Energisch-dicht klingt es in diesem rasanten Klavierkonzert des Franzosen Franck Bedrossian. Ständig geschieht etwas: Mal sprechen die Musikerinnen und Musiker des SWR-Symphonieorchesters Unverständliches, mal kommen schnelle, kleinteilige Glissandi der Streicher, dann wieder haben die Schlagwerker alle Hände voll zu tun. Im Vordergrund – es ist ja ein Klavierkonzert – der Solist, oder besser: die Solisten. Dem fabelhaften Pianisten Christoph Grund steht Jochen Schorer zur Seite, ein Schlagwerker des Orchesters. Beide sind damit beschäftigt, im Innern des Flügels vielfältigste Klänge zu erzeugen. Oft sind es perkussive Schläge auf die Saiten mit allerhand Utensilien, manchmal aber auch behutsames Streichen der Saiten. Sehr gelungen ist dieses expressiv-phantasievolle Klavierkonzert – obwohl der Komponist Franck Bedrossian anfangs Probleme sah:
"Nun ja, ich wurde etwas skeptisch und wusste gar nicht mehr, was ich schreiben sollte. So ein Klavierkonzert ist ja ein sehr prestigeträchtiges Genre mit einer wunderbaren Geschichte, aber oft schwingt da auch so ein heroischer Tonfall mit. Ich musste da irgendwie einen Schlüssel finden, diese Tradition etwas zu untergraben. Und vor drei Jahren schrieb ich ein kleines Klavierstück, wo ich schon einige Techniken entwickelte, die man auch in diesem Konzert hört. Damals bedauerte ich etwas, dass ich keinen Assistenten hatte, der zusammen mit dem Pianisten im Klavier besondere Texturen spielt. Ja, und dann kam noch mein Interesse an Literatur dazu. Und dann kam eben die Idee mit Don Quichotte."
Attraktive Festivalstimmung – im Digitalen
Durch die vor Ironie nur so strotzende Vorlage von Cervantes bekommt das durchweg gelungene Klavierkonzert einen lässigen, Augen zwinkernden Ton. Ebenso gelungen ist das Stuttgarter Eclat Festival, in diesem Jahr also im reinen Digitalformat. Manche finden Musik ohne Publikum so, nun ja, sexy wie eine Corona-Pressekonferenz. Aber eine multimediale Übertragung muss kein aussichtsloser Kampf gegen Windmühlen sein: Haargenau sieht man durch gekonnte Kameraführungen und Großaufnahmen, wie die Klänge im Innern des Flügels entstehen. Mimik und Gestik der Musiker sind auf dem Bildschirm präsenter als im Konzertsaal, und nicht zuletzt: Die vom Eclat Festival und dem daran beteiligten SWR bereitgestellten Audiostreams haben höchste Qualität, also es hört sich besser an als auf manchen Plätzen im Saal (vorausgesetzt man besitzt gute Lautsprecher oder Kopfhörer).
Christine Fischer leitet Eclat. Sie will nicht zu viel vergleichen zwischen Online und Live-Erfahrung, wollte aber auf jeden Fall produktiv umgehen mit der Situation:
"Das schaffen wir nicht, die Live-Atmosphäre ins Wohnzimmer zu bringen. Und aus dem Grund versuche ich, eine attraktive Festival-Atmosphäre im Digitalen herzustellen. Und natürlich auch für jedes Konzert den besten Übermittlungsmodus zu finden. Zum Beispiel durch Collagen oder durch eine bestimmte Art, wie das Bild transportiert wird. Oder auch: Eine Komponistin hat sich gegen das Video entschieden. Dann wird einfach abgeschaltet. Das Publikum kriegt ein Standbild und die Anda Crysio sagt einfach: ‚Schließt die Augen, ich will einfach, dass ihr zuhört.‘"
Musik mit gesellschaftlichen Bezügen
Man kann nicht immer die Augen verschließen – erst recht nicht angesichts der aktuellen Weltlage, die – auch fernab von Corona! – bedenklich ist. Ein regionaler Schwerpunkt des Eclat-Festivals ist Belarus, also jenes Weißrussland, das arg gebeutelt ist von einem diktatorischen Regime unter Alexander Lukaschenko. Für das Projekt "Echoes – Voices from Belarus" ließ Eclat kurze Videos produzieren. Da ist über etwa drei Minuten ein gefesselter, auf dem Boden liegender Nackter zu sehen. Ein anderes Video zeigt einen Mann, der wie ein Hund an der Leine Züge anbellt – als Bild für eine Staats-Maschinerie, der nur schwer beizukommen ist. Nüchterner, aber auch vielsagend bearbeitet jemand in einem anderen Video einen weißrussischen Reisepass mit einer Rasierklinge – bis kaum noch etwas zu sehen ist von Staatswappen und Schrift. Zu den eindrücklichen, auch beklemmenden Bildern kommt instrumentale oder elektronische Musik, manchmal klingt sie fast Hörspiel-artig.
Das Stuttgarter Eclat Festival hält nicht krampfhaft an der Idee des Neuen fest, und trotzdem gab es auch in diesem digitalen Jahr 24 Uraufführungen. Regionale Schwerpunkte, in diesem Jahr neben Belarus auch die Musikszene des Libanons, haben hier ebenso Tradition wie multimedial engagierte Kunst. Die künstlerische Leiterin Christine Fischer:
"Eclat war eigentlich noch nie in so einer Neuen Musik Ecke ohne gesellschaftliche Bezüge. Diesen gesellschaftlichen Bezug setzen wir seit Jahren. Die KünstlerInnen heute wollen das auch. Die nehmen auch Positionen ein. Es ist ja eigentlich auch ganz oft so, dass auch abstrakte Musik, die auch ohne Video, ohne Text, ohne szenische Darstellung und so weiter – also einfach auf das Hören fokussiert ist – ganz oft eine Motivation hat, die dann doch im gesellschaftlichen Kontext verortet ist. Und diese gesellschaftlichen Kontexte dann heraus zu arbeiten und das auch evident zu machen, aus welcher Position künstlerisches Schaffen entsteht, war eigentlich auch schon immer unser Thema."
Eher fragwürdig: das Online-"Nebenprogramm"
In der Tat: die Spannung zwischen Politik und Ästhetik ist schwer auf einen Nenner zu bringen. Wer will schon ästhetische Messlatten anlegen, wenn Kunst in fast existenziellen Situationen im Sinne eines Hilferufs entsteht? Wer will überhaupt Grenzen ziehen zwischen Politik und einer Musik, die nie erdacht ist in einer rein ästhetisch gedachten Sphäre? Der italienischen Komponistin Marta Gentiluccigelingt jedenfalls mit ihren live-elektronischen Canzoniere ein großer Wurf. Sehr konzentriert und dicht wirkt das Werk, unglaublich intensiv interpretiert von der Sopranistin Sarah Maria Sun und der Schlagwerkerin Vanessa Porter:
Wohin geht die Reise beim Eclat Festival? Christine Fischer und ihr Team wollen aus der diesjährigen Not eine Tugend machen, das heißt, manche Präsentationsform übernehmen von diesem "Corona-Jahrgang". Einiges ist auch künftig im Netz präsentierbar, anderes wirkte eher wie digitales Ablenkungsgedöns: Kleine Rätselchen oder Koch-Kürschen im Online "Nebenprogramm" sind zumindest fragwürdig. Erfreulicher waren die hohen Besucherzahlen, die sich kaum unterschieden von vorherigen Jahrgängen – mit dem Vorteil, dass Eclat diesmal weltweit zu erleben war.