Lessing, Goethe, Herder, Claudius, Schiller, Kant, Schelling, Kleist, Schubart, die Brüder Humboldt, Fichte, Schleiermacher, Rahel Varnhagen, Gentz, Caroline Schlegel-Schelling, Hamann, Jacobi, Wieland, Moritz, Lenz, Jean Paul usw. usw. – Ende des 18. Jahrhunderts war die Geniedichte in den deutschen Provinzen ziemlich hoch. Sie alle kannten und lasen einander, suchten und fanden, bewunderten und beneideten sich oder ließen am andern kein gutes Haar. Dass sie in politisch turbulenten Zeiten lebten, brachte noch weiteren Schwung in diese Geistesrepublik ohne Nation: Die Französische Revolution und ihre Folgen forderten Haltung, zumindest aber einen Standpunkt. Der 1959 geborene Journalist und Romancier Eberhard Rathgeb versucht in seinem neuen Buch "Zwei Hälften des Lebens" in diese klassische Epoche deutscher Geistesgeschichte vorzudringen, und auch wenn einem bei dieser Zeitreise all die genannten Dichter und Denker begegnen – im Mittelpunkt stehen zwei, die nicht nur das Geburtsjahr miteinander teilen:
"Im Jahr 1770, und irgendeine Macht wird sich dabei etwas gedacht haben, Zufall, Götter, Schicksal, Sterne, kamen Friedrich Hölderlin und Georg Wilhelm Friedrich Hegel auf die Welt, deren Lauf durch das Erscheinen und das Wirken der beiden nicht irritiert wurde. Die Welt ging ihren Weg weiter, als wäre nichts geschehen, sie zeigte, böswillig gesagt, den beiden, die sich später sehr darum bemühten, ihr auf die Schliche zu kommen, gleich die kalte Schulter."
Hölderlin und Hegel ließen sich bekanntlich nicht davon abschrecken, dass die Welt sie erst einmal nicht zur Kenntnis nahm. Sie waren redlich darum bemüht – und am Ende darin erfolgreich –, sich in die Geschichtsbücher einzuschreiben, in Erinnerung zu bleiben. Der eine als Dichter, der andere als Philosoph – auf ganz unterschiedlichen Feldern also, auf dem des Geistes, der Vernunft, und auf dem der Einbildungskraft und dichterischen Fantasie. Denn zwei Könige in einem Reich, bemerkt Rathgeb, konnte es nicht geben. Aufsehenerregend und extrem aber waren beider Ideen und Vorstellungen, gleich ob sie sich der Logik oder der Poesie verschrieben.
Die Vernunft über sich selbst aufklären
Zum ersten Mal liefen sich Hölderlin und Hegel als Theologiestudenten am berühmten Tübinger Stift über den Weg. Es war der übliche Weg für junge Genies, wenn sie nicht über ausreichend materielle Mittel verfügten – für ihre Ausbildung lieferten sie sich der Kirche aus. Sie sollten Pfarrer werden. Das freilich wurden sie nicht. Sie dachten lieber, anstatt sie zu praktizieren, über die Religion nach. Revolutionäre waren sie keine, sie wollten nicht den Gang der Dinge radikal umkehren, wenn auch neu reflektieren.
Sie schöpften aus dem Denken, aus dem sie hervorgegangen waren, ließen es aber nie ganz hinter sich. Rousseau begeisterte sie. Hegel war nüchterner als sein Freund Hölderlin, er wollte, wie Rathgeb schreibt, die Vernunft über sich selbst aufklären. Hölderlin, der nach Jena pilgerte, wo Johann Gottlob Fichte lehrte, musste bald einsehen, dass aus ihm kein Systematiker wird. Kein Philosoph. Beide verdingten sich schließlich als Hofmeister. Das war die andere Möglichkeit dem Pfarramt erst einmal zu entkommen, wenn die Universität noch keinen Platz für den Ideenüberschwang bot. Und während der eine konsequent seiner Berufung folgte und einen akademischen Weg einschlug, mit seiner "Phänomenologie des Geistes" für Furore sorgte und schließlich in Berlin seine Professur erhielt, Hegel nämlich, verfing sich der andere in einer unglücklichen Liebesgeschichte und endete bekanntlich in einem Tübinger Turm, wo er immer rätselhaftere Zeilen zu Papier brachte und der Welt abhandenkam. Der Welt war er vielleicht schon früher fremd geworden; die problematische Beziehung zur Mutter spielte dabei keine geringe Rolle, den Ansprüchen, die man an ihn stellte, konnte und wollte er nicht genügen – aber seine Träume zu reüssieren, erfüllten sich gleichfalls nicht. Die Unbedingtheit, die Hölderlin seiner Poesie zumaß, mochte auch noch anderswoher rühren. Rathgeb:
"Die Dichtung und die Ideen mussten umso bedeutsamer und zeitgemäßer, sie mussten drängende Antworten auf die Nöte der Gegenwart sein, je unfähiger er für andere Arten des Handelns war, je weniger er sich in die gefahrvollen Niederungen der Politik verstricken wollte. In dieser Spannung zwischen Selbsterfüllung und Selbstaufgabe, Gesang und Opfergang, Neigung und Pflicht, zwischen einer hochgestimmten Innenwelt und einer bedrückenden Außenwelt lebte er verstärkt seit dem Ausbruch der Französischen Revolution, bis er sich ganz in Ideen und in die Poesie zurückzog und sich schließlich darin verlor."
Hölderlin war ein Schwärmer, Hegel, das versucht Rathgeb anhand einiger biographischer Erzählungen zu zeigen, ein hochdisziplinierter und strenger Mann mit unumkehrbaren Grundsätzen.
Raunendes Umkreisen
Aber trotz vieler schöner Gedanken, essayistischer Volten, reizvoller Spekulationen – Rathgebs Buch hat doch etwas Unbefriedigendes. Man bekommt seine beiden Protagonisten am Ende nicht recht zu greifen – vielleicht weil sie dem Autor selbst immer wieder entgleiten. Was erklären könnte, dass Rathgeb immerfort weiträumig um sie kreist, blumig über das intellektuelle Werden, die Poesie und Philosophie sinniert, vor- und zurückspringt, aber nie zu einem wirklichen Punkt kommt oder gar einen setzt. So hat man nach knapp 450 Seiten weder den Eindruck, Hölderlin oder Hegel sonderlich näher gekommen zu sein, noch neue Facetten dieser Freundschaftsbeziehung offenbart bekommen zu haben. Zudem wird eher über das Werk der beiden gesprochen als von ihm. Freilich macht das Buch von vornherein nicht das Versprechen, Analysen, Tiefenbohrungen, genaue Textexegesen zu liefern. Aber Rathgeb tippt Fragen doch nur sehr schüchtern an, ohne sie durchs Werk von Hölderlin und Hegel ein wenig eingehender zu verfolgen.
"So dunkel ist Hegel, und sein Freund Hölderlin ist manchmal nicht viel zugänglicher, als hätten die beiden darum gewettet, wem es besser gelinge, ihre Verfolger und Ausleger abzuhängen oder einzuspinnen."
Tatsächlich hängen Hölderlin und Hegel ihren Biographen immer wieder ab. Bei allem Bemühen, den Geist und die Atmosphäre um 1800 einzufangen, bleibt Rathgeb bei Hölderlins und Hegels Werk selbst oft im Vagen. Manchmal nimmt sein Ton sogar etwas Raunendes an:
"Nur wenige (…) waren an diesen Diskussionen beteiligt. Sie flammten auf, dann glommen sie nieder und erloschen, und das, was zurückblieb, wurde ein Gegenstand der historischen, der fachspezifischen Forschung, zu deren Aufgaben gehörte, unter der Asche nach einem Funken Glut zu stöbern, nach immer noch aktuellen Fragen und Problemen, die nur ein Abglanz sind von jenem Trieb, jenem Drang und einer Kraft, die einst nach Worten gesucht hatten, als sei so schwer zu verstehen, dass es kein Verstehen geben konnte, das sich selbst verstand. Die beiden wussten es, und dieses Wissen machte aus den Dialogen, die sich eine Weile an der Oberfläche der Zeit hielten, Monologe, die heute noch, wie ein Blick in die Landschaft, eine Botschaft an den Betrachter zu richten scheinen."
So bleibt ein zwiespältiges Gefühl zurück: Einerseits ist Rathgebs "Zwei Hälften des Lebens" ein Essay, der durchaus suggestiv in eine verwirrend spektakuläre Zeit entführt; andererseits ist es eine Studie, die mehr im Staunen verharrt und weniger zum genauen Betrachten tendiert. Vertane Zeit ist die Lektüre jedoch nicht. Man bekommt zumindest Laune, wieder einmal Hölderlin zu lesen oder es mit Hegel zu versuchen, auch wenn man sich – wie Eberhard Rathgeb – dabei im Dunkeln verirren kann.
Eberhard Rathgeb: "Zwei Hälften des Lebens. Hegel & Hölderlin. Eine Freundschaft"
BlessingVerlag, München. 464 Seiten, 24 Euro.
BlessingVerlag, München. 464 Seiten, 24 Euro.