Ein "Monument des historisches Stumpfsinns", sei sie gewesen, die deutsche Wiedervereinigung, und der europäische Zusammenschluss seit den 80er-Jahren ein "Meisterwerk technokratischer Bankrotteure". Da spricht ein Empörter. Mit den Entscheidungen der politischen Klasse zeigt er sich wenig einverstanden, und ihr übliches Delegitimierungsmittel – nämlich die Kritiker als halbseidene Gestalten zu denunzieren – wischt er mit einer Handbewegung fort:
"Wem die Volkssouveränität etwas bedeutet, den sollte die Beschimpfung als 'Populist' mit Stolz erfüllen."
Die Position scheint klar: Dieser Autor erhebt seine Stimme von außerhalb des Establishments; also muss er links sein. Oder kommt der Widerspruch aus einem ganz anderen Lager?
"Die Linke jedweder Schattierung trägt die Male des leninistischen Dracula-Bisses: Sie hat das Volk vergöttert und auf dessen demokratisch geformten Willen gepfiffen."
Egon Flaig gehört zur Riege der zornigen alten Männer. Mittlerweile ist Zorn ja kein Privileg der Jugend mehr, sondern eines des gesetzten Alters. Das hat substanzielle Vorteile – vielmehr: Vorteile in der Substanz –, denn die Jugend kann nur benennen und fordern, das Alter auch begründen. Unter den zornigen Alten ist Flaig, Jahrgang 1949, freilich der Benjamin und vielleicht deshalb mit juveniler Kraft versehen. Der Althistoriker betrachtet die Gegenwart vor einer zweieinhalbtausendjährigen abendländischen Tradition, die eine Erfolgs- und Befreiungsgeschichte sondergleichen darstelle: Befreiung von Bevormundung, Staatswillkür, Rechtlosigkeit und aus dem Joch der Religion.
Brillante konservative Publizistik
"Für eine säkulare Republik Europa" lautet daher der Untertitel seines furiosen Essays "Gegen den Strom", mit dem Flaig das nicht gerade üppig gefüllte Regal brillanter konservativer Publizistik bestückt. Seit dem Tode von Johannes Gross kurz vor der Jahrtausendwende gibt es kaum noch sprachmächtige und mit grimmigem Witz begabte Autoren aus dem rechtsintellektuellen Lager. Neben Flaig trifft das noch auf den scharfzüngigen Michael Klonovsky zu, doch dann kommt lange nichts. Dabei muss man Flaigs Thesen keineswegs zustimmen, um seinen Text mit heißem Gesicht lesen zu können, sticht er doch in gleich mehrere Wespennester: EU-Debatte, politische Partizipation, nationale Identität, Zukunft des Wohlfahrtsstaats und die Frage, ob der Islam eine Religion unter vielen sei – oder eine protofaschistische Ideologie, vor deren Machtanspruch der aufgeklärte Westen keinesfalls in die Knie gehen dürfe:
"Wenn die Scharia den Menschenrechten übergeordnet ist, dann gibt es keine Menschenrechte, dann gilt eben die Scharia. Das ist so, als hätten Stalin oder Hitler die Menschenrechte proklamiert und hinzugefügt: 'Alle diese Rechte unterstehen der kommunistischen Idee.' Beziehungsweise: 'Sie unterstehen der nationalsozialistischen Ordnung.'"
Gewiss, der Stammtisch fände hier ordentlich Munition für seine stummen Ressentiments – wenn er denn überhaupt läse! Doch diese Munition taugt etwas. Der Althistoriker verwendet keine Platzpatronen, sondern serviert eine argumentativ untermauerte Fundamentalkritik jener Religion, die ihre spirituellen Ansprüche zugunsten totalitärer Machtpraktiken aufgab, und das sehr früh. Ironischerweise – denn auf die antike Philosophie bezieht sich normalerweise das christliche Abendland – zeigten sich Korangelehrte als beste Schüler Platons, dessen totalitäre Gedanken eines "Idealstaats" sie ins Klerikale des Gottesstaates wendeten; das lässt sich in der islamischen Platonrezeption nachweisen. Die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Freiheitsrechten hatte und hat darin keinen Platz, meint Flaig, und die kurze arabische Hochkultur in Andalusien blieb eine Scheinblüte. Seither klafft die zivilisatorische Entwicklung zwischen islamischen Staaten und dem Westen weit auseinander:
"Unter Gesichtspunkten städtischer politischer Kultur – Selbstverwaltung, Partizipation der Bürger, Rathaus und öffentliche Plätze – ist das kleinste nordalpine Städtchen des Hochmittelalters den islamischen Riesenstädten überlegen."
Lesenswerte Polemik
Das ist polemisch, doch genau diese Polemik macht das Buch lesenswert. Wenn sie gelegentlich überschäumt, und der Text zum Hohelied des Christentums wird – das Flaig gleichwohl aus aller Politik verbannen will –, kann man das getrost als Schwärmerei verbuchen. Jede politische Richtung hat ihre eigenen Idole, Konservativismus ist ohne Glaubensfundament nicht zu haben. Dennoch kämpft Egon Flaig vorrangig an weltlichen Fronten. Er ist für den Universalismus der Menschenrechte, tritt für die Auflösung der EU in ihrer jetzigen Form ein, um sie durch einen von echten Wahlen kontrollierten Staatenbund jenseits der Regierenden-Willkür der Europäischen Kommission zu ersetzen. Den fürsorglichen Staat mit seiner Regelwut betrachtet er als Entmündigungsversuch und mahnt zu guter Letzt eine nationale Identität an, die auch noch in Zeiten der Lastenverteilung – statt wachsender sozialstaatlicher Umverteilung wie in den letzten 60 Jahren – unser Gemeinwesen stabil hält. Alles keine unbilligen Erwägungen, freilich alle quer zum trägen Strom jener politischen Mitte, die sich im Status quo gut eingerichtet hat. Wer jedoch – um im Bild zu bleiben – gegen den Strom schwimmt, riskiert, vom Wasser in die Gegenrichtung getragen zu werden. Und so erstaunt es nicht, dass sich etliche seiner liberalen Forderungen, etwa nach mehr Partizipation in Form von Volksabstimmungen, auch in linken Programmen wiederfinden. So groß, dass sich die Empörer nicht begegneten, ist die moderne Agora nämlich nicht. Und der Spiegel, der einem von Egon Flaig vorgehalten wird, scheint leise zu flüstern: Ihr alle, ob marxistische oder konservative Polemiker, seid Erben der Antike und der Aufklärung. Deswegen könntet ihr eigentlich ganz gut miteinander auskommen.
Egon Flaig: „Gegen den Strom“. Verlag zu Klampen, 254 Seiten, 22 Euro