
Hinzu kam, dass ein kalter, weltfremder Justizapparat die Opfer und deren Angehörige im Stich ließ und die Familien so gut wie keine Auskunft über Suche nach ihren Töchtern erhielten. Deshalb wurde unter anderem eine Sonderabteilung für vermisste Personen bei der belgischen Bundespolizei eingerichtet
"Ich erinnere daran, dass die Polizeireform ja gar nicht aus dem Untersuchungsausschuss entsprang, sondern erst nach der Flucht von Dutroux losging. Es brauchte also noch einen verheerenden Schock, um mit der Reform der Polizeikräfte zu beginnen."
Wendet Christian De Valkeneer ein, Generalstaatsanwalt von Lüttich. Dieser Schock bestand darin, dass Dutroux 1998 einem Bewacher die Dienstpistole entreißen und fliehen konnte. Nach wenigen Stunden wurde er wieder festgenommen. Der Justizminister Stefaan De Clerck trat daraufhin zurück.
Viele zweifeln, dass Dutroux ein Einzeltäter war
Noch heute zweifeln viele an der These des Einzeltäters Dutroux. So auch Marc Verwilghen, der zwei Untersuchungsausschüsse leitete und von 1999 bis 2003 belgischer Justizminister war. Im Interview mit der Tageszeitung "Die Welt" beklagte er erst vor wenigen Tagen, bei seinen Ermittlungen gestoppt worden zu sein – Namen nennt er nicht, fügt aber hinzu: Nichts in dem Fall sei vollständig aufgeklärt.
Bis heute wirkt die Dutroux-Affäre noch nach. Die begonnene Justizreform ist immer noch nicht vollständig umgesetzt. Und spätestens mit den Anschlägen von Brüssel wurde wieder Kritik an Polizei und Justiz laut: Behörden arbeiteten noch immer oft nebeneinander statt miteinander. Wichtige Hinweise ausländischer Geheimdienste seien nicht beachtet worden.
Im Jahr 2004 wurde Marc Dutroux zu lebenslanger Haft verurteilt. Sein Antrag auf vorzeitige Haftentlassung und Verbüßung der Strafe mit einer elektronischen Fußfessel wurde 2013 abgelehnt.