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Edith Piafs 100. Geburtstag
"Sie hat es geliebt, sich zu verlieben"

Edith Piaf, eine 1,42 Meter kleine Powerfrau, die viel zu früh gestorben ist. An diesem Samstag wäre sie 100 Jahre alt geworden. Wir haben uns mit Christie Laume getroffen, der Schwester von Piafs zweitem Ehemann; sie hatte fast ein Jahr mit dem Paar gelebt und hat eine der besten Autobiographien über die französische Ikone verfasst.

Christie Laume im Gespräch mit Marcel Anders |
    Die Sängerin Edith Piaf vor einem Bild von Maurice Chevalier im Jahr 1947.
    Die Sängerin Edith Piaf vor einem Bild von Maurice Chevalier im Jahr 1947. (AFP)
    Marcel Anders: Madame Laume, als Sie im Nachkriegs-Paris aufgewachsen sind, war die Piaf ein Superstar. Was hat die Grande Nation so an ihr geliebt?
    Christie Laume: Die Leute haben in ihr eine Frau gesehen, die viel gelitten hat und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist. Ihre Mutter war drogenabhängig und sie hat mir erzählt, wie sie sie als kleines Mädchen beim Injizieren überrascht hat. Danach hat sie mit ihrer Großmutter gelebt, der ein Bordell in der Normandie gehörte.
    Diese Frauen waren scheinbar sehr nett zu ihr. Aber irgendwann hat sie dann ihr Vater abgeholt, um mit ihm zu leben – als Sängerin auf den Straßen von Paris. Da war sie gerade 13 und hatte eine derart außergewöhnliche Stimme, dass ihr die Leute Geld aus den Fenstern zuwarfen. Bald darauf wurde sie von einem Cabaret-Besitzer entdeckt und wurde erfolgreich. Aber ihre Kindheit war wirklich schwer.
    Anders: Was ja ein wiederkehrendes Thema in ihren Songs war – eben das harte Leben der einfachen Menschen.
    Piafs Charisma
    Laume: Ganz genau. Und ihre Songs waren sehr dramatisch. Wenn sie gesungen hat, hat man ihr aufmerksam zugehört. Denn in den Stücken ging es darum, wie man als Frau einen Mann liebt und wie man sich verliebt. Mit einer solchen Leidenschaft und Tiefe, dass man das Gefühl hatte, ein Teil davon zu sein. Und wenn Edith auf der Bühne stand, verfielen die Leute ihrem Charisma.
    Im Ernst: Ich habe nie jemanden erlebt, der eine solche Präsenz hatte. Woran sie hart gearbeitet hat, denn sie liebte Perfektion. Und sie liebte es, sich der Öffentlichkeit hinzugeben. Wenn sie vor einem Publikum stand, sind sie und die Welt eins geworden. Einfach, weil das so kraftvoll war. Ich habe viele Frauen mit wunderbaren Stimmen erlebt, auch starken Stimmen, aber nie eine weitere Edith Piaf.
    Christie Laume, Schwägerin von Edith Piaf
    Christie Laume, Schwägerin von Edith Piaf (picture-alliance / dpa)
    Anders: Wie ist sie zu ihrem Künstlernamen Piaf alias "der Spatz" gekommen?
    Laume: Den verdankt sie einem weiteren Mann, der in ihr Leben trat. Er hieß Raymond Asso und brachte ihr Gesangstechnik bei und wie man sich auf der Bühne präsentiert. Außerdem meinte er, dass Gassion – wie sie mit Nachnamen hieß – nicht besonders gut für eine Sängerin wäre. Und sie war sehr klein. Also 1,42 Meter. Deshalb meinte er: "Du bist wie ein kleiner Spatz, ein kleiner Vogel" - und nannte sie Edith Piaf.
    Anders: Wobei sie als Frau keine betörende Schönheit war, aber scheinbar doch das gewisse Etwas hatte, dem viele Männer verfallen sind. Was war das?
    Wahre Liebe
    Laume: Sie hatte blaue Augen – sehr blaue sogar. Und sie schminkte sich auch die Augenlider blau, weshalb das Ganze noch blauer wirkte. Dabei war Edith kein Model, aber eine schöne Frau. Wenn sie irgendwo auftauchte, spürte man ihre Präsenz sofort und alles verstummte schlagartig. Einfach, weil jeder beeindruckt von ihr war und die Kraft erkannte, die in ihr steckte. Sie hat das Gefühl vermittelt, das sie keine normale Person war. Und so empfand es die gesamte Welt.
    Anders: Wie war es bei Ihrem Bruder Theo, der 19 Jahre jünger und einen halben Meter größer war als die Piaf – war er besessen von der schillernden Sängerin oder war es echte Liebe?
    Laume: Es war echte Liebe, denn sie haben einander alles gegeben. Edith hat mir gesagt: "Ich habe noch nie jemanden geliebt, wie Theo. Er ist meine große Liebe."
    Und das war keine Schwärmerei wie bei Teenagern, sondern eine wirklich tiefe Sache. Im Sinne von: Sie hat sich um Theo gekümmert. Und sie wollte etwas aus ihm machen, denn sie fand, dass er musikalisch sehr talentiert war. Und er sah auch gut aus.
    Anders: Sie selbst haben die Piaf bei ihren letzten Konzerten unterstützt – wie ist es dazu gekommen?
    30 Minuten Applaus
    Laume: Sie war der Überzeugung, dass ich eine gute Stimme habe. Also gab sie mir ein paar Songs, die sie in ihrer Jugend gesungen hatte. Und als ich das erste Mal live mit ihr aufgetreten bin, waren da über tausend Leute. Ich stand nervös am Bühnenrand, Edith legte mir ihren Arm um die Schulter, und mein Herz schlug so laut, dass wir es beide hören konnten. Eben bum-bum-bum. Dann legte das Orchester los, der Vorhang öffnete sich und Edith sagte: "Los!"
    Sie schubste mich auf die Bühne, ich habe meine Songs gesungen, und dann habe ich "le spectacle", also die Show, moderiert. Erst meinen Bruder, anschießend Edith. Ich habe mit Leibeskräften geschrien: "Edith Piaf!" Die Leute sind aufgesprungen und haben applaudiert. Einmal sogar für 30 Minuten. Können sie sich das vorstellen? Es war unglaublich.
    Anders: Dabei war sie damals schon schwer krank. Hat sie Ihnen von ihrem Krebsleiden erzählt? Wussten Sie Bescheid?
    Laume: Sie war schon krank, als sie meinen Bruder kennenlernte. Und ihr war immer so heiß, dass sie alle Fenster öffnen musste – selbst wenn es draußen kalt war. Deshalb hatte sie ständig eine Erkältung. Was bei ihr meist mit einer Lungenentzündung einherging und weshalb sie öfter ins Krankhaus musste, wo man sie unter ein Sauerstoffzelt legte.
    Trotzdem hat sie ihren Humor nie verloren. Sie fing sogar an, im Krankenhaus zu singen, worauf sich eine Patientin im Nachbarzimmer beschwerte, wer denn die verrückte Frau sei, die glaubte, sie wäre Edith Piaf? Der Arzt und die Schwestern ermahnten sie dann, doch etwas leiser zu sein. Also bat sie Francis Lai mit seinem Akkordeon vorbeizuschauen und sie fingen an, im Krankenhaus zu proben. Einfach, weil sie nicht dort bleiben wollte. Am nächsten Tag sagte man ihr, sie könne nach Hause – damit endlich Ruhe herrsche.
    Anders: Was ist mit den Gerüchten um heftigen Alkohol- und Morphium-Konsum? Treffen die zu?
    Drogenkonsum
    Laume: Sie hat keine Drogen genommen. Aber es ist folgendes passiert: Sie hatte ein paar schwere Autounfälle, und da hat man ihr Morphium gegen den Schmerz verabreicht. Außerdem hat sie getrunken, das stimmt. In ihrer Jugend sogar ziemlich viel. Nur: Als sie mit meinem Bruder und mir gelebt habe, hat sie keinen Tropfen angerührt, weil die Ärzte meinten, dass sie dadurch sterben könnte, denn ihre Leber war krank.
    Von daher verzichtete sie darauf – trank aber umso mehr Kaffee und Tee. Etwa 25 Tassen am Tag. Ich habe mich oft gefragt: Wie macht sie das? Und am Ende, bevor sie auf die Bühne ging, hat man ihr Pillen gegeben, damit sie besser singt. Wobei die eigentlich nichts enthielten, sondern es war rein psychologisch. Sie dachte, sie würde wer weiß was nehmen, aber es war nur Aspirin.
    Anders: Trotzdem wurde ihr Zustand 1963 immer schlechter statt besser – woran lag das?
    Laume: Auch das lag nicht am Trinken, sondern am Essen. Sie hat eine strenge Diät gelebt und durfte im Grunde nur gegrilltes Steak mit weißem Reis, Gruyère-Käse und Pfirsichen aus der Dose essen. Das war alles. Das Problem war nur, dass sie Hasen in Senfsauce liebte. Das war ihr Leibgericht. Und im Restaurant sagte sie dann: "Ich nehme nur ein kleines bisschen davon." Also bestellte sie das und am nächsten Morgen war sie krank.
    Was irgendwann so schlimm wurde, dass sie eine Amerika-Tournee mit Auftritten in New York, Chicago, Los Angeles und Miami absagen musste. Einfach, weil sie für eine solche Reise nicht genug Kraft hatte. Mein Bruder mietete dann ein Haus an der Riviera, in Cap Ferrat. Ich habe sie dort mit meinen Eltern besucht, die ihr einen wunderbaren Schal als Geschenk mitbrachten. Sie wickelte sich ihn um den Hals, stellte sich mitten aufs Bett und sagte: "Ich werde 'Non, je ne regrette rien' singen" – das Lieblingslied meiner Eltern. Das hat sie aus vollem Herzen getan, und wir haben alle geweint. Es war das letzte Mal, dass ich es aus ihrem Mund gehört habe.
    Anders: Ihr Tod am 10. Oktober 1963 hat das hektische Paris zum völligen Stillstand gebracht – erinnern Sie sich noch an diesen außergewöhnlichen Tag?
    Piafs Tod
    Laume: Die Leute haben extra Urlaub genommen, um vom Boulevard Lannes bis zum Friedhof Père Lachaise zu laufen, was ein ziemlich weiter Weg war. Edith wurde drei Tage lang in ihrem Apartment aufgebahrt. Es gab einen roten Teppich, über den man zu ihrem Sarg gelangte. Und der hatte ein kleines Fenster, durch das man ihr Gesicht sehen konnte.
    Es waren ein bis zwei Millionen Menschen, die von ihr Abschied nahmen. Sie kamen durch den Vordereingang, traten in den Raum, in dem wir sie als Familie empfingen, und gingen durch den Hinterausgang hinaus.
    Drei Tage später sind sie mit uns vom Boulevard Lannes zum Friedhof Pere Lachaise gelaufen. Angeführt von Marlene Dietrich und meinem Bruder. Wir brauchten drei Lieferwagen um die ganzen Blumen zu transportieren. Es waren so viele. Und alle waren da: der Bürgermeister, das Fernsehen, das Radio, die Zeitungen und Magazine. Es war bewegend. (weint)
    Anders: Was von der Piaf geblieben ist, sind ihre Chansons, die wahrscheinlich bekanntesten französischen Lieder aller Zeiten.
    Lieder für die Ewigkeit
    Laume: Ja! (singt "La Vie en rose") Das bedeutet: "Wenn er mich in die Arme nimmt und mir sanft zuflüstert, sehe ich das Leben in pink." Das war Edith Piaf. Sie hat es geliebt, sich zu verlieben. Das war ihr Ding.
    Anders: Wie begehen Sie ihren 100. Geburtstag?
    Laume: Ich werde in Paris sein, wo es eine große Messe für sie gibt. Am Nachmittag werden wir Blumen am Père Lachaise ablegen, wo mein Bruder und sie beerdigt sind.
    Anders: Das Grab ist inzwischen zur regelrechten Kultstätte geworden...
    Laume: Oh ja! Da werden das ganze Jahr über Blumen abgelegt und es kommen Millionen von Besuchern. Ich wurde mal gefragt, wie es denn käme, dass man den Eindruck gewinnen könnte, Edith wäre noch lebendig. Also dass wir von ihr reden, als würde sie unter uns weilen und dass wir ihre Songs im Radio und auf CD hören. Denn Edith ist allgegenwärtig. Und auch die jungen Leute lieben sie! Was Edith schon damals gewusst hat: "Christie, meine Songs sind für die Ewigkeit". Das war ihr klar, als sie mit mir gesprochen hat.