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E. L. Doctorow Buch "In Andrews Kopf"
Zaubernde Täuscher und Kopf voller Stimmen

Der letzte Roman von E. L. Doctorow verrät mehr vom Wesen des Schriftstellers als manche andere. "In Andrews Kopf" handelt von einem Neurowissenschaftler, der sich von seinem eigenen Gehirn gefangen fühlt - in seinem Kopf schwirren viele unterschiedliche Stimmen herum.

Von Sacha Verna |
    Der Schriftsteller E.L. Doctorow bei einer Signierstunde in Clearwater, Florida, im Jahr 2008.
    Der Schriftsteller E. L. Doctorow. (imago )
    E. L. Doctorow hat das Schreiben einmal als gesellschaftlich akzeptable Form der Schizophrenie bezeichnet. Demnach war er als Autor von zwölf Romanen, drei Erzählungsbänden, einem Theaterstück und zahlreichen Essays wohl ziemlich schizophren. Sein letztes Werk jedenfalls wirkt wie der verschmitzte Abschiedsgruss eines Kopfes voller Stimmen. Denn der Schauplatz von "In Andrews Kopf" ist ein Kopf voller Stimmen.
    "Mein Verstand ist von Visionen, von Träumen durchsetzt und von den Handlungen und Worten von Menschen, die ich nicht kenne. Ich höre lautlose Stimmen, Phantome ragen aus meinem Schlaf und an der Wand auf, sie bleiben dort hängen, zucken in ihrer Qual, winden sich in erkennbaren Verdrehungen des Schmerzes und schreien wortlos nach meiner Hilfe."
    Neben diesen gemarterten Wesen treffen sich in Andrews Kopf Andrew selber und ein Ich, dazu eine Figur, die das Ich als Doc anspricht und die ihm manchmal Fragen stellt, meistens aber zuhört. Andrew ist Neurowissenschaftler. Genauer:
    "Ein abnorm depressiver neurowissenschaftlicher Tollpatsch."
    Und als solcher weiss er eine Menge über das Gehirn und seine eigene Tollpatschigkeit. Der Fluch seines Lebens besteht darin, dass er anderen Unglück bringt. Vor seinem Gegenüber, von dem man annimmt, dass er ein Psychiater ist, klagt er sich wieder und wieder seiner angeblich ansteckenden Pechvogeligkeit an. Schon als Kind habe er Verkehrsunfälle verursacht. Ein Berufssoldat kurz vor der Rente sei seinetwegen degradiert worden. Einmal ...
    - "...war ich auf einer Uni-Cocktailparty und hielt in dem überfüllten Raum überschwängliche Reden, wedelte mit den Armen, um irgendeine Aussage zu unterstreichen. Mein Handrücken krachte ans Kinn einer Professorin rechts neben mir. Sie schrie auf und sank zu Boden. Alle Gespräche verstummten. Ich rannte in die Küche des Gastgebers, tastete im Gefrierfach des Kühlschranks nach Eiswürfeln und hob dabei ein paar Literflaschen Wodka hoch und hielt sie in der Hand. Der Mann der Professorin war mir schreiend nachgelaufen. Und als ich mich umdrehte, war ich so erschrocken, dass ich die Wodkaflaschen fallen ließ und ihm den Fuß brach. In nur einer Minute hatte ich eine ganze Familie platt gemacht. Ich war ein junger Biologiestudent in Yale. Einmal führten wir im Labor ein Experiment mit Seeanemonen durch ..."
    - "Aufhören, Andrew."
    - "Womit? Womit soll ich aufhören?"
    Andrew kann nicht aufhören. Weder mit dem Aufzählen der tragikomischen Episoden, die sein Dasein bestimmt haben, noch mit Spekulationen darüber, wer, wenn nicht er, für den Schlamassel verantwortlich ist.
    Seine Leinwände bilden die Vereinigten Staaten ab
    Von E. L. Doctorow ist man literarische Epochengemälde gewohnt. Seine Leinwand bilden die Vereinigten Staaten. Und die bevölkert er mit einer Vielzahl fiktiver und historischer Gestalten. In "Ragtime" lässt Doctorow auf diese Weise das New York um die vorletzte Jahrhundertwende wiederauferstehen, mitsamt Sigmund Freud und Carl Jung, die zusammen im Vergnügungspark auf Coney Island eine Bootsfahrt durch den Liebestunnel unternehmen. In "Billy Bathgate" beschwört Doctorow die Weltwirtschaftskrise herauf mit ihren Gewinnern und Verlierern in der Bronx und an der Park Avenue. In "Der Marsch" sind es die Südstaaten zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges.
    "In Andrews Kopf" fehlt dieser Panoramablick. Andrew bohrt in seinem Inneren, um aus dem Drumherum schlau zu werden. Allerdings ohne sich von dieser Sinnsuche allzu viel zu versprechen.
    "Bewusstsein ist ohne Welt nicht möglich."
    Mit diesem Worten pflegte Andrew seine Studenten zu begrüßen.
    "Wenn Bewusstsein ohne Welt existiert, dann ist es nichts. Und wenn es die Welt braucht, um zu existieren, dann ist es immer noch nichts."
    Aus diesem Nichts heraus agiert E. L. Doctorows Protagonist. Die Frage, wie aus drei Pfund Gehirnmasse ein Bewusstsein entsteht, treibt Andrew um. Es ist sein Beruf, sich dafür zu interessieren, wie feuernde Synapsen, glühende Schaltkreise und Millionen von Neuronen etwas produzieren, das wir gerne Seele nennen. Aber mehr noch beschäftigt Andrew der Umstand, dass er im Verließ dieser Seele feststeckt. Er hält sein Gehirn für ein Gefängnis und sich selber für dessen Gefangenen.
    "Ich kann Ihnen von meinem Freund Andrew erzählen, dem Kognitionswissenschaftler. Es ist aber nicht schön. Er stand eines Abends mit einem Baby auf dem Arm vor der Tür seiner Exfrau Martha. Weil Briony, seine reizende junge Frau nach Martha, gestorben war."
    Ausschnitte aus seiner Biografie
    So beginnt Andrew sein Geständnis. Ohne sich um die Chronologie der Ereignisse oder um einleuchtende Zusammenhänge zu kümmern, präsentiert er im folgenden Ausschnitte aus seiner Biografie.
    Das Kind, das er an jenem verschneiten Winterabend seiner Ex-Frau Martha übergibt und danach nie wiedersieht, ist sein zweites. Sein erstes hat er umgebracht. Nicht absichtlich, natürlich. Er flößte dem kranken Baby eine falsch beschriftete Medizin ein. Das Baby starb und seine Ehe zerbrach. Die reizende junge Briony lernt er darauf an einem bedeutungslosen College im Westen kennen, wohin er vor Martha, vor sich selber und der Welt geflohen ist:
    "Am ersten Tag seines neurowissenschaftlichen Grundkurses wollte Andrew seinen Namen an die Tafel schreiben, aber dann brach die Kreide ab. "And-", weiter kam er nicht, und als er sich umdrehte, um das entschwundene Stück Kreide zu suchen, das an seinem Ohr vorbeigeflogen war, stieß er an sein Pult, und die darauf abgelegten Bücher rutschten auf den Boden hinunter. Er hörte studentisches Gelächter. Und dann erhob sich in diesem hellen, fluoreszierenden Seminarraum und durchs Fenster von den Bergen ringsum beobachtet, Briony von ihrem Stuhl in der ersten Reihe und sammelte die Bücher und das Kreidestück auf. Sie steckte nicht in Bluejeans wie die anderen, sie hatte ein langes, blassgelbes Trägerkleid an und die Joggingschuhe, die alle trugen. Über diese Kombination musste er lächeln. Das Mädchen war eine schlanke, weizenblonde Schönheit mit so heller Haut, als sei sie von Sonnenlicht durchdrungen."
    Briony ist auch Akrobatin und die Tochter von Akrobaten, kleinwüchsigen Zirkusartisten, denen sie ihren trotteligen Dozenten und baldigen Verlobten bei Gelegenheit vorstellt. Die beiden ziehen nach New York, haben ein Mädchen und schweben im siebten Himmel, bis Briony am Morgen des 11. September 2001 vom Joggen in der Gegend des World Trade Centers nicht mehr zurückkehrt. Das ist Apokalypse Nummer zwei in Andrews Leben. Die dritte kündigt sich in Gestalt des amerikanischen Präsidenten an. George W. Bush, unverwechselbar, obgleich in diesem Roman nie beim Namen genannt, steht eines Tages in einem Klassenzimmer der heruntergekommenen High School in Washington D.C., an der Andrew seit Brionys Tod als Hilfslehrer unterrichtet:
    - "Mich hatte man ans Fenster weggeschubst. Ich stand mit dem Rücken zur Sonne und hoffte, dass er mich nicht erkennen würde."
    - "Warum sollte er Sie erkennen?"
    - "Warum sollte er nicht? Wir waren mal Zimmergenossen in Yale."
    - "College-Zimmergenossen?"
    - "Nun ja, Yale ist ein College, Doc. Wo ich, wie es der Zufall will, ein paarmal den Kopf für ihn hingehalten habe."
    Der Präsident erkennt Andrew und lässt ihn eine Woche später ins Weiße Haus chauffieren:
    "Sie wollen mich zum Direktor des Amtes für neurologische Forschung des Weißen Hauses ernennen. Von so einem Amt hatte ich noch nie gehört, und das aus gutem Grund: Es war gerade erst erfunden worden."
    Für seine nicht näher definierte Arbeit wird Andrew ein Besenkammerbüro im Keller des Weißen Hauses zugewiesen, wo die Bush-Leute kontrollieren können, dass er nichts über die jugendlichen Verfehlungen des obersten Befehlshabers ausplaudert.
    Täuschungsmanöver in vielen Variationen
    "In Andrews Kopf" ist ein Täuschungsmanöver in Variationen. Es wird zu einem Kasperletheater und damit zu einer gelinden Enttäuschung. In den letzten der elf Kapitel dieses Romans entwirft E. L. Doctorow derart bizarre Szenarien, dass nicht einmal der Handstand überrascht, den der Held im Oval Office vollführt. Selbst dieser Handstand verfügt freilich über eine gewisse Folgerichtigkeit. Immerhin war Andrews geliebte Briony Akrobatin. Und was Doctorows Ausflug ins Bush-Land betrifft: die Administration von George W. Bush machte sich in den Augen vieler der Täuschung schuldig, als sie mit dem Argument, Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, einen Krieg losbrach. Doctorow bleibt also lediglich bei seinem Motiv.
    Der offensichtlichste Täuscher in Andrews Kopf ist Andrew selber:
    "Dessen wohlmeinende, sanfte, freundlich zugewandte, charmante Unfähigkeit ist der Modus Operandi der furchtbarsten Killer."
    Andrew ist ein Mörder mit der Maske eines Tölpels, der weder Mörder noch Tölpel sein will und damit sogar zu einem doppelten Täuscher wird, mit einer länger werdenden Liste von Opfern. Darüber klärt ihn der Mann seiner gewesenen Gemahlin Martha bei einem Bier auf. Andrew stimmt ihm sofort zu. Marthas Mann ist Opernsänger und hat seinerseits eine Vorliebe für die Rolle des Boris Godunov. Im Werk gleichen Titels von Modest Mussorgski geht es um Täuschungen untersten Niveaus auf höchster Ebene.
    Ein weiterer wesentlicher Täuscher in Andrews Kopf ist das Gehirn.
    "Die Arbeit des Gehirns besteht darin, etwas vorzutäuschen."
    Darüber braucht Andrew niemand zu aufzuklären, das erklärt er selber immer wieder. Dass wir und die Welt nur in unserem Hirn und in der Übersetzung unseres Hirns existieren, ist inzwischen selbst Laien bekannt.
    "Das Gehirn kann sogar vortäuschen, nicht es selbst zu sein."
    Kein Wunder hat jemand klaustrophobische Anfälle, der wie Andrew an nichts als an sich selber beim Denken zu denken vermag und sich dabei ständig fragt:
    "Wie kann ich über mein Gehirn nachdenken, wenn dieses Nachdenken in meinem Gehirn geschieht? Gibt dieses Gehirn also vor, es wäre ich und würde über es nachdenken?"
    Die Schlussfolgerung ist zwingend:
    "Heutzutage kann ich niemandem trauen, am wenigsten mir selbst."
    Zwingend sind daher auch die Zweifel an Andrews Erinnerungen. Sein mysteriöser Zuhörer müsste gar nicht erst drängen:
    "Ist das wahr?"
    Erinnerungen sind nie wahr. Sie sind das unzuverlässigste Produkt des Täuschers namens Gehirn überhaupt. Gewiss, E. L. Doctorow bedient sich in "In Andrews Kopf" reichlich kognitionswissenschaftlicher Gemeinplätze. Aber schließlich ist er in diesem Spiel der Meistertäuscher. Denn was ist die Literatur anderes als Täuschung? Und was ist die Aufgabe des Schriftstellers, wenn nicht das Täuschen? Auch Literatur ist nie wahr. Wahr ist nur, was der Schriftsteller uns glauben macht.
    Man hat E. L. Doctorow oft als Autor historischer Romane bezeichnet. Gegen diese Kategorisierung hat er sich immer gewehrt. Seiner Meinung nach gibt es keine "historischen" Romane. Die Vergangenheit werde stets durch die Brille der Gegenwart betrachtet, so Doctorow, und sei damit Teil dieser Gegenwart. Jede Generation schreibe die Geschichte neu. In Doctorows Universum gibt es deshalb auch keine wahre Geschichte. Jedenfalls ist diese Geschichte nicht wahrer, als es die Geschichten sind, die Autoren wie er erzählen.
    Nichts lässt sich verorten
    Niemand wird E. L. Doctorow im Zusammenhang mit "In Andrews Kopf" der Geschichtsklitterung bezichtigen. Das tat Doctorows Kollege John Updike gelegentlich, der ihm vorwarf, Geschichte in einen schwerelosen Raum zu verwandeln und mit hilflosen Marionetten zu füllen. Zwar spielt mit dem 11. September auch in diesem Roman ein historisches Ereignis eine Rolle, und es treten darin einigermaßen hilflos wirkende Marionetten auf. Allerdings waren Karikaturen von George W. Bush und den Seinen schon nicht mehr lustig, als die Vorlagen dafür noch im Rosengarten für Fotografen posierten. Und Doctorows Clowns sind nicht lustiger.
    "Hallo Doc, es hat seinen Grund, warum ich an diesem Berghang mit Blick auf den Fjord sitze – ich wollte so weit wie möglich von Ihnen wegkommen."
    "In Andrews Kopf" lässt sich nicht verorten. Sicher, es gibt Notizen, die Andrew an der norwegischen Küste verfasst haben will. Ein andermal ruft er seinen Doc von einem Bauernhof irgendwo im Nirgendwo an. Man hat Momentaufnahmen aus Andrews Kindheit in New Jersey, von Brionys Texas oder von Zagreb, wohin Andrew einst als junger Rucksacktourist reiste. Aber wo die Unterhaltung mit dem Doc stattfindet, bleibt unklar:
    "Also, Doc, wie lange bin ich jetzt hier?"
    "Eine ganze Weile."
    "Und Sie wollen mir nicht sagen, wo das ist?"
    "Ich kann nicht."
    "Zu Hause bin ich hier nicht."
    "Woher wissen Sie das?"
    "Die Luft. In der neuen Welt habe ich das nie erlebt. Ich kann nicht über die Mauern gucken, aber beim Hofgang höre ich Vögel, und das sind nicht die Vögel der Heimat. Ich glaube, ihr habt mich irgendwo in der europäischen Mittelmeerregion abgesetzt, und das ist nicht schlecht – die Folter ist nicht exquisit, sie besteht nur im Nachsinnen darüber, was mir widerfahren ist."
    Sollte sich Andrew in einem der geheimen Gefängnisse befinden, scheint die amerikanische Regierung bei ihm auf die Anwendung von physischen Foltermethoden zu verzichten. Allerdings ist sind die psychologischen auch effizient. Die Hölle, das sind für Andrew ja nicht die anderen. Die Hölle, das ist er selber als Gefangener seines Gehirns.
    Wie konsequent E. L. Doctorow in diesem Roman das Motiv der Täuschung verfolgt, zeigen auch die Passagen, in denen er Andrews ersten Besuch bei Brionys Eltern schildert. Andrew weiss nichts von deren Kleinwüchsigkeit und ist davon entsprechend überrumpelt. Aber nicht lange:
    "Sagen Sie Doc, warum rührt etwas im Miniaturformat immer unsere Gefühle an? Wie diese kleinen Blechautos, mit denen wir als Kinder alle gespielt haben und die wie Modelle von richtigen Autos waren. Wir legten größten Wert darauf, dass sie maßstabgetreu waren. Und jetzt Bill und Betty. Spielzeugmenschen, Kätzchenmenschen, maßstabgetreu. Das hatte etwas Faszinierendes, jeder Moment mit ihnen war besonders und einzigartig. Als wäre man in ein fremdes Land gereist, eine exotische Weltgegend."
    Als wäre Andrew auf der Insel Liliput gelandet, wo er wie Gulliver auftritt und merkt, dass die Welt im Kleinen genauso wirklich oder unwirklich ist wie im Großen. Und wo Brionys Vater Bill für ihn beim Kaffee einen weiteren Schwindler entlarvt, nämlich den Zauberer von Oz:
    "Der Zauberer von Oz. Die Moral der Geschichte ist doch, auf mich kannst du dich nicht verlassen, mir darfst du nicht trauen, meine Herrschaft ist reiner Schwindel, du hast das Zeug dazu, die Sache selbst in die Hand zu nehmen."
    Es wimmelt von Täuschern und Schwindlern
    Es wimmelt "In Andrews Kopf" von Täuschern und Schwindlern. Sie alle gehorchen dem eigentlichen Zauberer von Oz, E. L. Doctorow, der darauf zählt, dass jeder seiner Leser aus seinen Geschichten letztlich seine eigene macht. Irgendwo in der europäischen Mittelmeerregion hätten sie ihn abgesetzt, vermutet Andrew an seinem Nicht-Ort, wer immer "sie" sind:
    "Man spürt den lieblich-erdigen Geruch einer seit Urzeiten besiedelten Landschaft, einen Hauch von Frühlingsluft. Ich glaube, dies ist eine ländliche Gegend mit sanften Hügeln und Wildblumen und Weinlauben."
    "In Andrews Kopf" wäre damit der erste Roman von E. L. Doctorow, der nicht in Amerika endet. Doctorow hat sein gesamtes Werk diesem Land gewidmet. 150 Jahre amerikanisches Leben stecken darin. Mit "In Andrews Kopf" ist Doctorow in der Gegenwart angekommen.
    Viele von Doctorows Romanen spielen im Spannungsfeld zwischen dem, was Menschen sein möchten und dem, was sie sind. Sie entwerfen eine Welt, wie sie sich die Menschen wünschen, und zeigen die Welt, wie sie ist. In Andrews Kopf herrscht ein ständiges Hin und Her zwischen Illusion und Desillusion:
    "Wie gottverdammt grausam, dass ein so großer Teil des Lebens eine sinnlose Zeitverschwendung ist, man lebt nicht tapfer oder ist auf einem Planeten der Wonnen zu Hause – donnernde Eisberge kalben, Tsunamis spülen die Meeresküsten fort, Dürren lassen die Kornfelder verdorren -, in all dem ist man nicht zu Hause, auch nicht auf den Berggipfeln oder auf See, sondern nur in den Städten, ein Mensch, der in einem U-Bahn-Waggon sitzt oder unter einem Regenschirm zu einem freien Taxi rennt oder ins Theater geht oder Mahler hört oder die Nachrichten liest und nichts dagegen tut. Diese Nachrichten, die anscheinend immer anderswo und anderen Leuten passierten. Nur damals nicht, als sie mir passierten. Als sie schließlich mir passierten."
    Bis sie schließlich auch aus Amerika kommen, diese Nachrichten über Dürren und Fluten und schmelzende Gletscher, über eine Regierung, die die Bürger überwachen und verschwinden lässt. Die Vereinigten Staaten sind ein Land zwischen Wahn und Wirklichkeit. Keine andere Nation zehrt so sehr von ihrem Mythos wie diese. Keine andere Nation hat es geschafft, einen Traum zum Verkaufsschlager zu machen. Trotzdem fühlte sich Doctorow, dieser durch und durch amerikanische Schriftsteller, keinem anderen Land so verbunden wie diesem, dem seinen. Die Träume und Mythen Amerikas bilden den Stoff seines Werkes.
    "In Andrews Kopf" endet mit Mark Twain, diesem anderen durch und durch amerikanischen Schriftsteller. Er erzählt seinen Kindern vor dem Zubettgehen eine Geschichte, und Andrew stellt sich die Szene vor:
    "Wie er ihr Beschützer ist und die Welt ist ein sicherer Ort, wenn sie einschlafen sollen. Wie sie sich, wenn sie erwachsen sind, an seine Geschichte erinnern und lachen vor lauter Liebe zu ihrem Vater. Wie das eine Erlösung ist."
    Was bleibt, sind Geschichten. E. L. Doctorow ist im Juli dieses Jahres im Alter von 83 Jahren gestorben. Viele Menschen werden sich an seine Geschichten erinnern. "In Andrews Kopf" ist nicht die gelungenste davon. Dennoch enthält dieser Roman mehr von seinem Wesen als Schriftsteller als mancher andere. Ein geringeres Abschiedsgeschenk hätte uns dieser zaubernde Täuscher und Kopf voller Stimmen nicht hinterlassen.
    Buchinfos:
    E. L. Doctorow: "In Andrews Kopf"
    Roman, aus dem Amerikanischen von Gertraude Krueger,
    Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2015, 208 Seiten, 18,99 Euro.