Mittlerweile verwenden immer mehr und mehr Menschen auf den Straßen, in Supermärkten, am Arbeitsplatz oder in Bussen Schutzmasken. Das wird begleitet von einer Debatte über eine generelle Maskenpflicht in bestimmten Bereichen. Immer mehr Länder haben sie schon eingeführt beziehungsweise führen sie gerade ein. Doch nicht nur über Masken, sondern auch über die weitere Öffnung wird diskutiert.
Armin Nassehi ist Lehrstuhlinhaber des Bereichs Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Im Deutschlandfunk spricht er auch darüber, warum eine zu frühe Rückkehr zur Normalität schwierig werden könnte.
Philipp May: Tragen Sie Mundschutz?
Armin Nassehi: Im Moment nicht, sonst würden Sie mich nicht hören, aber draußen im Laden tatsächlich seit heute ja.
May: Warum tun sich so viele Deutsche immer noch damit so schwer?
Nassehi: Ja, also ich meine, die Frage ist ja, wer sich eigentlich womit schwer tut. Wir haben ja eine lange Diskussion hinter uns, ob diese Masken sinnvoll sind oder nicht sinnvoll sind. Sie sind natürlich auch ein Symbol für die Krise. Es gibt ja nicht nur einen geografischen Flickenteppich, sondern durchaus auch einen Flickenteppich, was die Diagnosen angeht und was jetzt die Maßnahmen angeht der Normalisierung – oder wie immer man das nennen soll. Da gibt es durchaus eine große Verunsicherung, mit Recht, weil wir natürlich im Moment in der klassischen Situation sind, die wir an den Universitäten in Hauptseminaren seit Jahren lehren und abstrakt gelehrt haben und jetzt konkret sehen: Entscheidungen unter Unsicherheit. All diese Entscheidungen sind tatsächlich zwar eindeutige Entscheidungen, aber die Hintergründe sind nicht so eindeutig, und das ist natürlich eine schwierige Situation.
May: Wäre in dieser Unsicherheit möglicherweise eine Pflicht sinnvoll, einfach auch, um den Menschen diese Entscheidung dann abzunehmen?
Nassehi: Ja, natürlich. Also eine Pflicht ist insofern sinnvoll, als man sozusagen nicht mehr selber entscheiden muss. Wir haben das Gleiche ja bei der Einführung des Shutdowns oder Lockdowns oder wie auch immer man das nennen will auch gehabt. Da gab es ja am Anfang auch eher Appelle, man solle Distanzregeln wahren und Ähnliches. Das hat in dieser Form nicht geklappt. Als das eine verbindliche Norm war, dann haben die Leute sich tatsächlich daran gehalten. Aber das ist ja tatsächlich jetzt eine der kleineren Maßnahmen. Ich glaube nicht, dass sich die gesamte Krise jetzt mithilfe solcher Masken lösen lässt. Aber es ist interessant, dass wir uns im Moment so stark darauf beziehen, weil das etwas ist, bei dem man ja relativ eindeutige Sätze sagen kann. Bei anderen Zusammenhängen ist das ja nicht so einfach.
May: Dann kommen wir zu den größeren Maßnahmen. Wir haben jetzt schon seit über einem Monat diesen nennen wir ihn mal Lockdown in einer sehr unsicheren Situation, das Leben ist massiv eingeschränkt. Was meinen Sie, wie halten sich die Menschen bisher in dieser eigentlich unhaltbaren Situation?
"Die Lockerungsmaßnahmen sind viel, viel schwieriger"
Nassehi: Ja, sie halten sich eigentlich erstaunlich gut. Wir merken ja, dass es eigentlich relativ wenig Protest und wenig Kritik dagegen gab. Es geht natürlich schon auch um etwas Wichtiges. Also wir wissen, dass niemand irgendwelche willkürlichen Maßnahmen, willkürliche Herrschaft anwendet, sondern es gibt ja, gab ja gute Gründe, diese Dinge jetzt zu tun. Die Lockerungsmaßnahmen sind viel, viel schwieriger, weil man da nicht so eindeutig, man könnte sagen, binär entscheiden kann, entweder wir machen es oder wir machen es nicht, sondern hier ist jetzt tatsächlich die Frage, mit welcher Geschwindigkeit geht man raus aus den Maßnahmen? In welchen Bereichen fängt man tatsächlich an? Wie fängt man eigentlich auf, wenn es wieder zu einem Anstieg der Infektionszahlen kommen wird? Können wir uns ökonomisch eigentlich einen zweiten Shutdown leisten? Ich glaube, dass das mit die entscheidende Frage ist. Die Belastungssituationen für Familien sind riesengroß, das ist klar. Aber es ist auch nicht nur ein Kollateralschaden, wie das bisweilen heißt, sondern ein sehr großer Schaden im Alltagsleben. Aber wie man damit umgehen soll, dafür gibt es keine Eindeutigkeit.
May: Also sehen Sie diese Öffnungs-, Diskussionsorgie, die die Kanzlerin angesprochen hat, die sehen Sie nicht, sondern das ist jetzt im Prinzip die Diskussion, die wir eben auch führen müssen, weil es eine Abwägungsentscheidung ist?
Nassehi: Natürlich muss diese Diskussion geführt werden, aber ich habe durchaus Verständnis für die Formulierung der Kanzlerin, weil sie auf etwas Interessantes hinweist, nämlich: Seit diese Diskussion geführt wird, bekommt sie eine Art Eigendynamik. Wir merken das jetzt schon. Es gibt jetzt noch keine sozialwissenschaftlichen Daten dafür, aber durchaus einige Evidenz, dass, seit diese Diskussion geführt wird, die Menschen sich auch freier draußen bewegen. Die Fußgängerzonen sind natürlich etwas voller, man sieht, na ja, wir diskutieren jetzt über so etwas wie Öffnungen, also werden wir uns womöglich selbst nicht mehr ganz so vorsichtig verhalten. Das ist gar nicht so kognitiv repräsentiert, sondern das ist jetzt eine Atmosphäre, in der die Dinge eher in Richtung Öffnung, als in Richtung Schließung gehen. Und das wirkt sich natürlich auf das habitualisierte Verhalten von Menschen aus. Und deshalb habe ich durchaus Verständnis für diese Formulierung, weil womöglich Erwartungen geweckt werden, die in dieser Form nicht erfüllt werden können. Und jetzt haben wir natürlich auch noch das Problem: Welches sind eigentlich die, die erfüllt werden sollen? Das ist ja in der Tat noch ein strittiges Problem.
"Unglaublich schwierig, politisch die richtige Entscheidung zu treffen"
May: Also aus Sicht des Soziologen ein völlig nachvollziehbares Verhalten, dass jetzt Menschen wieder sich vermehrt, ich benutze jetzt mal salopp die Formulierung, zusammenrotten. Macht Ihnen das Sorgen?
Nassehi: Wenn ich ganz ehrlich bin, macht mir das durchaus Sorgen. Ich glaube, dass wir womöglich zu früh in manche dieser Prozesse hineingehen. Ich meine, ich bin jetzt ein Soziologe und kein Virologe, wenn man sich aber ein bisschen umhört und umguckt, dann stellt man schon fest, dass also sehr viele kompetente Expertinnen und Experten uns tatsächlich raten, zu sagen, vielleicht brauchen wir tatsächlich noch drei Wochen, bis man das erreichen kann, was man braucht, nämlich, dass man Neuinfektionen tatsächlich rückverfolgen kann auf den Punkt, wo sie stattgefunden haben, um dann gezielt gegen die Dinge vorzugehen. Im Moment machen wir ja eine Art von flächendeckendem Vorgehen, auch wenn es in unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche Geschwindigkeiten gibt. Ich weiß nicht, ob das wirklich der richtige Weg ist, das jetzt so schnell zu machen. Aber auch das gehört zur Eigendynamik, übrigens auch zur politischen Eigendynamik der Geschichte. Es ist im Moment unglaublich schwierig, politisch die richtige Entscheidung zu treffen. Es mehren sich ja schon die Stimmen, die sagen, na ja, wir haben doch festgestellt, dass die Kliniken nicht überlastet sind, vielleicht hätte es dieses Shutdowns gar nicht bedurft – was sicherlich nicht der Fall ist. Wir Soziologen nennen das das Präventionsparadox: Also man sieht die Schäden nicht, die ausgeblieben sind. Und womöglich steht uns das noch mal bevor. Es ist in der Tat, ich wiederhole noch mal den Satz, eine schwierige Situation.
May: Ja. Sieht man ja auch an der Kommunikation. Gerade, wenn wir auf die Kommunikation der Kanzlerin schauen vielleicht: Da war zunächst die Rede davon, wir sind ja jetzt alle gefährliche Halbwissen-Virologie-Experten, dass die Verdoppelungszeit der entdeckten Neuansteckungen, dass man die strecken muss auf über zehn Tage, um über Lockerungen diskutieren können. Dann war das geschafft, mittlerweile sind wir bei weit über 20, dann hieß es auf einmal, der Reproduktionswert, der müsse konstant unter eins liegen, auch das ist der Fall. Und jetzt, wie gesagt, kritisiert die Kanzlerin weitere Diskussionen mit diesen Wortneuschöpfungen. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass die Bevölkerung ungeduldig wird?
Nassehi: Ja, es ist nachvollziehbar. Und es hängt auch damit zusammen, dass wir große Beobachtungsprobleme bei der Beobachtung dieser Pandemie haben. Also für einen Wissenschaftssoziologen ist das unglaublich interessant, zu sehen: Was beobachten wir eigentlich? Wir hatten zuerst mal flatten the curve, die curve ist inzwischen etwas geflattet, dann haben wir sozusagen ein neues Maß, das simuliert, als hätte man eine Objektivität, die Verdoppelungszahl ist ja nur die Verdoppelungszahl unter denen, die tatsächlich getestet sind, und nicht unter denen, die tatsächlich krank sind beziehungsweise infiziert sind. Und dieser R-Wert, der ergibt sich sozusagen auch nicht aus einer Grundgesamtheit, sondern aus dem, was an statistischem Material zur Verfügung steht. Das heißt, wir haben es eigentlich mit Artefakten zu tun, mit denen wir viel zu viel Objektivität zu messen glauben, als wir es eigentlich können. Und daraus kann man zwei Konsequenzen ziehen. Die eine ist, wir wissen es nicht, wir müssen also irgendwas ausprobieren, das wäre Trial-and-Error, das andere wäre, womöglich etwas vorsichtiger zu sein. Ich wiederhole noch mal, was ich am Anfang des Gesprächs gesagt habe: Ein zweites Mal tatsächlich wieder schärfer zu werden, also schärfer zu werden im Sinne von Lockdown- und Shutdown-Maßnahmen, das wäre sowohl ökonomisch als auch im Hinblick auf den sozialen Frieden als auch im Hinblick auf die Folgen, die das für die Familien hat, sicherlich eine Katastrophe. Insofern würde ich sagen, da wir diese objektivierbaren Daten gar nicht haben, muss man hier wahrscheinlich eher, sagen wir mal, nicht mit dem Worst Case, aber mit einer eher vorsichtigen Strategie da rangehen. Das ist jetzt eine Aussage, die ich auch nicht objektivieren kann, die eine schwierige politische Entscheidung ist, die aber im Moment vor einer Dynamik steht, die man sehr schwer kontrollieren kann.
May: Und gleichzeitig bekommen wir ja immer mehr eine Ahnung, wie lange das Ganze noch dauern kann. Wir sehen, dass vermehrt Veranstaltungen abgesagt werden, die in einer einigermaßen entfernten Zukunft liegen, zum Beispiel das Oktoberfest bei Ihnen in München. Irgendwann werden wir die Diskussion möglicherweise hier in Köln über den Karneval führen. Das ist ja alles sehr nachvollziehbar. Aber was ist, wenn Kitas und Grundschulen, nehmen wir mal gerade das, was ja zentral ist für die Organisierbarkeit von Familien, wenn die geschlossen bleiben mit allen Verwerfungen, die das nach sich zieht, über Monate, möglicherweise über Jahre?
Nassehi: Ja, das ist natürlich ein schwieriges Thema, weil wenn ich jetzt sagen würde, die Kitas müssen zu bleiben, dann ist es natürlich klar, dass die Zornesröte bei den Leuten stark wird im Gesicht, die sagen: Das ist ein Bereich, der unser Leben tatsächlich unglaublich schwierig macht. Ganz abgesehen davon, dass die Kinder ja nicht nur aus Spaß in die Kita gehen, sondern durchaus in vielen Bereichen der Gesellschaft es außerordentlich wichtig ist, dass es solche Betreuungsmaßnahmen auch für die Kinder gibt. Das meine ich ja mit einem gestuften Verfahren. Ich war ja selber Mitglied in der Leopoldina-Gruppe, die die Empfehlungen ausgearbeitet hat, also ich bin auch Mitglied im Corona-Expertenrat von Herrn Laschet, wo wir über solche Dinge nachdenken. Und sagen, man muss womöglich vorsichtig sein und sagen, an welchen Bereichen muss man anfangen? Kitas werden das womöglich sein, nachdem wir auch medizinisch wissen, dass die Ansteckungsraten dort wahrscheinlich nicht so groß sein werden. Ob es die Schulen im Ganzen sein sollen, das ist die Frage. Und welche Größe von Geschäften jetzt im Moment nötig sind, ist auch eine Frage. Und dann kommen Ökonomen und sagen, da geht zum Teil eine Struktur verloren, die man auf keinen Fall wiederherstellen kann. Das ist sozusagen das, was wir im Moment erleben, nämlich Zielkonflikte, bei denen die unterschiedlichen Parteien ja jeweils recht haben. Und deshalb, jetzt wiederhole ich noch mal den Satz, es ist schon bald langweilig, ist es eine schwierige Situation. Und in dieser schwierigen Situation müssen wir natürlich diese Folgen diskutieren. Ich würde nur ein bisschen davor warnen, dass die ganze Sache eine Eigendynamik bekommt, weil all diejenigen, die jetzt Vorsicht sagen, so aussehen, als würden sie die Bürgerrechte einschränken wollen oder hätten kein Verständnis für die Schwierigkeiten, in denen Familien oder andere Akteure in der Gesellschaft stecken.
May: Und weil Sie den Satz jetzt wiederholt haben, beende ich jetzt auch hiermit das Gespräch, nein, hätte ich aber auch so machen müssen, weil die Zeit drängt.
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