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Ehre für Schuld eintauschen

Liebestod, Bluttat aus Eifersucht, Schuld und Wahnsinn sind seit jeher der ideale Opernstoff. Doch was der 1947 in Palermo geborene Komponist Salvatore Sciarrino in "Luci mie traditrici" wirklich erzählt, lässt sich nicht mit Worten, sondern nur durch Musik ausdrücken.

Vorgestellt von Barbara Eckle | 01.07.2012
    Wie einen roten Faden webt der Komponist Salvatore Sciarrino dieses Renaissancemotiv durch seine Oper "Luci mie traditrici" – meine verräterischen Augen. Was sich auf Anhieb wie ein direkt aus der Renaissance in die Gegenwart transplantiertes Original anhört, ist eine sich im Laufe der Oper zusehends verwandelnde Bearbeitung einer Elegie von Claude Le Jeune aus dem Jahr 1608.

    Sciarrino versieht sie mit einer Welt von Obertönen und Geräuschklängen, die das erzählen, was zwischen den Dialogen der Liebenden mitschwingt und dort sein fatales Eigenleben führt. Um diesen doppelten Boden, die trügerische Seite der Liebe, geht es in Sciarrinos 1998 uraufgeführter Oper "Luci mie traditrici". Das Ensemble Algoritmo hat sie unter der Leitung ihres Dirigenten Marcus Angius neu eingespielt und beim Label Stradivarius herausgebracht. Am Mikrofon begrüßt Sie Barbara Eckle.

    Musik 2

    Für den 1947 in Palermo geborenen Komponisten Salvatore Sciarrino gehören die Stille und ihr Grenzgebiet zu den expressivsten und potentesten musikalischen Mitteln, mit denen er das Unbegreifbare, Unaussprechliche auf effektivste Weise zum Ausdruck bringt und die Intensität bis ans Äußerste zu steigern vermag. Neben seinem extensiven kammermusikalischen Oeuvre ist Sciarrino vor allem für seine Musiktheaterwerke bekannt, wobei sich der Meister der Reduktion auch bei diesen meist auf Kammerbesetzungen beschränkt. Die Handlung der Oper an sich spielt dabei meist die geringste Rolle.

    Im Fall von "Luci mie traditrici" lässt sie sich in einem Wort zusammenfassen: Eifersuchtsmord. Das vom Komponisten eigens verfasste Libretto bezieht sich auf eine wahre, historische Begebenheit: die Tragödie des Komponisten Carlo Gesualdo, Fürst von Venosa, der im Jahr 1590 seine Frau und ihren Geliebten - inflagranti erwischt - brutal ermordete und hernach, in tiefe Depression verfallen, die herrlichste Sakralmusik komponierte, die sich später als Grundstein für die Entwicklung der Gattung Oper erweisen sollte.

    Die Fatalität ihrer Liebe legt Sciarrino schon im Namen des Fürstenpaars an: Malaspina, was so viel heißt wie "böser Dorn". Der Stich der Dornenrose in der ersten Szene zwischen Fürst und Fürstin verweist metaphorisch auf die spätere Gräueltat; doch schon im Prolog nimmt Sciarrino das tragische Ende vorweg mit der auf die Melodie reduzierten Renaissance-Elegie, die sich sehnsüchtig, klagend ihren chromatischen Weg durch die Zeit bahnt. Sie stellt Fragen nach dem Verbleiben der einstigen Schönheit und Liebe, bis der Instrumentaleinsatz die Stimme jäh zum Schweigen zwingt. Mundtot, wie sie nun ist, hält diese immer wiederkehrende Elegie dem inneren Geschehen fortan nur noch wortlos den Spiegel vor.

    Musik 3
    Liebestod, Bluttat aus Eifersucht, Schuld und Wahnsinn sind seit je her der ideale Opernstoff - doch was Sciarrino vor diesem blutrünstigen Hintergrund wirklich erzählt, lässt sich gar nicht mit Worten, sondern nur durch Musik ausdrücken. Es sind die Zwischenräume menschlicher Beziehungen, die er musikalisch quasi unters Mikroskop setzt. Kleinste, aber alles entscheidende Verschiebungen und Veränderungen des zwischenmenschlichen Ambientes stehen hier in spannungsvollem Kontrast zur formelhaft stilisierten Verbalkommunikation. Die Sätze sind kurz und der Vokalstil eher rezitativisch als kantabel. Unnatürliche Sprechrhythmen und Satzmelodien legen nahe, dass die Worte nur eine unzulängliche Hülle sind, während die Partitur feinste Nuancen und Regungen der Innen- und Außenwelt erfasst und in einer ungekannten Plastizität zu einem lebendigen, instrumentalen Klangteppich verarbeitet. Der universell menschliche Liebeskonflikt wird so auf sinnlicher Ebene verstehbar. Ein einzigartiges musikalisches Phänomen, das nicht zuletzt von der fabelhaften Intuition des Autodidakten Sciarrino zeugt, der unabhängig und unbeirrt von sämtlichen Strömungen und Schulen der Nachkriegsmoderne und Postmoderne mit seiner unverwechselbar organischen Musiksprache seit konsequent seinen ureigenen Weg geht.

    Musik 4
    "Luci mie traditrici" besteht aus zwei Akten. Jede der acht Szenen ist von einem Dialog bestimmt - zwischen Fürst und Fürstin Malaspina, der Fürstin und ihrem Liebhaber, oder dem Fürsten und seinem Diener, der an zwei Stellen der Oper als Spion die Intimität des Dialogs preisgibt. Er ist es zumal, der damit den Impuls zum Mord gibt. So antwortet Fürst Malaspina, als der Diener ihm das Verhältnis seiner Frau enthüllt: "Hättest du geschwiegen, wäre ich nicht entehrt. Nun muss ich sie töten." Er ist quasi gezwungen, Ehre für Schuld einzutauschen. Das macht den Doppelmörder zur tragischen Figur.

    Musik 5

    Die auffällige Registernähe der Gesangspartien der männlichen Protagonisten suggeriert oft einen Doppelgänger des Fürsten, oder aber eine gespaltene Identität. Geliebter, Neider und Mörder lassen sich stimmlich kaum auseinanderhalten. Dies verweist wieder auf die paradoxen Extremkräfte der Liebe, die in jedem Moment dieser Oper präsent sind, von der ungewiss zwischen Dur und Moll changierenden Renaissance-Elegie angefangen.

    Das Thema der Doppelbödigkeit in diesem Werk reflektiert Agnes Eggers in einem sehr differenzierten Booklettext zu dieser Platte, ergänzt von einem aufschlussreichen, analytischen Text des Dirigenten Marco Angius, der sich vor allem auch mit Sciarrinos Renaissance-Gedanken in dieser Oper beschäftigt, nämlich der "Wiedergeburt der Tragödie in Musik", die er hier exemplarisch vollzogen sieht.

    Evident ist das auf zwei Ebenen: zum einen auf einer zeitlich-historischen und zum anderen auf einer musikalisch-dramaturgischen. Sciarrinos Verarbeitung des historischen Renaissance-Kontexts suggeriert Vergangenheit und Gegenwart zugleich, denn mit der Gesualdo-Tragödie verweist er auf die Anfänge der Gattung Oper, der Sciarrino mit seiner Oper eine Renaissance verschaffen will. Dabei ist die besondere Rolle des Gesangs entscheidend in "Luci mie traditrici". Er ist nämlich nicht bloß ein Medium, das die Handlung vorantreibt, sondern ein dramaturgisch unerlässliches Element, das einem Protagonisten ähnlich, eine Entwicklung, gar eine Metamorphose durchmacht: So eröffnet nicht eine instrumentale Ouvertüre das Werk, sondern A-Capella-Sologesang, der sich inhaltlich schon in der Zukunft befindet. In den Dialogen durchläuft der Gesang alle Reduktionsstufen über Sprechen, Flüstern, Seufzen bis zum Verstummen, wie hier in der letzten Szene zwischen Fürst und Fürstin nachts im Schlafzimmer. Die Naturgeräusche und das Zirpen der Grillen amplifizieren noch die Stille zwischen den mageren Dialogresten. Der Tod steht im Raum.

    Musik 6

    Während einen die dialogischen Szenen stets in einem Schwebezustand der Ungewissheit wiegen, sprechen umso deutlicher die parallel sich entwickelnden instrumentalen Intermezzi. Man hört die einst so melodiöse Elegie des Anfangs sanft und beängstigend ins Geräuschhafte, Immaterielle degenerieren, während sich die dramatische Situation zuspitzt:

    Musik 7

    Immer karger, klangloser wird der Dialog, je mehr wir uns der Bluttat nähern. Die Oberfläche der Verbalkommunikation ist noch intakt, doch das Endstadium der Elegie vor der letzten Szene nimmt den bevorstehenden Tod der Fürstin schon vorweg. Nachdem sie schon im Prolog ihrer menschlichen Stimme beraubt wurde, zersetzt sich nun auch die instrumentale Melodie in ihre elementaren Bestandteile und löst sich Wort wörtlich in Luft auf. Das Tempo ist massiv reduziert wie bei einem Körper im Koma. Kaum etwas ist mehr zu hören, nur noch Vitalfunktionen: der Atem und ein dumpfes Klopfen wie ein flacher, kaum vernehmbarer Herzschlag, der bald zum Stillstand kommen wird.

    Musik 8

    Der Showdown am Rande der Stille. Das ist Salvatore Sciarrinos faszinierend soghafte Musiksprache, die er hier in all ihrer Komplexität auf allen Ebenen konsequent ad extremum treibt. Denn "Das Problem ist nicht, etwas noch nie Gehörtes zu schaffen, das Problem ist, neu zu hören", sagt Sciarrino. In diesem Sinne verabschiede ich mich von Ihnen und danke fürs Zuhören. In der heutigen Sendung hörten Sie eine neue Aufnahme von Salvatore Sciarrinos Oper "Luci mie traditrici" mit Nina Tarandek, Christian Miedl, Roland Schneider und Simon Bode, gespielt vom Ensemble Algoritmo unter der Leitung von Marco Angius. Die CD ist beim Label Stradivarius erschienen und wurde Ihnen vorgestellt von Barbara Eckle.
    Werk: "Luci mie traditrici" – Renaissancemotiv
    Komponist: Salvatore Sciarrino
    Interpreten: Ensemble Algoritmo, Marco Angius
    CD Titel: Sciarrino – Luci mie traditrici; Label: Stradivarius; LC-07523
    Track: 4, Ausschnitt: 0:00 – 0:12, unter A1 weiter, bei M2 wieder hoch.
    Dauer: 12'' freistehend

    Werk: "Luci mie traditrici" – Renaissancemotiv mit Obertönen
    Komponist: Salvatore Sciarrino
    Interpreten: Ensemble Algoritmo, Marco Angius, N. Tarandek, C. Miedl
    CD Titel: Sciarrino – Luci mie traditrici; Label: Stradivarius; LC-07523
    Track: 4, Ausschnitt: 0:59 – 1:37 freistehend (noch unter A1 einsetzen).
    Dauer: 38'' freistehend

    Musik 3
    Werk: "Luci mie traditrici" – Prolog und Übergang Sz. 1
    Komponist: Salvatore Sciarrino
    Interpreten: Ensemble Algoritmo, Marco Angius, N. Tarandek, C. Miedl
    CD Titel: Sciarrino – Luci mie traditrici; Label: Stradivarius; LC-07523
    Track: 1+2, Ausschnitt: last 44'' of 1 and first 56'' of 2
    Dauer: 1'40''
    Musik 4
    Werk: "Luci mie traditrici" – Szene 3 (Fürstin und Geliebter)
    Komponist: Salvatore Sciarrino
    Interpreten: Ensemble Algoritmo, M. Angius; N. Tarandek, R. Schneider
    CD Titel: Sciarrino – Luci mie traditrici; Label: Stradivarius; LC-07523
    Track: 5; Ausschnitt: 3:45 – 5:09 (ca.)
    Dauer: 1'24''

    Musik 5
    Werk: "Luci mie traditrici" – Sz.5 Fürst und Diener
    Komponist: Salvatore Sciarrino
    Interpreten: Ensemble Algoritmo, Marco Angius, C. Miedl, S. Bode
    CD Titel: Sciarrino – Luci mie traditrici; Label: Stradivarius; LC-07523
    Track: 7, Ausschnitt: 2:39 – 3:52
    Dauer: 1'13''

    Musik 6
    Werk: "Luci mie traditrici" – Sz. 8, Fürst und Fürstin, Schlafzimmer
    Komponist: Salvatore Sciarrino
    Interpreten: Ensemble Algoritmo, Marco Angius, N. Tarandek, C. Miedl
    CD Titel: Sciarrino – Luci mie traditrici; Label: Stradivarius; LC-07523
    Track: 13, Ausschnitt: 0:00 – 1:52 (ab 0:30 frei)
    Dauer: 1'22'' freistehend

    Musik 7
    Werk: "Luci mie traditrici" - Übergang zu vorletztem Intermezzo
    Komponist: Salvatore Sciarrino
    Interpreten: Ensemble Algoritmo, Marco Angius, N. Tarandek, C. Miedl
    CD Titel: Sciarrino – Luci mie traditrici; Label: Stradivarius; LC-07523
    Track: ev. 9 (Ende, 24'') und 10; Ausschnitt:
    Dauer: 1'45''

    Musik 8
    Werk: "Luci mie traditrici" – Übergang: letztes Intermezzo – Szene 8
    Komponist: Salvatore Sciarrino
    Interpreten: Ensemble Algoritmo, Marco Angius, N. Tarandek, C. Miedl
    CD Titel: Sciarrino – Luci mie traditrici; Label: Stradivarius; LC-07523
    Track: 12, Ausschnitt: 0 – 0:50 Dauer: 50''