Christiane Florin: Von Berlin aus zugehört und sicherlich viele O-Töne wiedererkannt hat Matthias Katsch. Er ist Sprecher der Betroffenen-Initiative Eckiger Tisch, auch die ist fast zehn Jahre alt. Er war einer der ehemaligen Canisius-Schüler, von denen im vorangegangenen Beitrag die Rede war. Guten Morgen, Herr Kutsch.
Matthias Katsch: Schönen guten Morgen.
Florin: In deutschen Medien wurde schon vor dem Jahr 2010 über sexuellen Missbrauch durch Kleriker berichtet. Was war aber dann anders im Januar 2010?
Katsch: Ich glaube, da kamen verschiedene Dinge zusammen. Ganz sicher hat eine Rolle gespielt, dass eine große Gruppe von Betroffenen war, die gemeinsam die selben Geschichte erzählen konnte; dass da jemand war, der zugehört hat in Gestalt von Pater Mertes und der gesagt hat: Wir glauben euch und wir bitten euch zu sprechen. Es war sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass es sich um Männer als Opfer handelte. Was für die Öffentlichkeit jedenfalls eine Neuigkeit war, für die Expertinnen und Experten natürlich nicht. Wir hatten einfach Glück, dass diese Umstände zusammenkamen und ganz offensichtlich eine ganze Generation von Menschen, die Jahrzehnte zuvor sexuellen Missbrauch, sexuelle Gewalt erlebt haben, den Moment für sich gewählt haben zu sagen so: Jetzt spreche ich darüber.
"Das Ende der Erinnerungslosigkeit war befreiend"
Florin: Sie haben gerade ein Buch veröffentlicht: "Damit es aufhört" heißt es. Sie schreiben darin, dass dieser Moment im Januar 2010, als das öffentlich wurde, auch ein Moment der Befreiung gewesen sei. Inwiefern war Öffentlichkeit befreiend oder ist vielleicht auch noch befreiend?
Katsch: Auf der persönlichen Ebene war es natürlich für mich das Ende dieses jahrzehntelangen Schweigens, das Durchbrechen der der Erinnerungslosigkeit. Diese hat mir einerseits geholfen weiterzuleben nach den Erfahrungen in der Kindheit und Jugend, aber andererseits mich auch ahnungslos gelassen über die Ursachen für bestimmte Schwierigkeiten oder biografische Wendung in meinem Leben. Das ist persönlich befreiend gewesen, als ich die Zusammenhänge verstanden habe und gemerkt habe: Du warst nicht alleine, du warst nicht schuld. Aber insgesamt gibt es ja ein Machtgefälle zwischen der Institutionen und den Opfern, den Betroffenen. Für den Augenblick, als die Presse diese Dinge aufgegriffen hat und die Medien voll damit waren, schien es, als ob so ein Machtausgleich stattgefunden hätte zwischen Institutionen und Betroffene.
Florin: Sie sagen "schien es". Ein anderer, befreiender Moment, den sie im Buch beschreiben, war im vergangenen Jahr, als sie in Rom marschierten, zunächst einmal am Rande des Anti-Missbrauchs-Gipfels. Irgendwann hat ihnen die Polizei sozusagen den Weg gebahnt. Was war daran befreiend? Oder anders gefragt: Wären Sie nicht lieber - Stichwort Machtgefälle - in die in die Aula vorgelassen worden, in der die Bischöfe saßen?
Katsch: Das war eine Option. Aber ich hatte bis dahin keine Demonstration von Betroffenen erlebt. Das ist gar nicht so einfach für Betroffene, ihr Gesicht zu zeigen und auf die Straße zu gehen. Es hat auch sonst niemand für uns demonstriert. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern. Insofern war diese Situation einfach schön, eine Erfahrung von Stärke, von Gemeinschaft. Dass die Polizisten, die uns ja die ganze Woche über da begleitet hatten, uns quasi den Weg gebahnt haben war schon ein sehr, sehr spezieller Moment. Ich bin froh, dass wir auf diesen Weg durch die Stadt gegangen sind. Ich weiß gar nicht, ob das so angenehm gewesen wäre, wenn wir da stattdessen in den Dom hineingekommen wäre.
"Bischöfe in ihrer Gesamtheit haben Verantwortung für das System"
Florin: Ein Sprecher einer anderen Betroffenen Initiative, Thomas Schnitzler von MissBit in Trier sagte in einer Sendung, die wir hier zu diesem Anti Missbrauchgipfel gemacht haben: Er erwarte eigentlich, dass ein Bischof in der Synodenaula aufstehe und sich selbst anzeige wegen Vertuschung. Haben sie auch solche moralischen Erwartungen?
Katsch: Ich würde erwarten, dass zuallererst die Menschen aus der Synoden Aula nach draußen kommen, wo auch dieses Mal wieder Betroffene stehen werden, so wie wir zum Beispiel auch 2011 bei dem Bußakt in Paderborn auf dem Domplatz gestanden haben oder ich auch in Rom erwartet hätte, dass jemand aus dem Versammlungssaal auf den Petersplatz zu den Betroffenen kommt, die dort standen. Dann kann man über Entschuldigung oder Verzeihung von Angesicht zu Angesicht sprechen. Ich weiß nicht, ob einzelne Bischöfe oder Verantwortliche das Gefühl haben, persönlich schuld gewesen zu sein, an Vertuschungsaktionen oder ähnlichem.
Aber es ist ja nicht vorstellbar, dass die Bischöfe in ihrer Gesamtheit für das System aus Missbrauch und Vertuschung keine Verantwortung tragen. Ich würde schon erwarten, dass es da eine gemeinsamer Reaktionen gibt, wie man sich mit dieser Verantwortung auseinandersetzen will.
Florin: Worin bestünde dieses "Verantwortung tragen", "Verantwortung übernehmen"?
Katsch: Im politischen Bereich spricht man von politischer Verantwortung, wenn ein Minister zum Beispiel für eine Fehlentscheidung oder eine Fehlentwicklung die Verantwortung übernimmt und zurücktritt. Hier geht es nicht nur um eine einzelne Fehlentscheidung, sondern um ein ganzes System, an dem man mitgewirkt und das man aufrechterhalten hat. Auch hier wäre eben die Frage, ob nicht so ein kollektives Angebot an den Papst, das Amt zurückzulegen, so wie das die chilenischen Bischöfe 2018 gemacht haben.
"Das Schwegen der Kirchenmitglieder war recht deutlich"
Florin: Ein Rücktrittsangebot von seiten aller deutschen Bischöfe, da habe ich Sie richtig verstanden?
Katsch: Von allen deutschen Bischöfe, ja sicher. Denn ich will jetzt nicht einen einzelnen heraussondern. Ich glaube, es geht um die Gesamtverantwortung für das, was geschehen ist. Da wäre das ein angemessenes Zeichen. Der Papst hatte übrigens auch nicht alle Rücktritte angenommen in Chile. Aber mir fehlt bisher sozusagen die Bereitschaft, auch persönlich Konsequenzen zu tragen. Für das, was geschehen ist,
Florin: Wie sehen Sie die Verantwortung von Gläubigen, die nicht Täter und nicht Opfer waren? Sie haben vorhin in einem Halbsatz gesagt: "Für uns hat niemand demonstriert". Vielleicht haben Sie ja auch mal erwartet, dass Laiinnen und Laien für Sie mit auf die Straße gehen.
Katsch: Also das Schweigen der Mitglieder, auch der Mitgliedervertretung - wenn ich an das Zentralkomitee der deutschen Katholiken denke - das war auch schon recht deutlich über diese Jahre hinweg. Die Haltung: "Das geht uns nichts anders, das haben die Bischöfe, das haben die Kleriker" verbockt, und wir sind da gar nicht betroffen", die kann ich nicht nachvollziehen. Erstens mal ist das sicherlich falsch, weil wir wissen aus zahlreichen Untersuchungen: Es gibt immer Beisteher, also Menschen, die daneben stehen, etwas mitbekommen, etwas beobachten, etwas wahrnehmen und sich nicht trauen zu intervenieren oder sich nicht trauen, ihrer Wahrnehmung zu folgen.
Dass die Außenstehenden so ganz unbeteiligt gewesen sind, stimmt nicht in vielen Fällen. Und wenn ich Mitglied einer Institution bin und sie unterstütze und finanziere, dann hafte ich auch für das, was in dieser Institution fehl läuft. Der Grad der Verantwortung ist natürlich unterschiedlich. Aber zu sagen: "Das geht uns gar nichts an, das sollen die Bischöfe mal schön alleine klären" - das kann's auch nicht sein.
Florin: Das heißt: Falls einmal Entschädigungen gezahlt werden sollten in der Höhe, die da kurz zur Debatte stand, nämlich 300.000 Euro pro Person, dann sollten diese aus der Kirchensteuer gezahlt werden?
Katsch: Das mit der Kirchensteuer ist ein Ablenkungsmanöver von der grundsätzlichen Debatte. Die Bischöfe haben eine Empfehlung in Auftrag gegeben und entgegengenommen in Fulda. Sie haben erklärt, dass sie bereit sind, der Logik dieser Empfehlung zu folgen. Über die Höhe ist nur am Rande gesprochen worden. Aber eines ist klar: Es gibt reiche Bistümer, es gibt arme Bistümer. Es gibt Ordensgemeinschaften, die groß und wohlhabend erscheinen, und es gibt Ordensgemeinschaften, wo das nicht mehr der Fall ist. Wenn es um eine Solidarität mit den Opfern geht und eine innerkirchliche Solidarität, um diese Last zu tragen, dann kann die Kirchensteuer auch ein Element sein, um einen Ausgleich zwischen diesen verschiedenen Körperschaften und Gruppierungen in der Kirche zu schaffen,
"Kirche könnte Teil der Lösung sein"
Florin: Sie selbst waren auf einer katholischen Schule, Sie waren auch sehr engagiert. Sind 2010 aus der Kirche ausgetreten, sind also nicht mehr Mitglied? Trauen Sie dieser Kirche noch etwas zu?
Katsch: Ich also ich also wenn ich nicht die Hoffnung hätte, dass sich etwas positiv verändern könnte, dann würde ich mir nicht die Mühe machen, so eindringlich immer dafür zu werben, sich auf den Weg zu machen. Die Kirche ist Teil des Problems sexueller Missbrauch in unserer Gesellschaft ohne Zweifel. Sie hat auch ihren eigenen Anteil daran. Sie hätte aber auch die Chance, Teil der Lösung zu sein im Kampf gegen sexuelle Gewalt und deren Überwindung. Ja, die Chance auf Veränderung ist da, aber sie muss sehr grundsätzlich erfolgen. Die Themen, die angesprochen worden sind, reichen ja auch sehr tief. Das fängt damit an, dass man das ernst nimmt, sich den Opfern zuzuwenden und den Schaden, den das im Leben von Tausenden von Menschen angerichtet hat, versucht auszugleichen. Mit einer Entschädigung.
Florin: Wenn von Lebensthema, sexualisierte Gewalt bei ihnen gesprochen wird, das geschieht ja auch im Zusammenhang mit dem Buch: Sehen Sie das als Kompliment oder als Klischee?
Katsch: Ich bin froh, dass es mir gelungen ist, in meinem Leben einen Sinn zu finden für das, was ich erlitten habe, wie viele andere auch. Ich kämpfe dafür, dass Kinder das in Zukunft nicht erleiden müssen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Matthias Katsch: Damit es aufhört. Vom befreinden Kampf der Opfer sexualisierter Gewalt in der Kirche.
Nicolai Publishing 2020. 120 Seiten, 18 Euro.
Nicolai Publishing 2020. 120 Seiten, 18 Euro.