"Da die Zeit gekommen ist, Mademoiselle, wo die strengen Gesetze der Männer die Frauen nicht länger daran hindern, sich der Gelehrsamkeit und den Künsten zu widmen, scheint es mir, dass diejenigen, die in solch günstigen Umständen leben, diese schickliche Freiheit, welche sich unser Geschlecht früher so sehr wünschte, zum Studium nutzen und den Männern das Unrecht vor Augen führen sollten, das sie uns zufügten, indem sie uns die Befriedigung und die Ehre vorenthielten, welche uns hieraus erwachsen konnten [...]"
Die Männer abhängen
Die Dame, die hier im Juli 1555 in einem Widmungsbrief an eine Adlige zur Offensive bläst, heißt Louise Labé. Der Französin mangelt es erkennbar nicht an Selbstbewusstsein. Das weibliche Geschlecht übertreffe die Männer nicht nur an Schönheit. Wenn die Damen ihren Geist mal etwas über den Spinnrocken erheben würden, fährt sie tadelnd fort, dann würden sie diese gewiss auch an Gelehrsamkeit und Tugend hinter sich lassen.
Louise Labé, geboren um 1524 in Lyon. Als Tochter eines Seilers ist ihr Bildung nicht in den Schoß gelegt. Aber der Vater fördert sein begabtes Kind. Und die Epoche von Humanismus und Renaissance, die an der Wiege des neuzeitlichen kulturellen Europas steht, so schreibt Elisabeth Schulze-Witzenroth im Nachwort des Labé-Bandes "Torheit und Liebe", tut ihr Übriges. Das Ideal von Bildung und Kunst ergreift zu dieser Zeit ganz Europa – und auch Frauen profitieren davon. Allerdings immer nur bis zu einem gewissen Grad. Die Grenzen der weiblichen Schicklichkeit müssen gewahrt, die zeitgemäßen, für Frauen üblichen Genres, Topoi und vor allen Dingen Rollenverteilungen im Literarischen beachtet und die Gesten der Bescheidenheit in der öffentlichen Rede gepflegt werden.
Bei Labé geht die Frau aufs Ganze
Louise Labé nutzt diese Formen und Themen ihrer Zeit, um sie jedoch von innen heraus zu sprengen. Im Mittelpunkt ihres schmalen, aber überaus kunstvollen Werks, das hier erstmalig einem deutschsprachigen Publikum in einer zweisprachigen Ausgabe vorliegt, findet sich das seit dem Mittelalter verbreitete Thema der Liebe. Die Epoche Labés begeistert sich für die Wiederentdeckung der Antike. Und so bettet die Autorin ihre feministische Haltung im Prosatext "Débat de Folie et D’Amour" in ein Streitgespräch zwischen zwei göttlichen Figuren ein: Folie und Amor. Wobei Folie gegenüber Amor den leidenschaftlicheren, lebensnäheren Part einnimmt und Amor mit seinem Konzept von Ordnung und Harmonie in die Schranken weist.
In ihren Sonetten verstärkt Labé aber noch einmal den Anspruch des weiblichen Ichs. Beim Liebeswerben nämlich dreht die Autorin die Rollen einfach um. Hier geht die Frau aufs Ganze, nicht der Mann:
"Küss mich noch einmal, küss mich wieder, küss mich;
Lass mich den Köstlichsten von allen trinken,
Lass mich in deinem innigsten versinken;
Viermal, so heiß wie Kohle, küss ich dich.
Lass mich den Köstlichsten von allen trinken,
Lass mich in deinem innigsten versinken;
Viermal, so heiß wie Kohle, küss ich dich.
Ach, du beklagst dich? Dass dein Kummer schwinde,
Geb ich dir noch zehn andere, honigsüße.
Wie mischen wir so glücklich unsre Küsse,
Geb ich dir noch zehn andere, honigsüße.
Wie mischen wir so glücklich unsre Küsse,
Dass jeder seine Lust am anderen finde."
Revolutionäres Begehren
Die Literaturwissenschaftlerin Renate Kroll, die das gesamte Editionsprojekt "Femmes de Lettres" betreut, ordnet die Dichtung Labés folgendermaßen ein: "Sie gehört noch in die Renaissance-Dichtung hinein. Insofern ist sie auch dem Petrarkismus verhaftet. Das heißt, eine Dichtung, in der eine unerreichbare Dame angebetet und begehrt wird, also das sogenannte 'Paradoxe amoureux' – je mehr sich die Dame entzieht, umso mehr verlangt der Mann oder der Dichter nach ihr. Wenn jetzt eine Frau in derselben Weise nach dem Mann verlangt, ist dies revolutionär."
Natürlich wurde Louise Labé deswegen angefeindet, hatte aber auch Bewunderer und Fürsprecher, denen sie letztendlich ihren Ruhm verdankte. Und für ihren Nachruhm sorgte zum Beispiel Rainer Maria Rilke, der ihre Dichtung ins Deutsche übertrug.
Aufklärerin und Frauenrechtlerin von Ziegler
Gewichtige Fürsprecher hatte 150 Jahre später auch die 1695 in Leipzig geborene Christiana Mariana von Ziegler. Johann Christoph Gottsched ging in ihrem Leipziger Salon ein und aus. Johann Sebastian Bach vertonte Verse von ihr. Diese Frau, Tochter einer angesehenen Juristenfamilie, war ein intellektuelles Schwergewicht. 1728 trat sie mit dem zweibändigen Werk "Versuch in Gebundener Schreib-Art" literarisch hervor. 1730 wurde "die Zieglerin", wie sie genannt wurde, das erste und einzige weibliche Mitglied der Deutschen Gesellschaft, einer Sozietät nach dem Vorbild der Académie Française. In dem ihr gewidmeten zweiten Band der Reihe "Femmes de Lettres" unter dem Titel "Moralische und vermischte Sendschreiben" wird das Thema der dreimal verheirateten und mit einem üppigen Erbe ausgestatten Gelehrten deutlich sichtbar: weibliche Bildung und Frauenrechte.
Renate Kroll: "Sie führte ja einen Salon. Und sie war Streiterin und Verfechterin der Befreiung der Frauen aus ihren begrenzten Handlungsmöglichkeiten, begrenzten Rollenvorgaben in jener Zeit. Und damit traf sie natürlich auch auf andere Frauen, also zum Beispiel auf Sidonia Zäunemann, die sie bewunderten. Und da gab es Kreise, die sie sozusagen als Rollenmodell angesehen haben. Sie war berühmt für ihre Eloquenz und ihre literarische Begabung. Und da konnte sie sich gewisse Grenzsprengungen doch erlauben."
Ehe als Käfig
In ihrer "Abhandlung, ob es dem Frauenzimmer erlaubt sei, sich nach Wissenschaften zu bestreben?", "in der Deutschen Gesellschaft abgelesen" – so der lange Titel - redete die Zieglerin Klartext in puncto Benachteiligung des weiblichen Geschlechts:
"Doch es ist zu beklagen, dass sobald sich nur ein edler Trieb zu der und jener Wissenschaft, bei einem oder dem anderen Frauenzimmer äußert; sobald es die Feder ergreift, in gebundener oder ungebundener Schreibart seine Fähigkeit zu zeigen, es sich harten Urteilen, Lästern, Schmähen, und den empfindlichsten Begegnungen ausgesetzt sehen muss. Sogar angesehene und gelehrte Männer scheuen sich nicht, ihren blinden Eifer oft lächerlicher Weise darüber auszulassen. Sie tadeln das niederträchtige Gewäsche der Weiber, und verfallen doch selbst darein […]."
In ihren essayistischen Freundschaftsbriefen ermahnte sie immer wieder Frauen, sich Bildung anzueignen, und Mütter, ihre Töchter ja nicht zu früh zu verheiraten, denn "der Ehestand ist ein Käfig" warnte Christiana Maria von Ziegler.
Emanzipation durch Sprache und Bildung
Ist die Leipzigerin mit ihrer etwas gewundenen Rhetorik und ihrem zum Erhabenen neigenden Schreibstil eher anstrengend zu lesen, so kann man sich bei Françoise de Grafigny, Nummer drei der "Femmes de Lettres", in einen wahren Schmöker fallenlassen. Was keineswegs abwertend gemeint ist. Ganz im Gegenteil. Der Roman "Briefe einer Peruanerin" ist glänzend geschrieben und ein glühendes Plädoyer für Freiheit, weibliche Unabhängigkeit durch Aneignung von Sprache und Bildung, gewürzt mit geharnischter Kritik an der übersättigten französischen Kultur und Gesellschaft aus der Sicht einer Kolonisierten.
"Die größte Eitelkeit der Franzosen besteht darin, reich erscheinen zu wollen. Alles, Genie, Kunst und vielleicht auch Wissenschaft, alles ist mit äußerem Gepränge verbunden, alles trägt zum Ruin des Vermögens bei (…) Kurz gesagt, lieber Aza, das Überflüssige regiert in Frankreich so unangefochten, dass derjenige, der ein ehrliches Vermögen besitzt, als arm gilt, derjenige, der nur Tugenden besitzt, als hohl, und derjenige, der nur gesunden Menschenverstand besitzt, als töricht."
Eigener Lebensweg als Muster
In 41 monologisch verfassten Briefen schreibt Zilia, eine aus dem peruanischen Inkareich geraubte Sonnenjungfrau, an ihren zur Ehe bestimmten Inka-Prinzen Aza. Das Inkareich überfallen hatten die Spanier, von Franzosen aber wurde sie nach Paris verschleppt. Eine geschundene, missbrauchte und gedemütigte Frau, die sich den Avancen eines französischen Edelmannes verweigert und über Sprache und Bildung zur Unabhängigkeit gelangt.
Françoise de Grafigny hat für diesen Roman wohl ihren eigenen Lebensweg als Muster genommen. 1695 in Nancy geboren, wurde sie im Alter von 17 Jahren mit einem Kammerherrn des Herzogs von Lothringen verheiratet. Die Ehe muss die Hölle gewesen sein. Erst nach Jahren konnte sie der anhaltenden Gewalt und Brutalität durch Scheidung entkommen. Zunächst finanziell ruiniert, schwimmt sie sich als knapp 30Jährige frei, knüpft Kontakte, unter anderen zu Voltaire, findet Gönner, baut sich mit Mitte 40 allein in Paris eine eigene Existenz auf und gründet einen Salon. Der Roman "Briefe einer Peruanerin" wird zum Bestseller. Gegner dieser weiblichen Erfolgsstory meldeten sich allerdings auch reichlich zu Wort.
Neuschreibung der europäischen Literaturgeschichte
Die schön gestaltete Edition "Femmes de Lettres" könnte sich, so ist jetzt schon nach der Lektüre dieser drei Bände zu vermuten, zu einer wahren Schatzkammer vergessener und verdrängter Literatur von Frauen entwickeln. Dem Projekt werden vorerst keine Grenzen gesetzt. Es sollen immer weitere Fundstücke hinzukommen. Als nächstes die von Renate Kroll erwähnte Erfurter Dichterin und Feministin Sidonia Hedwig Zäunemann. Geplant ist auch ein Band zur englischen Schriftstellerin und Philosophin Margaret Cavendish. Bekanntlich eine der weiblichen Zentralfiguren im Werk der amerikanischen Autorin Siri Hustvedt.
Am Ende könnte diese Reihe wie andere ähnliche Publikationen von und zu schreibenden Frauen aus vergangenen Jahrhunderten dazu anregen, die Literaturgeschichte in ihrer Begrifflichkeit und ihren Epochenbestimmungen zu korrigieren. Derweil lesen wir diese blauen Bände mit Vergnügen, aber auch hin und wieder mit einer gewissen Beklemmung, wirken doch viele Texte mit ihren Fragen nach genderspezifischer Gerechtigkeit, nach unserem Verhältnis zur Natur und zu dem, was wir Zivilisation nennen, nach wie vor aktuell.
Louise Labé: "Torheit und Liebe"
Aus dem Mittelfranzösischen übersetzt von Monika-Fahrenbach-Wachendorff
Mit einem Nachwort von Elisabeth Schulze-Witzenrath
Secession Verlag, Zürich
208 Seiten, 20 Euro
Aus dem Mittelfranzösischen übersetzt von Monika-Fahrenbach-Wachendorff
Mit einem Nachwort von Elisabeth Schulze-Witzenrath
Secession Verlag, Zürich
208 Seiten, 20 Euro
Christiana Mariana von Ziegler: "Moralische und vermischte Sendschreiben"
Herausgegeben von Astrid Dröse
Secession Verlag, Zürich
238 Seiten, 20 Euro
Herausgegeben von Astrid Dröse
Secession Verlag, Zürich
238 Seiten, 20 Euro
Françoise de Grafigny: "Briefe einer Peruanerin"
Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Renate Kroll
Secession Verlag, Zürich
180 Seiten, 20 Euro
Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Renate Kroll
Secession Verlag, Zürich
180 Seiten, 20 Euro