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Ece Temelkuran: "Stumme Schwäne"
Kinder, Schwäne und der Bürgerkrieg

Ece Temelkuran, im Exil in Zagreb lebend, schreibt vorwiegend Romane und Sachbücher, in denen sie sich mit der politischen Situation in ihrem Heimatland auseinandersetzt. In ihrem Roman "Stumme Schwäne" schildert sie die Ereignisse in der Türkei vor dem Militärputsch von 1980 aus der Sicht zweier Kinder.

Von Ralph Gerstenberg |
    Buchcover Ece Temelkuran: "Stumme Schwäne" und im Hintergrund 2 Schwäne
    Ece Temelkuran: "Stumme Schwäne" (Buchcover: Hoffmann und Campe Verlag / Hintergrund: AP)
    Es hat gebrannt in Ankara. Das Haus, in dem der achtjährige Ali und seine Familie wohnten, liegt nun in Schutt und Asche. Ihr Viertel ist ein Zentrum des linken Widerstands. Nachts werden die Häuser der Aktivisten angezündet. Überhaupt: Im ganzen Land herrscht Chaos und Bürgerkrieg. Ece Temelkurans Roman "Stumme Schwäne" spielt im Sommer 1980, in der Zeit kurz vor dem Militärputsch, der zum Sturz von Ministerpräsident Demirel führte. Attentate und Massenverhaftungen gehören zum Alltag. In der Provinz wüten radikale sunnitische Muslime gegen die Aleviten. Alis Eltern kämpfen gegen die Faschisten, wie sie sagen, gegen die Rechten und gegen die Polizei. Und Ali ist mittendrin. Er sieht alles und hat viel gehört, zum Beispiel dass der noch gar nicht so alte Dürüst weiße Haare hat und verrückt geworden ist, weil er beim 1971er Militärputsch gefoltert worden ist. "Weil sie seinen Pipimann unter Strom gesetzt haben", wie Ali weiß. Auch dass seine Eltern Waffen im Kohlenkeller verstecken und überall auf den Straßen Gewalt herrscht, braucht ihm niemand zu erklären. Und was in der Zeitung steht, erfährt er von seinem Vater:
    "Alle Beamten sollen in Zukunft unterschreiben, dass sie ihren Dienst gewissenhaft auszuüben geloben, ohne jemanden zu bevorteilen. Die Leute erschießen sich gegenseitig, aber die Vetternwirtschaft wollen sie abschaffen? Und hier, na, so was, jeder, der sein Leben in Gefahr sieht, darf sich in Zukunft eine Waffe zulegen. Als wären nicht sowieso schon alle bewaffnet. 'Das Studienjahr endet blutig. Innerhalb der letzten zwölf Monate wurden 395 Studenten und Dozenten getötet.' Aha ... Und die Bahn will Katzen einsetzen, gegen die Mäuseplage in den Zügen. Die haben doch alle den Verstand verloren!"
    Ayșe und Ali und der Versuch, etwas zu verstehen
    Ganz anders die gleichaltrige Ayşe, deren Eltern in staatlichen Institutionen angestellt sind. Die Studentenunruhen auf der Straße seien nur ein Spiel, erklären sie der Tochter, die als wohlbehütetes Mittelstandskind vom Lärm der immer härter werdenden Auseinandersetzungen verschont bleiben soll. Als Alis Mutter von Ayşes Eltern als Putzfrau beschäftigt wird und ihren Sohn mitbringt, wird das anders. Der schweigsame Ali erklärt Ayşe, dass das, was da draußen vor sich geht, beileibe kein Spiel ist.
    "Ali ist aufgestanden. Er hat sich vor den Fernseher gestellt, dass ich nichts mehr sehen kann. Er sagt: 'Der Weg der Revolution ist ... äh ... also, auf dem könnten Glasscherben liegen. Du und ich wir ...'
    Er fuchtelt mit den Armen Dann stemmt er die Hände in die Hüften.
    '... Ayşe, wir müssen Widerstand leisten, weil sie uns sonst nämlich vielleicht die Augen ausstechen ...'
    Ich lache. Weil ich Ali witzig finde."
    Ece Temelkuran erzählt ihren Roman "Stumme Schwäne" aus der Sicht zweier Kinder. Alis und Ayşes Blick ist unverstellt. Sie sind in nichts verwickelt, hängen keiner politischen Richtung, keiner Ideologie an, müssen sich die Wirklichkeit nicht zurechtbiegen. Anders als die Erwachsenen, deren Worte, Gesten, Haltungen die Kinder interpretieren und ausprobieren, um etwas zu verstehen und sich irgendwie zurechtzufinden in einer Zeit, in der es mehr Fragen als Antworten zu geben scheint. Was ist ein Opportunist? Was passiert mit den Studenten auf der Polizeistation? Und was mit den Schwänen im Park?
    "'Weil Papa nämlich Mama erzählt hat: ... wusstest du, dass sie die Schwäne im Schwanenpark ...?'
    'Du hast es also auch gehört? Was genau ist denn da eigentlich los?', hat Mama gesagt.
    'Angeblich hat sich der Generalstabschef einen der Schwäne in seinen Garten bringen lassen. Und als der in den Park zurückfliegen wollte, ist er gegen ein Hochhaus geprallt und gestorben. Den restlichen Schwänen will der General jetzt die Flügel brechen lassen, damit sie nicht mehr fliegen können.'"
    Parallelen zur Gegenwart sind unübersehbar
    Klar, dass die Kinder die Schwäne retten wollen. Und Schmetterlinge ins Parlament schmuggeln - auch keine schlechte Idee, finden sie, und sammeln Raupen in einer Schachtel. Die kindliche Fantasie wird in Ece Temelkurans Roman von den Ereignissen genährt, über die sich die Erwachsenen unterhalten. Von Bespitzelung ist da die Rede, von Verhaftungen, von Folter und von Pogromen. Journalisten werden abgehört, Wörter wie "relativ" oder "kritisch" dürfen in den Medien nicht mehr verwendet werden. Auch wenn Ece Temelkuran ihren Roman vor dem letztjährigen Militärputsch veröffentlicht hat, sind die Parallelen zur Gegenwart unübersehbar.
    "'Hast du von dem Journalisten gehört, Samim? Als der Polizist, der sein Telefon abhörte, plötzlich zu husten anfing, hat er gesagt: "He, Sie da, Sie arbeiten zu viel. Jetzt pressen Sie sich mal eine Zitrone aus und mischen den Saft mit Lindenblütentee!" Und der Mann hat sich sogar bedankt!'
    Samim lachte. 'Wenigstens können wir noch lachen und fröhlich sein.'
    'Das hat mit Fröhlichkeit nichts zu tun, das nennt man Galgenhumor.'"
    Immer schneller und bruchstückhafter erzählt Ece Temelkuran von den Ereignissen des Sommers 1980. Zuviel passiert in diesen Tagen. Ali muss zusehen, wie seine Mutter gefoltert wird. Selbst vor dem Jungen schrecken die Polizisten nicht zurück. Auch Ayşes Mutter ist vor Jahren von der Staatsmacht Gewalt angetan worden. Nun holt die Vergangenheit sie wieder ein. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Das Militär übernimmt wieder die Macht. Doch inmitten der Verhaftungen und Tumulte gibt es auch Solidarität, Nachbarn, die einander helfen. Und die Kinder kümmern sich indes um die Rettung der Schwäne im Park.
    "Wir schauen uns den Kopf von dem Schwan an. Er ist wunderschön. Um seine Augen rum ist er schwarz. Sonst ist er überall weiß wie Schnee. 'Wie Schneewittchen", sage ich. 'Gut, dass die keine Geräusche machen', sagt Ali."
    Auch bei den Gezi-Park-Protesten vor vier Jahren sind Schwäne gerettet worden. Die im Park campenden Demonstranten hatten bemerkt, dass das Tränengas der Polizei bei den Tieren Atemnot auslöste, und brachten die zum Teil bewusstlosen Vögel in Sicherheit. In Ece Temelkurans Roman wird die Schwanenrettung zu einem Triumph der Schönheit über die Unmenschlichkeit. So ist "Stumme Schwäne" trotz der erschütternden Ereignisse, von denen es handelt, kein deprimierendes, hoffnungsloses Buch geworden. Die Metaphorik ist geradezu überdeutlich: Auch wenn die Mächtigen die Freiheit beschneiden, der Drang danach bleibt ebenso ungebrochen wie der Mut und die Entschlossenheit derjenigen, denen die Zukunft gehört, der Kinder. Ece Temelkurans Roman ist jedoch kein politisches Pamphlet, sondern zeigt die Auswirkungen von Restriktionen und Gewalt im Kleinen, also im Alltag ganz normaler Menschen in der türkischen Hauptstadt. Durch die Kinderperspektive scheint zudem immer wieder etwas auf, das inmitten des sich ausbreitenden Schreckens ein Gegengewicht bildet, etwas, das sich nicht so einfach unterdrücken lässt: Poesie.
    Ece Temelkuran "Stumme Schwäne"
    Hoffmann und Campe, 384 Seiten, 22,- Euro