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Ehrenamt
Wie Freiwillige soziale Lücken schließen

Wenn sich Rocker mit dem Kirchenchor zusammentun: Ehrenamtliche Arbeit gibt es in vielen Formen, an vielen Orten. Die Journalistin Nina Apin hat sich auf Spurensuche gemacht und Formen des Engagements gefunden, die nicht in gängige Klischees passen.

Von Sabine Peters |
    Heike Jakobi vom ehrenamtlichen Kranken-Lotsendienst schiebt einen Patienten zur Therapie im Albertinen-Haus in Hamburg.
    Ehrenamtler finden sich überall, etwa im Hamburger Albertinen-Haus als Betreuer. (dpa / Christian Charisius)
    Wer eine steile These in die Welt setzt, kann mit Widerspruch rechnen. Als der FAZ-Mitherausgeber, der Journalist und Essayist Frank Schirrmacher in seinem Buch "Ego" schrieb, "wir alle" seien kaltherzige Egoisten, die unvermeidlich dem abstrakten Schema des Kapitalismus folgten, gab es neben einiger Zustimmung auch Kritik: "Ego" sei ein schlampig recherchiertes Buch, das weniger Kapitalismuskritik als vielmehr Kulturpessimismus verbreite, und das im übrigen absolut einseitig daherkomme.
    Die Journalistin und TAZ-Redakteurin Nina Apin, Jahrgang 1974, entwirft ein entgegengesetztes Bild der deutschen Gesellschaft. Ihr Sachbuch „Das Ende der Ego-Gesellschaft" verlässt sich nicht auf Theorien; die Autorin ist durchs Land gereist, um ganz konkret sehr verschiedene sozial und/oder politisch engagierte Bürger nach den Gründen für ihre freiwillige Arbeit ums Gemeinwohl zu befragen.
    "Das Ende der Ego-Gesellschaft" von Nina Apin ist ein informatives, gut lesbares Buchs. Sein Befund: Erstaunlich viele Leute setzen ihre Freizeit, ihre Erfahrungen, ihr Können ein, um Veränderungen zu erreichen. Sei es im direkten Umfeld, Beispiel Waldkindergärten, oder in einer weltweit agierenden Bewegung wie etwa der Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International. Nina Apin kann und will nicht das gesamte Spektrum der ehrenamtlichen Tätigkeiten abstecken, Sportvereine beispielsweise tauchen in ihrem Buch nicht auf. Die Schwierigkeiten beginnen aber schon mit der Begriffsklärung: Was bedeutet Engagement, freiwillige Arbeit, Ehrenamt?
    Ehrenamt auf Augenhöhe
    Der aus dem 19. Jahrhundert stammende Ausdruck "Ehrenamt" ist ohnehin staubig geworden. Zu schnell drängt sich ein hierarchisch aufgebautes Bild auf, in dem ein Strom von Gaben von oben nach unten fließt, vom erzieherisch inspirierten Wohlstandsbürger hinunter zum dankbaren, passiven Almosenempfänger. Aber daneben gab und gibt es doch längst zahllose Modelle, sich im Eigeninteresse und zum Nutzen einer Gemeinschaft zu organisieren; Initiativen, in denen miteinander auf Augenhöhe kommuniziert wird. Bürgerplattformen wie die in Berlin Wedding-Moabit arbeiten nach der amerikanischen Methode des Community Organizing; es geht darum, sämtliche Einwohner eines Stadtteils zusammenzubringen und Dialoge zu führen, in denen jeder zu Wort kommt. Dabei versucht man, typische Mechanismen aufzubrechen, wonach nur der, der rhetorisch fit ist und sozial etwas gilt, Gehör findet.
    Etwas irritiert verfolgt Apin eine entsprechende Versammlung, bei der eine Gruppe von Rockern neben einer tamilischen Familie neben offiziellen Jobcenter-Vertretern neben einem kompletten Kirchenchor sitzen. Gemeinsam wollen sie ihren Stadtteil lebenswerter für alle machen. Die zur Schau gestellte Harmonie und ein teilweise fast zwanghaft wirkender Optimismus erscheinen Apin etwas fremd, und doch sympathisiert sie mit diesem egalitären, pragmatischen Ansatz.
    Natürlich weiß die Autorin, welche Tücken in vielen Formen des Engagements stecken: Gerade in Zeiten grassierenden Sozialabbaus können die Freiwilligen zu Lückenbüßern des Sozialstaats werden, Beispiel Tafelbewegung. Eine der in diesem Bereich engagierten Frau sähe es gern, wenn man neben der Organisation von Lebensmitteln auch gemeinsam für ein bedingungsloses Grundeinkommen demonstrieren würde. Oder, ein anderes Beispiel: So dankenswert die zahllosen Lese-Patenschaften für Kinder aus unterprivilegierten Familien sind - man könnte sich auch für ein anderes Schulsystem einsetzen. Die säuberliche Unterscheidung, ob man nun "Handlanger des Systems" ist oder ob man "radikale Systemopposition" betreibt, findet sich allerdings nur noch selten. Nina Apin stellt mit spürbarer Erleichterung fest, dass große Ideologien auch unter Linken auf dem Rückzug seien, dass man im Kleinen anfangen müsse. Ihr Buch ist sehr gemäßigt, sehr um Ausgewogenheit bemüht. Es will nicht "die" eine Form von Engagement propagieren, es wendet sich auch nicht an eine bestimmte Zielgruppe, sondern ganz allgemein an Leser, die neugierig sind, wer die Zustände in dieser Gesellschaft mit beeinflussen will.
    Wer kann etwas verändern?
    Wer engagiert sich? Laut Apin ist es vor allem die vergleichsweise gebildete, wohlhabende Mittelschicht, die an Veränderbarkeit glaubt und sich entsprechend einsetzt. Nun könnte man einwenden, dass es auch unter den gemeinhin als vereinzelt, als isoliert beschriebenen Unterprivilegierten, den "Verdammten dieser Erde" beziehungsweise dieses Landes Formen organisierter Solidarität gibt, die allerdings aus dem Raster dieses Buchs herausfallen - da werden keine Vereine gegründet, da wird nicht mit Behörden verhandelt.
    Apin sinniert an einer Stelle selbst, wie weit man den Begriff der unbezahlten freiwilligen Hilfe denn fassen wolle. Ihr Buch bleibt überwiegend bei den sogenannten "ganz normalen Bürgern". Die Autorin stellt lakonisch fest, dass Politiker und Investoren nun mal besser zuhören, wenn eben diese Bürger protestieren - wobei selbst die manchmal in die radikale "Schmuddelecke" gedrängt werden, man denke etwa an die pauschal abwertende Bezeichnung "Wutbürger". Apins Überlegungen zu diesem Begriff sind angenehm differenziert; man merkt aber auch, wie suspekt ihr selbst die "Schmuddelecke" ist: Am Beispiel einer rebellischen Hausbesetzerszene fragt sie sich, warum solche Gruppen oft so entschlossen wie abgeschlossen ausschließlich im eigenen Milieu agieren.
    Immer wieder neu und durchaus folgenreich stellt sich die grundsätzliche Frage: Wer hat die Deutungshoheit über den Begriff des Engagements? Was wird finanziell gefördert, was wird gewürdigt, was wird geduldet, was wird bekämpft? Auf die Ebene der parlamentarischen Politik bezogen, schreibt Apin: Politiker aller Parteien loben es, fördern es auch, wenn Bürger sich in der Pflege einsetzen, oder bei der Feuerwehr. Sie fragt zurecht: Ist ein Protestcamp von Mietern gegen eine mieterfeindliche Immobilienpolitik nicht auch "engagiert", oder ist das schon eine Gefährdung des inneren Friedens und der Demokratie?
    Das nebulöse "wir"
    Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass Engagement sich nicht auf einen Nenner bringen lässt; und sie wünscht sich genauere Untersuchungen über all seine Formen. Ihre eigene Untersuchung führt sie schließlich auch zu einem kleinen Forschungsinstitut für Protest- und Bewegungsforschung; es hat große Schwierigkeiten, finanziell unterstützt zu werden. Die Leiterin dieses Instituts berichtet etwas ironisch von einem christdemokratischen Politiker, der befürchtete, er solle nicht die Forschung befördern, sondern den Guerillakampf unterstützen...
    Es ist schade, dass Nina Apins Buch gegen Ende in eine moralisierende Sonntagsrede mündet: Das zarte Pflänzchen Altruismus sei empfindlich, daher solle man den Engagierten besser zuhören. Engagement brauche Wohlstand und Bildung. Weil die Gesellschaft altere und der Mittelstand schwinde, müssten - in Anführungszeichen - "wir" dafür sorgen, dass mehr Menschen sich engagierten, sonst hätten "wir" ein Problem. Denn "wir alle" seien abhängig von engagierten Mitbürgern. Daher sollten "wir" durch das eigene gute Vorbild künftig auch Nichtakademiker, Leute ohne deutschen Pass und Hartz-IV-Bezieher ermutigen, etwas zu tun; schließlich habe jeder von uns der Gesellschaft etwas zu bieten. Abgesehen von diesem vollmundigen Appell an ein nebulöses "wir" aus wohlmeinenden Einzelmenschen bietet Apins Buch überraschend viele und widersprüchliche Beispiele für "Engagement" mit oder ohne Gänsefüßchen:
    Ob es nun um Sterbebegleiter [*] geht oder um ein Unternehmen wie McDonald´s, das sein schlechtes Image als krankmachender Fastfood-Lieferant aufpolieren will, indem es Leseförderung betreibt. Der trompetische Untertitel des Buches "wie die Engagierten unser Land retten" sollte einen nicht von der Lektüre abhalten. "Das Ende der Ego-Gesellschaft" will Aktivitäten nicht in erster Linie be- oder verurteilen. Apins Buch gibt Formen des Engagements zu bedenken, die nicht in gängige Klischees passen, die man im Alltag oft kaum einmal wahrnimmt, die aber durchaus Diskussion verdienen.
    Nina Apin: Das Ende der Ego-Gesellschaft. Wie die Engagierten unser Land retten. Berlin-Verlag, 208 Seiten, 17,99 Euro.
    [*] Korrekturhinweis: An dieser Stelle waren in der Sendefassung irrtümlich "Sterbehelfer" genannt.