* Musikbeispiel: Earle Brown - aus: Music for Violin, Cello and Piano Mit ihren kurzgliedrigen, in großen Intervallen raumgreifenden Motiven erinnert diese 1952 entstandene Musik für Violine, Violoncello und Klavier an Kompositionen von Anton Webern aus den dreißiger und vierziger Jahren. Es ist das älteste Stück auf einer dem US-amerikanischen Komponisten Earle Brown gewidmeten Compactdisc des New Yorker Schallplattenprojekts
, eines von Steuern befreiten Non-Profit-Unternehmens zur Unterstützung von Komponisten der USA. Die Musik von Anton Webern hat in der Gruppe der experimentellen Musiker um John Cage Anfang der fünfziger Jahre mehrfach eine Rolle gespielt. Von Cage wird Webern in seinen frühen Schriften als Referenz genannt, ohne dass man allerdings in seiner Musik selbst einen Nachweis dafür finden kann. Der damals sechzehnjährige Christian Wolff erhielt 1950 einige wenige Unterrichtsstunden bei Cage, in denen er ein Werk von Webern analysiert hat. Auch in seiner Musik ist das nur ahnungsweise nachzuweisen. Aber im Oeuvre von dem am zweiten Weihnachtsfeiertag 1926 in Lunenburg in Massachusetts geborenen Earle Brown, der nach einem Ingenieur- und Mathematikstudium Komposition, Instrumentation, Musiktheorie und Schillinger-Techniken am Joseph-Schillinger-House School of Music in Boston studiert hat, gibt es ein von Webern direkt inspiriertes Stück, diese "Music for Violin, Cello and Piano" auf der Composers Recordings-Platte wiedergegeben von dem Geiger Matthew Raimondi, dem Cellisten David Soyer und dem Pianisten David Tudor. * Musikbeispiel: Earle Brown - aus: Music for Violin, Cello and Piano Nachdem Brown nach seinem Studium zwei Jahre in Denver, Colorado als Musikdozent tätig war, ging er 1952 nach New York, um sich am Projekt "Music for Magnetic Tape" zu beteiligen, das von John Cage und David Tudor initiiert worden war. Sein erstes experimentelles Musikstück mit einem Titel, der den Zeitraum seiner Entstehung angibt, "November, 1952", ist eines der ersten graphisch notierten Stücke. Die Partitur besteht aus Notenköpfen, graphisch markierten Längenangaben und herkömmlichen Bezeichnungen der Dynamik, überlässt aber der Interpretation die Wahl der Instrumente, der Notenschlüssel und der Abstände zwischen den Tönen. Hier die vergleichsweise späte Realisierung von "November, 1952" durch Michael Daugherty: * Musikbeispiel: Earle Brown - "November, 1952" Noch berühmter, noch aufsehenerregender, noch wesentlich mehr diskutiert wurde Earle Browns unmittelbar folgendes Stück mit dem Titel "December, 1952", dessen graphische Notation keinerlei herkömmliche musikalische Notationselemente mehr enthält, keine Notenköpfe also, keine Pianissimo- oder Fortissimo-Angaben. Auf dem einen rechteckigen Blatt, auf dem es notiert ist, sind 31 waagerechte und senkrechte Striche verschiedener Dicke und Länge verteilt. Wie der oder die Interpreten diese Striche in Tonhöhen, Tondauern und Toninten-sitäten wiedergeben, ist ihnen freigestellt. Eine genaue Anweisung, wie vorzugehen sei, existiert jedenfalls nicht. Die naheliegendste Umsetzung im Sinne der Notation von Musik ist die, die die oben auf dem Blatt befindlichen Striche als hohe und die unten notierten als tiefe Töne wiedergibt, die waagerechte Länge als Dauern interpretiert und die Dicke der Striche als Intensität versteht. Diese scheinbar exakte Dechiffrierung, die als Spacenotation bezeichnet wird, wird allerdings bei den senkrecht angeordneten Strichen problematisch. Sie sollten nach dem gleichen Prinzip den breiteren Tonraum als Cluster wiedergeben, die Dicke des senkrecht angeordneten Strichs gibt die Länge des Clusters an. Offen aber bliebe die Dynamik, die Lautstärke. Jede anders definierte strenge Umsetzung gerät an einem anderen Detail indifferent. Entsprechend viele völlig unterschiedliche Wiedergaben hat das Stück unmittelbar nach seiner Entstehung und bis heute inzwischen erfahren. Einen gewissen dokumentarischen Wert bekommt die Composers Recordings-Platte durch eine etwa 1973, 1974 realisierten Aufnahme dieses Stücks mit dem Pianisten David Tudor, der es etwa 1953 uraufgeführt haben dürfte: * Musikbeispiel: Earle Brown - aus: "December, 1952" Hier zum Vergleich die wesentlich später entstandene Interpretation des gleichen Stücks von Michael Daugherty auf dem Klavier unter Einbeziehung eines Computers und von Live-Elektronik: * Musikbeispiel: Earle Brown - aus: "December, 1952" Von den neun zwischen 1952 und 1965 entstandenen Arbeiten von Earle Brown, die auf der ihm gewidmeten Composers Recordings-CD dokumentiert sind, ist schließlich das 1952/1953 entstandene "Octet One" für acht Tonbänder von Interesse, ohne dass diese Musik eine ähnliche Beachtung gefunden hätte wie die frühen graphisch notierten Stücke. Auf der Compactdisc hat das Stück diese Besetzungsangabe: "for eight Loudspeakers". Beides zusammengenommen bedeutet, dass acht Tonbänder existieren und diese über acht Lautsprecher wiedergegeben werden. Es handelt sich bei diesem "Octet One", dem 1957 ein "Octet Two" nachgefolgt ist, offenbar um das Ergebnis der Mitarbeit von Earle Brown am "Project for Music for Magnetic Tape". Verglichen mit der "Music for Violin, Cello and Piano", die Sie zu Beginn hörten, und den je auf einer Seite notierten Stücken "November, 1952" und "December, 1952" zeigt "Octet One" zudem, dass Brown die Kategorie des Personalstils ebenso radikal negierte wie vor ihm die Schönberg-Schule und mit ihm die New Yorker Gruppe experimenteller Musik, die John Cage, Morton Feldman, Christian Wolff und David Tudor zusammen mit Brown Anfang der fünfziger Jahre gebildet haben. Man vermisst allerdings im Booklet nähere Hinweise auf die Entstehung dieses frühen Tonbandstücks, dessen acht "Stimmen" aus instrumentalen und vokalen Partikeln montiert sind und dadurch der Musique conrète nahe stehen, ohne deren ästhetischen Ansatz zu teilen: * Musikbeispiel: Earle Brown - aus: "Octet I" für acht Tonbänder [und acht Lautsprecher] Neben dem Trio und den graphisch notierten Stücken von 1952 und dem "Octet One" von 1953 enthält die Earle Brown gewidmete Composers-Recordings-CD, die eine erweiterte Digitalversion einer 1974 erschienenen Analogplatte des gleichen Labels darstellt und damit mit Ausnahme der größer besetzten und in sogenannten offenen Formen angelegten Stücke mit dem Titel "Available Forms" das für Brown entscheidende Frühwerk wiedergibt, die graphisch notierten "Four Systems" von 1954, die Musik für Cello und Klavier von 1955, die zwei Ensemblestücke "Novara" und "Times Five" von 1962 und 1963 und schließlich die Komposition "Nine Rare Bits" für ein Cembalo oder zwei Cembali, die 1965 im Auftrag der Schweizer Cembalistin Antoinette Vischer entstanden ist und in einer Aufnahme mit der Auftraggeberin und dem Basler Big-Band-Musiker George Gruntz die Compactdisc und nun unsere Sendung abschließt. * Musikbeispiel: Earle Brown - aus: "Nine Rare Bits"