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Ehemaliger BND-Chef Hansjörg Geiger
"Rechtspolitik kommt heute in der Öffentlichkeit weniger an"

Nur wenige Menschen bekamen Einblicke wie er: Hans Jörg Geiger. Zuerst arbeitete er bei der Stasi-Unterlagenbehörde, danach als Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Seit seines Jurastudiums habe er innerlich gefühlt, dass man sich um Gerechtigkeit bemühen müsse, sagte er im DLF. Doch Justizpolitik werde in Deutschland nur wenig Beachtung geschenkt.

Hansjörg Geiger im Gespräch mit Stephan Detjen |
    Professor Dr. Hansjörg Geiger (ehemaliger Chef der deutschen Geheimdienste, zunächst des Bundesamts für Verfassungsschutz, dann des Bundesnachrichtendienstes) auf dem Podium während einer Diskussion an der Universität Bielefeld.
    Professor Dr. Hansjörg Geiger auf dem Podium während einer Diskussion an der Universität Bielefeld (picture alliance/ dpa/ Robert B. Fishman)
    Es gibt Spitzenbeamte, die werden quer durch alle Parteien für ihre Kompetenz und Hellsicht geschätzt. Sie tauchen deshalb auch unter Regierungen ganz unterschiedlicher Couleur in wichtigen Funktionen auf – und oft an zukunftsweisender Stelle.
    Hansjörg Geiger war schon Datenschützer für das Land Bayern, im Jahr 1980, als die Bundesrepublik das Wort Datenschutz noch kaum kannte. An der Seite von Joachim Gauck managte der gelernte Jurist ab 1990 den Aufbau der Stasi-Unterlagen-Behörde. Dann wechselte Geiger die Seiten: von der Auflösung eines Geheimdienstes - hin zur Leitung eines Geheimdienstes, des Bundesverfassungsschutzes. Dort schlug Geiger sich so gut, dass ihm 1996, nach kaum einem Jahr, der weit schwierigere Posten im Auslandsgeheimdienst übertragen wurde: Geiger wurde Präsident des Bundesnachrichtendienstes, schon damals eine von Skandalen gebeutelte Behörde.
    Seine Kompetenzen als Erneuerer von bürokratischen Mammutgewächsen wurden auch in der rot-grünen Bundesregierung erkannt, im Herbst 1998 frisch gewählt. Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin machte Geiger zu ihrem Staatssekretär. Wo Däubler-Gmelin das Gespür für Diplomatie oft abging, gelang es Geiger, korrekte Inhalte mit ansprechender Verpackung zu verbinden. Nachgerade als Wunder wurde es beschrieben, dass Geiger das Justizministerium komplett aus Bonn nach Berlin verlegen konnte. Alle anderen Bundesministerien müssen bis heute damit leben, dass ihr Apparat zwischen Bonn und Berlin aufgeteilt ist. Mit dem Regierungswechsel 2005 wurde Geiger pensioniert. Heute setzt er sich in der Alexandra-Lang-Stiftung für Patientenrechte ein - etwa dafür, dass Patienten ihre eigenen Akten einsehen können. Heute 73 Jahre alt, ist Geiger seinem Leitwert, der Transparenz, treu geblieben.

    "Es ging eigentlich immer aufwärts, es ging immer aufwärts. Ja, ich gehöre einer glücklichen Generation an."
    Ein heimatvertriebenes Kind aus Brünn, das nach dem Krieg im Allgäu als Fremder aufwächst
    Stephan Detjen: Herr Geiger, Sie sind ein Flüchtlingskind, geboren 1942 im mährischen Brünn, dann wurde die Familie, wie so viele andere, vertrieben, ging ins Allgäu. Wirkt diese Familiengeschichte heute bei Ihnen nach?
    "Ich betrachte mich nicht als Flüchtling, sondern Heimatvertriebener"
    Geiger: Natürlich wirkt das nach, wobei ich mich nicht als Flüchtling, sondern als Heimatvertriebener verstehe. Die Familie ist 1946 ausgesiedelt worden, wie das heißt. Natürlich wirkt das nach. Ich habe als kleines Kind erlebt – und das ist mir später erst bewusst geworden, wie das nachgewirkt hat –, dass nichts sicher ist, und so war wohl auch das, was mir von Urgroßmutter, Großmutter und Mutter indirekt vermittelt worden ist, dass man aus etablierten jahrzehnte-, fast jahrhundertlangen Lebensverhältnissen herausgerissen werden kann und plötzlich aus einem gesicherten Leben in ein extrem ungesichertes, armseliges, völlig verändertes Leben geworfen werden kann und man deswegen auch nicht weiß, wie es weitergeht. Ich war damals sehr klein, aber ich habe den Gesprächen der Älteren eben zugehört oder halb zugehört, da ist mir das deutlich geworden, und das, glaube ich, hat mich ein Leben lang geprägt. Man sollte sich nie zu sehr auf das verlassen, was gerade ist.
    Detjen: Und diese Erinnerung an das Schicksal von knapp zwölf Millionen Menschen, die damals am Ende des Zweiten Weltkrieges vertrieben wurden, Deutsche, die dann in Deutschland, West und Ost, wieder aufgenommen wurden, das prägt ja auch die Gespräche, die wir heute wieder in Deutschland führen. Wie war das für Sie damals, als ein Kind, das seine Heimat verloren hat, eine Familie, die alles verloren hat, aus sehr bürgerlichen Verhältnissen kamen, dann da im Allgäu als Fremde ankommen?
    Geiger: Als Kind – und selbst die Familie war natürlich fremd, wie ich sagte, Urgroßmutter, Großmutter und Mutter waren da –, ich lebte dann bei der Großmutter im Wesentlichen in einem kleinen Dorf mit zwei- bis dreihundert Einwohnern, und auch unter den Kindern war ich etwas anderes. Das fühlte ich. Die Eltern der anderen waren Bauern – ich war in einem Bauerndorf –, waren etabliert, waren eingerichtet, wir waren da eben etwas anderes, und ich auch als Kind war irgendwie geduldet. Ich durfte schon mit den Bauerskindern spielen, durfte da auch in die Küche kommen und da vielleicht sogar mal abspülen als Vier-, Fünfjähriger, weil man dann wieder auf das Feld ging, wie man das im Allgäu gesagt hat, wenn man Heu gemacht hat, aber ich war was anderes. Ich hätte nämlich einen sehr guten Schulweg, der war so gut zwei Kilometer in einem hundert Meter höher gelegenes anderes Dorf, wo die Schule war, da hatten die anderen, die Büchsen oder die für die Nahrungsaufnahme – es gab ja damals diese Schulversorgung aus dem Krieg der Eltern, der Väter –, das waren ganz stabile Behältnisse. Ich hatte, von meiner Mutter gekauft, einen hauchdünnen Aluminiumzylinder, und die anderen machten sich eine Riesenfreude darauf mit ihren militärisch-hartgestählten Essensbehältnissen auf meinen einzuschlagen, der dann auf das halbe Format schrumpfte, was auch bedeutete, dass ich bei der Schulspeisung auch nur noch die Hälfte bekommen habe. Also man hat deutlich gemacht, da ist man eben ein anderer. Andererseits habe ich da auch gelernt, dass man sich eben auch durchsetzen muss, dass man nicht der Unterlegene sein will, das wollte ich nie, sondern dass man gegebenenfalls schauen muss, wie man vielleicht mit geistiger Anstrengung dann seinen Jungen steht – Mann ist vielleicht zu viel, würde nicht passen.
    Detjen: Prägen diese Erfahrungen, diese Erinnerungen die Haltung, die Sie heute haben zu den Diskussionen, zu den Gesprächen, die wir hier in Deutschland führen über die Integration von Flüchtlingen?
    Geiger: Ja, das ist für mich wichtig. Für mich ist wichtig, dass wir den Menschen, die im Land sind, in einer Weise helfen, dass sie die Chance haben, wenn sie hier bleiben wollen, auch tatsächlich ihren Weg gehen zu können.
    Detjen: Rückblickend gehören Sie zu einer glücklichen Generation, die die Chance hatte, einen Lebensweg, einen interessanten Lebensweg zu führen, der eigentlich immer aufwärts ging.
    Geiger: Das ist richtig, ja, das sehe ich auch genauso, und mit meiner Alterskohorte spreche ich auch manchmal darüber, bespreche ich das, dass wir unglaublich Glück hatten. Dass die Zeiten zum Teil elend waren, das merkt man als Kind nicht. Wenn es einem nicht besonders gut geht, wenn es eben bescheiden ist, dann ist das das Normale. Darunter habe ich nie gelitten, das war eben so, und es ging eigentlich immer aufwärts, es ging immer aufwärts, sowohl schulisch – man kommt dann auf das Gymnasium und dann studiert man – und beruflich ging es bei mir tadellos voran. Also ja, ich gehöre einer glücklichen Generation an.
    Detjen: Beruflich ging es tadellos voran – das ist eine schöne, bescheidene Umschreibung für einen ungewöhnlich interessanten, vielfältigen beruflichen Lebensweg, über den wir hier sprechen wollen, viele interessante Stationen: am Anfang steht ein Jurastudium in München, Tätigkeiten als Staatsanwalt, Richter, Beamter im bayrischen Justizministerium, dann 1990 Aufbau der Gauck-Behörde in Berlin, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Geheimdienstchef, Staatssekretär im Bundesjustizministerium, heute aktiv in einer Stiftung, die sich um Patientenrechte kümmert. Was ist der rote Faden in dieser Karriere, und wo fängt er an?
    Geiger: Der rote Faden fängt spätestens mit dem Jurastudium an, das mir deutlich gemacht hat, was ich eigentlich innerlich gefühlt habe, dass man fair sein muss, dass man gerecht sein muss, dass man sich um Gerechtigkeit bemühen muss, und gleichzeitig ist der rote Faden, dass man selbst der Herr seines Schicksals ist, dass man sich selbst bemühen muss und nicht auf andere setzen kann, setzen darf, sondern selbst engagiert tut, arbeitet und mit eigener Leistung auch andere dann überzeugt, und das ist die Motivation, die ich habe. Ich habe immer gern gearbeitet, tue das heute noch. Das andere ist, wie gesagt, die Gerechtigkeit, Fairness im Umgang mit anderen, Achtung der Würde des anderen, das ist mir auch etwas sehr Wichtiges, den anderen als Menschen zu schätzen, egal, welche Rolle er hat und wer er ist.
    Am 5. September 1990 demonstrieren Bürger für eine Einsicht in ihre Stasiakten.
    Am 5. September 1990 demonstrieren Bürger für eine Einsicht in ihre Stasiakten. (dpa / picture-alliance / Hammer)
    "Es war immer wieder so, dass Herr Gauck irgendwas gesagt hat, und ich habe ein Adjektiv gehört, das ich seit Jahren nicht gehört und gelesen hatte und ich das Gefühl hatte, exakt das ist das Adjektiv, das genau jetzt auf Millimeter genau die Situation beschreibt."
    Aufbau von etwas nie Gewesenem, die Behörde zur Abwicklung der Staatssicherheit, die sogenannte Gauck-Behörde
    Detjen: Sie sagen selber gestalten, selber in die Hand nehmen, und trotzdem ist Ihre berufliche Karriere auch ein Beispiel dafür, wie dann immer wieder Zufälle, der Weg, der Gang der Geschichte in so einen Lebensweg eingreift, und wir machen jetzt gleich mal einen Sprung, an den Punkt, wo Sie dann auch zum ersten Mal in einer politischen Funktion auch im Licht der Öffentlichkeit stehen: 1990, da wird die Stasiunterlagenbehörde aufgebaut, Chef ist Joachim Gauck, Sie werden Direktor, also Verwaltungschef dieser Behörde in Berlin. Man konnte das damals so wahrnehmen, dass es ein typischer Aufpasserjob für einen Wessi war, weil man dem Behördenchef Gauck, dem Ossi, nicht traute. Das war aber anders, oder?
    Geiger: Es war deswegen anders, weil Herr Gauck mich ausgesucht hat. Er hatte das Riesenglück, dass er in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Stasiausschusses in der frei gewählten Volkskammer den Berliner Datenschutzbeauftragten Hans-Jürgen Garstka kennengelernt hatte, und den fragte er eines Tages, nachdem man sich eben nicht von Bonn jemanden zuweisen lassen wollte, ob er ihm eine Empfehlung geben könnte. Garstka und ich kennen uns seit fast Studientagen, waren beide im Datenschutz tätig, ich in München, er in Berlin, und nannte meinen Namen und kam dann zu einem Kontakt mit Herrn Gauck. Nach einem vierstündigen Gespräch merkten wir, dass wir auf einer sehr ähnlichen Wellenlänge sind, obwohl er der Norddeutsche, ich von den Alpen aufgewachsen, er der Protestant, ich der Katholik, er der Ostdeutsche, ich der Westdeutsche, eigentlich die Gegensätze waren so stark …
    Detjen: Er der Theologe, Sie der Jurist.
    Geiger: Also eigentlich konnten. Also, wir waren konträr, merkten aber, dass wir in vielen Dingen die Welt, trotz des unterschiedlichen Lebensweges bis dato, ganz ähnlich bewerten. Nach vier Stunden war irgendwie klar, dass das was werden soll, werden würde, und er fragte mich – es war ein Dienstagvormittag –, ob ich am Donnerstag wieder von München nach Berlin kommen könnte, weil dann der Aufbaustab des Bundesinnenministeriums, vor dem er Angst hatte, dass der eben alles bestimmt und in die Hand nimmt, Vorstellungen machen würde, ob ich da gleich mitkomme, und da war ich dann wieder da, und abends führten wir das erste – Herr Gauck und ich – live Rundfunkinterview. Das war natürlich eine Frechheit: ich, der das Wort Stasi nun gerade erst buchstabieren konnte.
    Detjen: Wenn Sie heute den Bundespräsidenten Gauck sehen, wo erkennen Sie diesen Gauck der frühen politischen Jahre wieder, den Sie damals 1990 in Berlin kennengelernt haben?
    Geiger: Ich erkenne wieder einen Menschen, der unglaublich schnell lernt, sich auf neue Gegebenheiten wahnsinnig schnell einstellen kann, der sehr schnell bewerten kann, ob das, was man ihm sagt, seinem Ethos, seinem Lebensgefühl, seiner Lebenserwartung, -erfahrung entspricht, und der das dann unglaublich schnell in eigene Worte umsetzen kann. Das war mir auch zum Beispiel völlig überraschend: der frühe Gauck, der es von mir ja wissen wollte, die Juristerei, was eine Behörde hält, was in einem Rechtstaat gilt, was das Grundgesetz sagt, was da die Regeln sind in einem Rechtstaat, der das unglaublich schnell aufgenommen hat, der das von mir lernen wollte, und es dauerte eigentlich gar nicht lange, wenn wir gemeinsam auch mal Gespräche im Bonner Bundesinnenministerium oder in anderen Ministerien hatten, dass nach ein, zwei Jahren viele Leute, die Gauck vorher nicht kannten, glaubten, er sei Jurist. Er war also in der Lage, das unglaublich in eigene Worte umzusetzen, also aufzunehmen, und das sehe ich jetzt auch als Bundespräsident, wie er in unterschiedlichsten Ländern, unterschiedlichsten Rollen, die man so da hat, unglaublich schnell merkt, aufnimmt, Situationen erkennt, was brauchen die Leute, die jetzt da sind, sei es eine Flüchtlingsgruppe, was sagt die ihm, wie muss er, wie will er darauf reagieren. Also das erkenne ich in ihm wieder, das prägt ihn, glaube ich, ganz stark. Was ich natürlich von Anfang an gemerkt habe und die Jahre auch immer an ihm besonders bewundert habe, ist die Gabe der Sprache. Es war immer wieder so, dass Herr Gauck irgendwas gesagt hat, und ich habe ein Adjektiv gehört, das ich seit Jahren nicht gehört und gelesen hatte und ich das Gefühl hatte, exakt das ist das Adjektiv, das genau jetzt auf Millimeter genau die Situation beschreibt. Also diese Gabe habe ich also bewundert, und das merke ich auch heute noch, wenn ich seinen Reden zuhöre.
    Detjen: Und Sie kamen dann allerdings zusammen mit einer Aufgabe, und da waren Sie dann besonders dafür zuständig, die dann zunächst mal Organisation erforderte, also aus dem Nichts diese riesige, physisch, aber natürlich auch historisch und politisch fast überwältigende Hinterlassenschaft dieses Stasiapparates in den Griff zu bekommen aus dem Nichts damals.
    Geiger: Es war wirklich nichts. Es waren Mitarbeiter des Bundesarchivs, die offensichtlich mal sich die Aktenmassen angesehen hatten – nach damaliger grober Schätzung 204 Kilometer Akten, also am Rücken gemessen –, Akten die zum großen Teil ungeordnet hinterlassen waren vom MfS, die nun durchgesehen werden sollten daraufhin, ob sich dort Anhaltspunkte finden, ob Personen, die wieder jetzt in den neuen Dienst des Bundes und der Länder aus Ostdeutschland eingestellt werden sollten, eine Stasiverstrickung haben. Also die Akten sollten ausgewertet werden. Wir wussten nicht mal, was genau an Akten da ist. Wir hatten dann nach relativ kurzer Zeit nur erfahren, dass die größte Kartei – eine Namenskartei – sechs Millionen Karteikarten enthält und allein diese Kartei eineinhalb Kilometer lang ist, wenn man die Kartei hintereinandergestellt hätte. Ansonsten wussten wir eigentlich relativ wenig. Man wusste nicht, wie geht man damit um. Es gab ja keinerlei Erfahrungen mit dem Aufbau einer Geheimdienstauflösungsbehörde.
    Akten in der Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin
    Akten in der Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin (imago / epd)
    "Was mir besonders aufgefallen ist, war, wie tough die Frauen in der DDR waren oder wie tough sie sind, das war mein Eindruck."
    Detjen: Sie mussten damals viele Leute einstellen, diese Behörde musste wachsen, sie brauchte viel Personal. In kurzer Zeit wurden Hunderte, Tausende von Mitarbeitern eingestellt. Wir haben am Anfang des Gesprächs drüber gesprochen, wie Sie da als Heimatvertriebener ins Allgäu kommen und dann als Deutscher neue Deutsche kennenlernen. Jetzt war das wieder eine Begegnung mit anderen neuen Deutschen, wieder ein Stück Begegnung, Fremdheitserfahrung wahrscheinlich auch. Was für Menschen haben Sie da kennengelernt?
    Geiger: Was mir besonders aufgefallen ist, war wie tough die Frauen der DDR waren oder wie tough sie sind, das war mein Eindruck. Das war wirklich überraschend. Sie trugen den Kopf hoch, waren selbstbewusst, waren gewohnt, Entscheidungen zu treffen, und gleichzeitig hatte ich den Eindruck, dass es viele Männer gab, die vom System unterdrückt waren, die eher dem Blick ausgewichen sind und eher bereit waren, auf Weisungen zu arbeiten, während die Frauen durchaus nachgefragt haben, warum sie eine bestimmte Aufgabe in einer bestimmten Weise erledigen sollten. Also das fand ich sehr positiv, das war mir also ganz deutlich aufgefallen, das war auch der Grund, warum ich geschaut habe, dass erstens Mal viele Frauen eingestellt werden in die neue Behörde, weil ich wusste, das sind toughe Leute. Ich habe auch Wert gelegt, dass gerade Frauen in Führungspositionen gekommen sind. Wir waren, glaube ich, die erste Behörde, die im Führungspersonal eine Mehrheit an Frauen hatte. Das lag einfach daran, dass sie tough und gut waren. Das war also Qualität, die die Frauen geboten haben, und ich merkte auch, dass die Männer absolut bereit waren – was Westdeutsche damals noch nicht so ohne Weiteres waren –, Weisungen und Vorgesetztenrollen von Frauen zu akzeptieren.
    Detjen: Es hatte ja vorher in der Zeit der Wiedervereinigung Stimmen gegeben, gerade aus Westdeutschland, zum Beispiel der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, die sich dafür ausgesprochen hatten, diese Stasiunterlagen komplett zu vernichten, weil man fürchtete, da ist so viel Gift drin, dass die Gesellschaft, die zusammenwachsende deutsche Gesellschaft spalten würde. Man ist dann einen anderen Weg gegangen. Rückblickend, was ist eigentlich der Wert dieser Stasiunterlagen und ihre Erschließung für Deutschland gewesen?
    Geiger: In mehrerlei Hinsicht war das ein wichtiger Wert. Es war zum einen unglaublich wichtig für die Menschen, die in der DDR gelebt haben, feststellen zu können, ob die Stasi auf ihren Lebensweg Einfluss genommen hat, ob der Grund für ein Versagen nun eine Tätigkeit dieser Staatssicherheitsbehörde gewesen ist, weil sie dafür Sorge getragen hat, dass man eine Stelle nicht bekommen hat, dass man nicht studieren durfte, oder ob es auf Eigenleistung war – das zu wissen. Zweitens, zu wissen, wenn die Stasi einen im Visier hatte, wer da Zuträger für die Stasi war oder auch zu wissen, es war keiner meiner Freunde. Auch das ist eine große Erleichterung. Schließlich kommt etwas ganz Entscheidendes hinzu: das merken wir an den anderen Ostblockstaaten, die diesen Weg des umfassenden Nutzens der Stasiakten nicht gegangen sind, dass die Stasioffiziere weiter dann die Geheimnisträger gewesen wären. Sie hätten gewusst, was war oder behaupten können, sie wussten Geheimnisse über andere Leute, über einen Ehebruch oder für andere dunkle Seiten, und wenn ich weiß, in einer Gesellschaft gibt es eine Gruppe von Leuten, die Geheimniswissen haben, möglicherweise über mich, dann ist das wie ein schwelendes Gift, das immer dasteht, wie eine schwarze dunkle Wolke, die steht, und die Macht der Stasi haben wir damit komplett gebrochen. Das war der Hinweis, die Stasi kann nicht mehr regieren, denn die Akten waren offengelegen, und das war auch eine ganz große Entscheidung für die Gesellschaft insgesamt. Ein Geheimdienst, der offen ist, von dem sie den Schleier des Geheimnisvollen wegreißen, steht nackt da.
    Hansjörg Geiger beim "Zeitzeugen"-Gespräch mit Stefan Detjen
    Hansjörg Geiger beim "Zeitzeugen"-Gespräch mit Stefan Detjen (Deutschlandradio / Tanja Bogdan)
    Detjen: Es wird ja heute wieder über die Zukunft dieser Akten und auch der Behörde gesprochen, die Akten sollen übergehen in den Bestand des Bundesarchives. Würden Sie sagen, man kann die heute behandeln als normale oder fast normale zeithistorische Dokumente?
    Geiger: Inzwischen sind 25 Jahre vergangen, und die Sondersituation, die wir 1990 hatten, als wir bei der Abwägung, ob der Einzelne seine Akten sehen darf, wo er möglicherweise auch Informationen über andere …, denn es war ja nicht nur über eine Person Akten, sondern in einer Akte zur Person A waren meist noch Informationen von den Personen B, C, D, E enthalten. Es war immer das Risiko, dass man, wenn man diese Akten öffnet und diese Akteneinsicht gewährt, dass man auch damit Geheimnisse über andere Personen doch mehr oder weniger preisgibt. Diese Sondersituation haben wir heute nicht mehr. Heute hatten die Leute 25 Jahre Zeit, die Akten einzusehen, und jetzt, meine ich, sollten die Akten tatsächlich als Sonderbestand zum Bundesarchiv kommen, und die Nutzung der Akten sollte im Wesentlichen auch nach den Regeln des Archivgesetzes unter bestimmten Besonderheiten dieses Aktengutes erfolgen. Ein großer Vorteil übrigens der Stasiakten, und das macht das Besondere aus: die Stasiunterlagen sind ja weitgehend komplett, und ich meine, man muss sie weiter komplett besehen, weil man nämlich als Zeithistoriker plötzlich über das Leben in der DDR Rückschlüsse ziehen kann. Wenn Sie in einer Stasiakte lesen, dann sehen Sie häufig unglaublich Banales, was die inoffiziellen Mitarbeiter berichten. Da wird über das geblümte Kaffeegeschirr und über die Kaffeedecke berichtet oder was die Leute anhatten oder wie die Wohnungseinrichtung war, was die Leute so allgemein geplaudert haben. Das heißt, über den eigentlichen Stasikontext hinaus sehen wir unglaublich viel oder können wir unglaublich herauslesen, wie war das Leben der DDR.
    Das Bundesamt für den Verfassungsschutz in Köln
    Das Bundesamt für den Verfassungsschutz in Köln (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    "Es war für mich eine unglaublich positive Überraschung, als ich beim Bundesamt für Verfassungsschutz festgestellt habe, wie unglaublich rechtstaatlich orientiert die Mitarbeiter dieses Amtes waren."
    Eine kurze Station als Chef des Bundesverfassungsschutzes
    Detjen: 1995, Herr Geiger, nach fünf Jahren bei der Stasiunterlagenbehörde, gibt es dann einen beruflichen Wechsel. Der ist an sich nichts Besonderes, aber besonders ist dann, wohin diese Karriere führt: Sie haben sich jahrelang mit Hinterlassenschaften eines fürchterlichen Geheimdienstapparats beschäftigt, und dann werden Sie selber Geheimdienstchef, zunächst beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Was war das für eine Behörde?
    Geiger: Das war natürlich ein Riesenbruch, der mit meinem Leben überhaupt nicht bisher vereinbart war. Ich war jahrelang Datenschützer, und da sind die Sicherheitsbehörden eher quasi die, die auf der anderen Seite stehen, deren Datenfreude man eher etwas bekämpft und eingrenzt, und dann war ich jetzt bei der Stasiaktenbehörde und habe quasi einen Geheimdienst auch aufgelöst und sie bloßgestellt, und jetzt plötzlich bin ich selbst Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Das war schon für mich auch ein eigenartiger Bruch, aber einerseits war mir klar, ich will weiter Geiger sein, ich will die gleiche Person bleiben, rechtstaatlich agieren, und da kann ich sagen, das war für mich eine unglaublich positive Überraschung, als ich beim Bundesamt für Verfassungsschutz festgestellt habe, wie unglaublich rechtstaatlich orientiert die Mitarbeiter dieses Amtes waren. Ich war wirklich positiv überrascht. Ich habe das in dieser Weise nicht erwartet. Wie mir zum Teil auch Mitarbeiter gesagt haben, ja, aber Paragraf Sowieso des Gesetzes erlaubt das oder jenes nicht oder wir müssen das in einer bestimmten Weise machen. Das wundert einen vielleicht, das erwartet man nicht, aber so habe ich das also ganz stark empfunden und habe es die ganze Zeit auch gesehen. Übrigens in diesem Zusammenhang ist vielleicht auch Folgendes interessant: damals war Bundesinnenminister Kanther, und Herr Kanther legte Wert darauf, dass wir uns einmal im Monat zu zweit in einem kleinen winzigen Raum treffen, und wir haben dann so ein zweistündiges Gespräch gehabt, bei dem ich über meine aktuellen Erfahrungen berichtet habe und auch über Aktionen, die ich vorhabe oder die das Haus vorhat, und zu meiner großen Überraschung war Kanther eher derjenige, der mich gebremst hat bei manchen Sachen, der eher gesagt hat, haben Sie das auch bedacht. Ich hatte eher gedacht, Kanther so eine …
    Detjen: Der hatte ja den Ruf des Hardliners und Law and Order ...
    Geiger: Das war der Ruf, und ich habe gemerkt, einen sehr nachdenklichen, mich eher bremsenden Menschen erlebt.
    Detjen: Als Verfassungsschutzchef hatten Sie damals dann Zugriff auf höchste Staatsgeheimnisse, jedenfalls auf sicherheitsrelevante Informationen. Wie war das, wenn Sie da zum ersten Mal den Tresor im Amtszimmer öffnen oder in den Giftschrank der Behörde gehen und da mal nachschauen, was gärt da eigentlich so in diesem Land?
    Geiger: Ja, vielleicht zwei Gesichtspunkte, einer auch zu Personen: der Verfassungsschutzchef erfährt ja auch, weil das Bundesamt für Verfassungsschutz auch für die Spionageabwehr zuständig ist, ob hochrangige Parteipolitiker möglicherweise in dem Verdacht stehen, für eine andere Macht zu arbeiten, und der Verfassungsschutzpräsident geht dann, wenn so ein Verdacht aufkommt, sehr schnell frühzeitig zum ehemaligen Parteivorsitzenden, um darüber zu berichten, um vielleicht auch gleich eine andere Einschätzung zu bekommen, einen Hinweis zu bekommen, was man noch im Positiven, im Negativen, eher im Positiven auch berücksichtigen sollte, wenn man diesen Verdacht weiter nachgeht. Das war für mich zum Beispiel schon auch interessant und ist ja auch eine Belastung, denn das waren ja meistens Leute, die ich schon längst aus den Medien gekannt haben, vielleicht auch persönlich gekannt habe, und dann auch zu sehen, wie reagieren dann die jeweiligen Parteivorsitzenden, wenn man mit so etwas kommt. Das war interessant, und was weiteres, was in meiner Zeit auch am Anfang gleich war: Es war 1995, das Jahr der vielen Demonstrationen und auch gewalttätigen Aktivitäten von Kurden, es gab Autobahnblockaden, es sind Polizeibeamte angegriffen worden, es sind türkische Geschäfte angezündet oder sonst beschädigt worden, und war die Frage, wie reagieren wir darauf, und ich habe dann in wenigen Wochen, dachte ich mir eigentlich, wir müssen mit dem Chef der Kurdenorganisation, der PKK, sprechen, mit Öcalan. Ich habe also bereits, nachdem ich drei Wochen im Dienst war, einen Abteilungsleiter zu Öcalan geschickt, der damals in Syrien lebte, und das Ergebnis war, dass dann tatsächlich wir Öcalan klargemacht haben.
    Detjen: Sie haben ihn getroffen dann.
    Geiger: Der Abteilungsleiter, und es war – war besprochen, was er sagt – ihm klargemacht worden, dass er die kurdische Gemeinschaft in Deutschland gefährdet, denn das wird dann härtere Polizeimaßnahmen geben müssen, das können wir so nicht akzeptieren, was hier in Deutschland geschieht, dass dann tatsächlich Ruhe eingekehrt ist.
    Das Siegel des Bundesnachrichtendienst (BND)
    Das Siegel des Bundesnachrichtendienstes (picture alliance / dpa/ Michael Kappeler)
    "Der BND hat international ein viel besseres Renommee, als das so in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wird."
    Vom Versuch, den Auslandsgeheimdienst und den politischen Umgang mit ihm transparenter zu machen
    Detjen: Sie hatten damals einige Reformen angestoßen, aber dann nach kurzer Zeit – Sie haben das gerade auch angedeutet – schon wieder gewechselt nach einem knappen Jahr.
    Geiger: Ich wurde gewechselt.
    Detjen: Sie wurden gewechselt, in eine andere Position gerufen, nämlich dann Chef des Bundesnachrichtendienstes. Der war wegen der damaligen Plutoniumaffäre, da ging es um den Schmuggel von Plutonium mit Hilfe vom BND-Agenten von Moskau nach München, also dieser BND war ein Sanierungsfall eigentlich, oder?
    Geiger: Die Aufgabe, die man mir gestellt hat – weil man mir das Amt nicht angetragen, sondern übertragen hat, bin da eigentlich kaum gefragt worden –, war klar, ich sollte das Amt quasi von Ballast bereinigen, weitere Aufgabe war, dass man der Überzeugung war, der BND brauche jetzt in der friedlichen Welt – man merkt den Zwiespalt der Welt –, es kann kleiner werden, es kann Geld gespart werden, man wusste ja auch, man braucht ein wenig Geld für andere Zwecke …
    Detjen: Fehleinschätzung?
    Geiger: Das war damals sicher, in der politischen Klasse, eine Fehleinschätzung, ein Fehleinschätzung, die der BND auch so nicht geteilt hat. Der Ballast war, dass der BND eigentlich noch sehr stark ausgerichtet war auf den ehemaligen Ostblock. Das waren die großen Fähigkeiten des BND, das waren auch seine gewünschten, zu erledigenden Aufgaben in der westlichen Staatengemeinschaft, dass er den Blick auf die Sowjetunion, auf dann Russland eben hält, und es war klar, dass die Welt sich aber verändert hat, dass es nicht mehr wichtig ist, zu wissen, ob mit 21 einer hinter dem Ural, Oberstleutnant Popov sitzt, sondern es ging jetzt plötzlich um ganz neue Aufgaben. Es ging darum, internationalen Terrorismus verstärkt zu beobachten, es ging aber auch darum, Proliferation als neues Thema zu erkennen. Das war ja … vorher gab es die Proliferation ja eigentlich kaum, denn die Sowjetunion hat verhindert, dass in ihrem Machtbereich und auch die, die ihr nahestanden, eben keine Atomwaffen gelangen. Die Amerikaner haben genau das gleiche gesorgt, auch der westlichen Gemeinschaft. Jetzt war plötzlich die Welt anders, jetzt waren viele Spieler plötzlich auf dem Markt, die man beobachten musste, was daraus kommt, oder was mir zum Beispiel sehr deutlich war, was wir beobachten müssen, ist, wie entwickeln sich die Bevölkerungen, wo gibt es möglicherweise Wasserprobleme, wo wird es Fluchtbewegungen geben. Ich erinnere mich sehr gut, wenn ich in den Jahren als ich BND-Chef war, wo man also intensive Gespräche auch mit den westlichen Chefs der Nachrichtendienste hatte, ich häufig gesagt habe, irgendwann wird aus Afrika eine unglaubliche Bevölkerungs- und Migrationsbewegung kommen. Der Kontinent wächst personell sehr stark, aber die Ressourcen und die Organisationsfähigkeit wachsen nicht im gleichen Maße, das heißt, wir müssen uns darauf einstellen müssen, wir müssen dafür etwas tun.
    Detjen: Hatten Sie das Gefühl, dass das gehört wird?
    Geiger: Da hatte ich das Gefühl, dass man quasi wenn schon nicht mit den Augen geblinkert hat, aber doch gedacht hat, na ja, der Neue, der jetzt die Welt erklärt. Man hat es eigentlich nicht hören wollen, auch wenn ich im politischen Bonn damals noch darauf hingewiesen habe, war das irgendwie eigentlich ein bisschen von einer fernen Welt.
    Detjen: Braucht man dafür Geheimdienste, um solche Erkenntnisse zu gewinnen und weiterzugeben?
    Geiger: Es gibt Erkenntnisse, die eigentlich auf der Hand liegen, wenn man sie sehen will. Offensichtlich sind manche Organisationen, die es eigentlich machen könnten, nicht in der Lage, zu sehen, und die Geheimdienste braucht man dann, um das, was man vielleicht, dass sich als Entwicklung abzeichnet, auch tatsächlich bestätigt zu haben. Man muss eins wissen: es gibt viele Dinge, Entwicklungen in Staaten, diese Staaten nicht unbedingt auf dem offenen Markt haben wollen und die auch ihre Absichten, die vielleicht in jeder Richtung geht es nicht gleich um kriegerische Absichten, die sie verheimlichen wollen, und da ist es wichtig, dass Nachrichtendienste Informationen bekommen, ist die Entwicklung, die wir vermuten, sind die Absichten, die wir vermuten, sind die tatsächlich wahr oder ist das eine Fehleinschätzung. Dafür braucht man Zugänge zu nichtöffentlichen Stellen und Quellen.
    Detjen: Und das heißt dann auch klassische geheimdienstliche Arbeit, zum Beispiel Abhören – da gab es dann auch in Ihrer Amtszeit Auseinandersetzungen bis hin vor dem Bundesverfassungsgericht. Da wurde in Deutschland elaboriert gestritten, aber es war allen eigentlich eines klar: In diesem internationalen Geheimdienstgeschäft, in dem man sich bewegt, sind die Deutschen überhaupt nicht satisfaktionsfähig, alle anderen, die Briten, die Amerikaner, die Israelis, die machen da so viel mehr, die können da so viel mehr, die Deutschen sind da eigentlich klein, schwach, unzulänglich. War das auch Ihr Lebensgefühl?
    Geiger: Das war schon klar, dass BND eine technische Führungsrolle, die er vielleicht noch in den 60er-, 70er-Jahren hatte, weil die Telekommunikationsindustrie – damals hieß es noch Telefonindustrie – in Deutschland ja eigentlich fast ihre Ursprünge hat und damit das Know-how auch bei deutschen Firmen sehr groß war, automatisch bedingt das auch Fähigkeiten der entsprechenden Nachrichtendienste. Die Entwicklung ist aus finanziellen Gründen beim BND so nicht nachvollzogen worden. Das wissen wir heute, lesen das auch, das ist kein Geheimnis, dass es so ist. Was ich da als generelles Problem heute manchmal sehe bei manchen Dingen, dass wir auf der einen Seite eine Öffentlichkeit haben und politische Öffentlichkeit, die bestimmte Leistungen der Nachrichtendienste erwartet und dass einfach bestimmte Dinge erkannt werden, rechtzeitig Risiken erkannt werden, aber man gleichzeitig ungern über die Möglichkeiten spricht, die man dann den Nachrichtendiensten geben muss. Das fällt manchmal etwas auseinander. Nachrichtendienste müssen selbstverständlich rechtstaatlich arbeiten, brauchen Gesetze, und beispielsweise, meine ich, braucht BND für bestimmte Dinge, die wir erwarten, dass er sie tut, rechtstaatliche Gesetze, und es genügt nicht, wenn man sagt, also was der BND im Ausland macht, wenn er Auslandsnachrichtendienstverkehre überwacht, dann braucht es kein Gesetz, das wollen wir einfach nicht haben, da schauen wir nicht hin, aber wir erwarten bestimmte Informationen aus Afghanistan, ob da für die Bundeswehr jetzt eine Gefahr entsteht oder nicht. Da sehe ich einen Zwiespalt, der hat sich eher noch verschärft.
    Detjen: Darüber ist auch diskutiert worden, es hat auch wieder Änderungen am BND-Gesetz gegeben. Haben Sie das Gefühl, dieser Geheimdienst, so wie er jetzt aufgestellt ist, ist auch nach den vielen Diskussionen, die wir über Geheimdienst und geheimdienstliche Überwachung geführt haben, ist halbwegs so aufgestellt, dass er das, was man von ihm erwartet legitimerweise, dass er das leisten kann?
    Geiger: Der BND ist nicht schlecht aufgestellt. Der BND hat international ein viel besseres Renommee, als das so in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Das merkt man dann, wenn man mit den anderen Diensten spricht, wie sehr auch hochangesehene Nachrichtendienste an einer Kooperation mit dem BND interessiert sind. Also Gott sei Dank ist der BND – und das ist ja gut für unsere Sicherheit als Staatsbürger – doch durchaus erfolgreich effizient, aber er könnte noch effizienter werden, aber er braucht, wie gesagt noch mal, klare, eindeutige Gesetze. Wir brauchen eine offene Diskussion. Es ist ungut, wenn man sagt, das ist quasi so ein bisschen ein Bereich, den man ungern anfasst, da schauen wir lieber nicht hin. Wir erwarten einiges, aber wir sprechen nicht darüber, was dann nun genau geregelt und was genau getan werden soll.
    "Ja, übrigens das war mir wichtig, das war mir wichtig. Weil Sie mich vorhin gefragt haben, was sind denn eigentlich so die Konstanten meines Lebens: Transparenz war auch immer wichtig, Offenheit."
    Detjen: Ja, das wird Sie jetzt zumindest physisch erinnern, weil der BND jetzt unübersehbarer wird als je zuvor: Sie waren mal der Geheimdienstchef, glaube ich, der zum ersten Mal überhaupt ein Schild außen in Pullach gemacht hat, Bundesnachrichtendienst, das waren wahrscheinlich wusste es jeder, aber jeder konnte jetzt auch sozusagen schwarz auf weiß ...
    Geiger: Ja, übrigens das war mir wichtig, das war mir wichtig. Weil Sie mich vorhin gefragt haben, was sind denn eigentlich so die Konstanten meines Lebens: Transparenz war auch immer wichtig, Offenheit. Ich wollte, dass die Öffentlichkeit erfährt, und zum einen hier, wir stehen als Nachrichtendienst dazu, und gleichzeitig wollte ich auch ein Signal an die Mitarbeiter geben: wir verstecken uns nicht. Deswegen habe ich eigentlich am zweiten oder dritten Tag Schild zunächst provisorisch, dann nach zwei, drei Wochen, wie wir es jetzt im Fernsehen machen, ist sie beleuchtet angebracht worden. Ich wollte auch, dass die Mitarbeiter, wenn Sie zum Dienst fahren, sehen, wir verstecken uns nicht, wir sind eine rechtstaatlich arbeitende Behörde, wir haben Rechtsgrundlagen, und wir verstecken uns nicht. Ich habe dann ...
    Detjen: Fanden die das gut oder gab es da auch Widerstände?
    Geiger: Da gab es natürlich auch manche Widerstände. Das habe ich dann nachher erst gemerkt. Ich habe auch die Decknamen grundsätzlich mal abgeschafft, und weil ich gesagt habe, das musste man im Kalten Krieg haben, für Sondereinsätze ist das notwendig, aber es braucht nicht jeder einen zweiten Namen und ein Deckkennzeichen für sein Auto. Ich habe nachher gemerkt – hatte das natürlich diskutiert, und da gab es zunächst keinen Widerspruch auf Abteilungsleiterebene –, dass das den Beamten und Angestellten auf unterer Ebene durchaus von denen als Verlust empfunden worden ist, denn vielleicht hat der Nachbar, der Zahnarzt ein schöneres Haus und ein größeres Auto, aber er hat keinen Decknamen und kein Kennzeichen im Auto. Also ich habe … das hat mir niemand gesagt, ich habe das erst danach gemerkt, und nach meiner Zeit sind die Decknamen dann auch plötzlich wieder etwas verstärkt, offensichtlich wieder eingeführt worden.
    Detjen: Aber mit Verstecken ist beim BND jetzt gar nichts mehr – das ist das, was ich eben ansprechen wollte –, der BND zieht um aus Pullach in die Mitte Berlins, ein riesiger Gebäudekomplex nicht weit von dem Studio entfernt, in dem wir jetzt hier sitzen, eine Architektur, eine monotone Architektur, da kann man lange drüber streiten. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – wenn ich da dran vorbeifahre, dann finde ich es nicht schön, den Geheimdienst da in dieser überraschenden Monumentalität mitten in der Stadt zu haben.
    Geiger: Das Witzige ist ja, auf der einen Seite sagen Sie völlig zu Recht, der BND ist unübersehbar, eigentlich müsste man das ja begrüßen, wenn er mitten in der Gesellschaft steht.
    Detjen: Man ist erstaunt da drüber, wie groß der ist, wenn man das da...
    Geiger: Aber mir geht es genauso: die Architektur ist zu monumental und zeigt eigentlich das Gegenteil von Transparenz, zeigt eigentlich eher einen Machtblock und verkörpert nicht unbedingt das, was man als transparente, offene Gesellschaft vertreten will. Es war wohl dem Grundstück geschuldet, auf dem ging eben nicht mehr, als nur in dieser sehr komponierten Bauweise zu errichten. Sie werden sich erinnern, dass ich, als ich beim BND angefangen hatte, wenige Monate danach ein "Spiegel"-Interview gegeben hatte, und in diesem Interview bereits gesagt habe, der BND gehört – ich sagte damals virtuell – nach Berlin. Das ist mir sofort um die Ohren geschlagen worden. Erstens haben die Leute nicht verstanden, was virtuell heißt – das war damals noch nicht in der Alltagssprache angekommen –, aber mir war jedenfalls klar, dass der BND vielleicht nicht in der Gesamtheit der Mitarbeiter, aber jedenfalls in einer wichtigen Komponente am Sitz der Bundesregierung sein muss, denn wenn der Steuerzahler schon viel Geld für seine Nachrichtendienste zahlt, dann sollen die Erkenntnisse auch unmittelbar in die Politik einfließen können, dort ankommen können, aber deswegen hätte es nicht nur ein paar hundert Meter von der Regierungszentrale entfernt liegen müssen.
    Die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin
    "Frau Däubler-Gmelin war eine unglaublich toughe, hochengagierte Person." (dpa / pa / Anspach)
    "Die Rechtspolitik ist nicht unbedingt ein Thema, mit dem sich Bundesregierungen glauben, besondere Marken verdienen zu können."
    Wieso die Justizpolitik stärkere und lautere Minister braucht
    Detjen: 1998, jetzt machen wir noch einmal einen Schritt in diesem Gespräch, mit dem Beginn der rot-grünen Koalition kommen Sie dann nach Berlin. Noch mal ein Wechsel, Sie werden Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Ministerin ist damals Herta Däubler-Gmelin, die etwas vorantreibt damals in dieser Zeit, was man heute gar nicht mehr so kennt, nämlich eine äußerst ambitionierte Rechtspolitik, fundamentale Reformen in der Justiz, in Recht sollen da durchgesetzt werden. Das war spektakulär, groß im politischen Willen und zuweilen auch groß im Scheitern.
    Geiger: Ja, Frau Däubler-Gmelin war eine unglaublich toughe, hochengagierte Person, ganz ohne Zweifel, eine unglaublich harte Arbeiterin mit enormen parlamentarischen Erfahrungen, mit einem starken Willen, mit klaren Vorstellungen. Wenn ich an die Zivilprozessreform denke, die Verfahren sollten beschleunigt werden unter rechtstaatlichen Gesichtspunkten, die Bürger sollten schneller zu ihrem Recht kommen, also es sollte nicht Personal gespart werden, sollten schneller zu ihrem Recht kommen, waren ganz wichtige Ziele. Was ich dabei gemerkt habe, ist, dass es eben nicht genügt, beste Vorstellungen zu haben, sondern es auch darum geht, wie vermittle ich es den Betroffenen, und die Widerstände, die erweckt worden sind bei Teilen der Richterschaft, bei den Hochschullehrern, bei den Rechtsanwälten, die waren doch sehr stark, und das war nicht ganz einfach, dann zumindest wesentliche Elemente dieser Reform noch zu retten.
    Detjen: Fehlte es auch an Rückendeckung, namentlich beim Bundeskanzler Gerhard Schröder?
    Geiger: Die Rechtspolitik ist nicht unbedingt ein Thema, mit dem sich Bundesregierungen glauben, besondere Marken verdienen zu können, und wenn man beobachtet, dass es Widerstand gibt von wichtigen Teilen der Gesellschaft oder zumindest lautstarken Teilen der Gesellschaft, ist dann die Unterstützung vielleicht nicht ganz so groß. Man hat andererseits vielleicht auch erwartet, einfach, Schröder vielleicht auch erwartet, dass Däubler-Gmelin stark genug ist, diese Widerstände zu überwinden und den richtigen Weg zu finden, aber da war manches nicht ganz einfach. Frau Däubler-Gmelin – das hat man ja dann am Ende der vier Jahre gemerkt – hatte eben nicht die Unterstützung oder zum Teil auch gerade sogar richtig Gegnerschaft im Kabinett, die letztendlich dann dazu geführt hat, dass sie nach vier Jahren leider nicht mehr Ministerin bleiben konnte.
    Detjen: Andere rechtspolitische Reformen sind gelungen, zum Beispiel die Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft für schwule und lesbische Paare, gar nicht so sehr aus dem Justizministerium nach meiner Beobachtung vorangetrieben, sondern ...
    Geiger: Doch, doch.
    Detjen: Nach meiner Beobachtung stark aus dem Bundestag, Volker Beck, Margot von Renesse. Aus dem Bundesjustizministerium, nach meiner Beobachtung, kamen auch stark die verfassungsrechtlichen Einwände.
    Geiger: Das war auch ein großes Anliegen von Däubler-Gmelin. Sie hat damit quasi den Staat die ersten großen Besprechungen hatten, wo wir die Vertreter der verschiedenen Schwulen- und Lesbenverbände eingeladen hatten, wo ich natürlich auch selbst erlebt hatte, das hatte Frau Däubler-Gmelin dann auch gerne mir überlassen, solche Sitzungen dann zu leiten, dass da Erwartungen zum Teil da waren, die eben rechtstaatlich oder auch politisch zu diesem Zeitpunkt – darum ging es ja auch, was durchsetzbar war – politisch eben noch nicht so durchsetzbar waren, aber …
    Detjen: Also die vollständige Gleichstellung.
    Geiger: Völlige Gleichstellung beispielsweise, die war damals politisch einfach schlicht nicht durchsetzbar, sondern es ging darum, das Maximum zum damaligen Zeitpunkt zu erreichen. Wir hatten Gott sei Dank starke Mitstreiter – Sie haben sie genannt: Volker Beck, Frau von Renesse –, starke Mitstreiter, denn ohne Parlament geht nun gar nichts. Das Parlament ist das ganz Entscheidende, ist der Gesetzgeber, aber auch da hat Däubler-Gmelin eben unglaublich stark gearbeitet, agiert und auch das menschlich Mögliche gemacht. Sie erinnern sich ja, dass ein hoher Vertreter der Bundesregierung mal gesagt hat, das Ministerium "Frauen und sonstiges Gedöns", also da ist bei manchen …
    Detjen: Gerhard Schröder war das.
    Geiger: … ist bei manchen Vertretern, oder anderen war da die Liebe für dieses Projekt nicht unbedingt sehr groß, also da hat Däubler-Gmelin sich schon auch mit ihrer Stärke allein im Kabinett durchgesetzt.
    Detjen: Sie kam ja auch aus einer Tradition, in der Rechtspolitik eine Bedeutung, die sie heute vielleicht nicht mehr hat, nämlich wirklich als ein zentrales Feld der Gesellschaftspolitik. Da standen viele Justizminister in der Geschichte der Bundesrepublik und Ministerinnen dafür – Gustav Heinemann, Hans-Jochen Vogel, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger –, kann Rechtspolitik das heute nicht mehr leisten oder hat sie aus anderen Gründen an Bedeutung verloren?
    Geiger: Rechtspolitik kommt heute in der Öffentlichkeit weniger an. Möglicherweise fehlt der Öffentlichkeit das Sensorium, auch der politischen Öffentlichkeit das Sensorium für den Bedarf einer Rechtspolitik und erkennt die Bedeutung der Rechtspolitik nicht an. Vielleicht liegt es auch daran, wenn ich auch in die Länder schaue, wir nicht mehr solche Persönlichkeiten als Justizminister hatten, wie wir es in den 70er-, 80er-, auch noch 90er-Jahren hatten, wo der jeweilige Justizminister quasi – in Anführungszeichen – das "Gewissen" des Kabinetts war. Wenn ein neues ethisches Problem aufgetreten ist, eine Frage, die vorher noch nicht schon gesetzt und geregelt war, dann war es eigentlich der Justizminister oder Justizministerin, von der man erwartet hat, dass sie mal eine Vorgabe macht, eine intellektuelle Vorgabe, einen Vorschlag macht. Diese Rolle haben die Justizminister – ich will jetzt bewusst Bund und Länder, also nicht auf einzelne Personen rekurrieren, ausweiten –, haben leider heute nicht mehr. Dass wir es nicht mehr haben, liegt vielleicht auch daran, dass man eben nicht unbedingt die Persönlichkeiten in manchen Ländern an die Stelle setzt, die diese Aufgabe in dieser Weise hätten erfüllen können. Also die Justizpolitik ist tatsächlich momentan nicht unbedingt etwas, was die Gesellschaft und Politik als etwas Vorrangiges ansieht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.