Melanie Longerich: Catrin, Edward Snowden, der Mahner, der sein Leben, seine Karriere aufgegeben hat, um über permanente Massenüberwachung aufzuklären, was erfahren die Leser über den Menschen?
Catrin Stövesand: Eine ganze Menge. Da gibt er Etliches preis. Also der Mann ist ein Nerd, das wussten wir schon. Das Bild wird jetzt aber komplett, also mit der klassischen Spiele-Sozialisation, auch einer Besessenheit, muss man sagen. Der Mann war ein Hacker, schon in seiner Jugend. Er hat seine Zeit lieber vor dem Rechner verbracht. Nach eigener Wahrnehmung war er eher schüchtern. Aber das Verhalten, was er hier beschreibt, das spricht andere Töne. Da kann man schon mal ein ziemlich ausgeprägtes Ego rauslesen und, muss man auch sagen, eine gewisse Überheblichkeit. Das heißt, er beschreibt seine Zeit im Internet als, das war ihm damals heilig, das war ihm wertvoller als die Schule, da war er superfaul. Dann drohte letztlich ein Sitzenbleiben, und das umging er dann – man höre und staune –, indem er sich am Community College beworben hat und genommen wurde, auch ohne Schulabschluss. Alles in allem also ein überraschend gebrochener Bildungsweg, den er da beschreibt, und auch sein Plan, zum Geheimdienst zu gehen, der begann dann ziemlich holprig: und zwar über den Versuch, zunächst bei der Army zu landen. Wir kennen ihn, er ist eher der schmächtige Typ, das heißt, er ist da grandios gescheitert.
Die Vorbestimmung
Longerich: Also wirkt das eher ehrlich oder konstruiert?
Stövesand: Er zeichnet da natürlich schon so ein Bild, das ihn mit seiner Entscheidung und mit seinem heutigen Leben sozusagen leben lässt. Das heißt, er schildert seine ganze Kindheit und Jugend so, dass es schließlich darauf hinauslaufen musste, dass er diese Dinge ans Licht bringen würde. Eine ganz und gar teleologische Erzählung des eigenen Lebens, und das kann auch schon mal nerven. Zum Beispiel stellt er sich als echten und wahren Amerikaner dar. Er ist ein direkter Nachfahre der Siedler, die mit der Mayflower nach Amerika gekommen sind, schreibt er. Da wird dann sogar ein Teil der Ahnentafel aufgezählt. Außerdem eine Familie von Staatsdienern. Auch hier werden nicht nur Vater, bei der Marine, Mutter, unter anderem NSA, bemüht, sondern ebenfalls die Ahnenreihe derjenigen, die dem Land dienten. Zitat: "Meine Familie folgte stets dem Ruf der Pflicht" oder an anderer Stelle: "Meine Familie und meine Vorfahren haben jahrhundertelang diesem Land und seinen Bürgern gedient." Zu diesem Eigennarrativ gehört dann auch, dass auch schon der kleine, sehr pfiffige Edward stets Wege gefunden hat, Regeln, die er für sinnfrei hielt, zu umgehen. Also da feiert er sich manchmal richtig ab, und das liest sich dann doch schon sehr seltsam. Das sind Stellen, da fragt man sich, er hatte ja Hilfe beim Schreiben, warum das niemand geglättet oder vielleicht auch etwas selbstironisch verpackt hat.
Longerich: Selbstironie ist ja nicht jedermanns Sache, aber er erläutert ja in dem Buch noch mal ausführlich seine Motive. Warum also fühlte sich Snowden berufen, diese Vorgänge zu offenbaren, und wie glaubhaft sind seine Motive dabei?
Stövesand: In puncto Glaubwürdigkeit war ich ihm am Schluss deutlich gewogener als zum Beginn. Dazu muss man sagen, das Buch besteht aus drei Teilen. Teil 1, Kindheit und Jugend, da wirkt, wie schon gesagt, einiges konstruiert und auf das Ziel hingebogen, und die Motive, die er hier aufbaut, sind also Rechtschaffenheit, Landestreue, Verfassungstreue. Dann folgt seine Verarbeitung von 9/11, die Landestreue steigert sich, er unterstützt damals den Antiterrorkrieg, was er heute bedauert. Damals mit 20 entscheidet er, für die Geheimdienste arbeiten zu wollen, um sein Land im Antiterrorkampf zu unterstützen. Teil 2 handelt dann davon, wie er sein Land unterstützt, die Überwachung weltweit auszubauen, mal bei CIA, mal bei NSA, noch offenbar ohne Skrupel. Die Bewertung erfolgt dann erst später.
Also Edward Snowden schreibt, er habe erst nach und nach begriffen, dass diese Maßnahmen gegen die Bedrohung selbst zur Bedrohung wurden, also für die Demokratie, für die Freiheit, für die Privatsphäre des Einzelnen. Unter anderem merkt er das daran, dass die Daten zunächst Wochen und Monate und später für mindestens fünf Jahre gespeichert werden. Ziel sei dauerhafte Aufzeichnung, "permanent record": also der Titel des Buches. Man behält also alles solange, bis es irgendwann nützlich wird. Dass ihm das ganze Ausmaß erst mit Ende 20 aufgegangen sei, das beteuert er, na ja, nach meinem Geschmack ab und zu zu deutlich. Das wirkt dann entweder total naiv, muss ich sagen, oder sehr konstruiert. Ich vermute, das ist ein wenig von beidem. Tatsächlich ist der Groschen aber irgendwann gefallen, wann auch immer, und man liest doch sehr deutlich, wie sehr ihn dieses ganze Ausmaß der Überwachung gequält und abgestoßen hat und auch, dass er ein Teil des Ganzen war.
Spannender und authentischer Bericht
Longerich: Was sind dann jetzt die spannendsten Passagen des Buches?
Stövesand: Teil 3, ganz einfach. Also das sind nämlich die Kapitel, die konkret die Überwachungsmaßnahmen beschreiben und seine Vorbereitungen für die Enthüllungen. Zudem natürlich dann konkret diese Zeit in Hongkong. Er ist dahingereist, um sich mit den Journalisten zu treffen. Von dort aus die geplante Flucht nach Ecuador, die von den USA vereitelt wurde und ihn schließlich ja in Russland enden ließ. Klar, da findet sich zwar manchmal auch das eine oder andere technische Klein-Klein, das ich … Ich habe es am Wochenende gelesen und schon wieder vergessen, aber im Großen und Ganzen ist dieser Prozess, also der Entschluss, die langwierige Vorbereitung und die Ausführung sehr spannend geschrieben und wirkt auch sehr authentisch.
Longerich: Snowden ist jetzt 36 Jahre alt, seit sechs Jahren lebt er im Exil in Russland. Wie bewertet er seine Enthüllungsgeschichte denn heute?
Stövesand: Mit Stolz. Das liest man ganz deutlich raus. Also er berichtet davon, wie der Kongress Untersuchungen gegen die NSA geführt hat und ein Gesetz zum Schutz von Telefondaten verabschiedet hat, dass es eine Gerichtsentscheidung gegen die NSA-Methoden gab und so weiter. Heute würden die Daten im Netz viel mehr verschlüsselt. Er findet, das Internet sei ein sicherer Ort geworden als er es 2013 war, und das bringt er natürlich mit seiner Enthüllung in Zusammenhang. Dass er sich nach wie vor sicher ist, das Richtige getan zu haben, das liest man überall raus.
Ein neuer Anlauf
Longerich: Warum hat er das Buch gerade jetzt geschrieben?
Stövesand: Zur Veröffentlichung des Buches gab es ja einige Interviews, auch mit unserem Sender, und da wurde das Thema Asyl in Europa oder in Deutschland auch mal wieder thematisiert. Das Problem für Snowden war und ist ja, dass Länder, die mit den US-Geheimdiensten zusammenarbeiten, also fast alle, in denen sich ein Amerikaner vorstellen kann zu leben, die haben ja kein Interesse daran, ihm Asyl zu gewähren, um es sich nicht mit den USA zu verscherzen. So wie er sein Leben in Moskau schildert, ist das sicherlich okay, aber Russland war ja nie sein Ziel. Hören wir dazu mal kurz in das Interview.
Edward Snowden: Ich glaube, hier möchte jeder von mir hören, dass ich sage, ja, lassen Sie mich rein. Ich habe immer gesagt, ja, ich möchte in Europa leben können.
Stövesand: Es wirkt also einerseits ein bisschen wie ein Bewerbungsbuch, das jetzt gleichzeitig in verschiedenen Sprachen erscheint. Andererseits geht es natürlich auch um den Lebensunterhalt. Das schreibt er auch zum Schluss. Er hat Anwälte zu bezahlen et cetera pp, und selbst wenn er es am Schluss nicht geschrieben hätte, das Buch ist voller Product-Placement, also voller Werbung. Da ist der Himmel microsoftblau, er trägt Burberry, er hält auch in Moskau Burger King die Treue, wir erfahren, welche Softdrinks und welche Snacks er am liebsten mag. Das sind nur wenige dieser Stellen, und das bricht dann total mit dem Pathos, der dieses Buch trägt, und es verrät dann doch sehr viel darüber, worum es hier auch geht, nämlich, wenn auch total nachvollziehbar, aber eben mit dieser wirklich beachtlichen Lebensgeschichte noch mal richtig Geld zu verdienen.
Edward Snowden: "Permanent Record. Meine Geschichte",
S. Fischer Verlag, 429 Seiten, 22 Euro.
S. Fischer Verlag, 429 Seiten, 22 Euro.