
In Deutschland sind immer wieder Menschen von sogenannten Ehrenmorden betroffen. Oft werden dabei junge Frauen und Mädchen Opfer von Ehrgewalt, die Mehrheit der Betroffenen kommt aus migrantischen Familien. Gewalt, die vermeintlich im Namen der Ehre verübt wird, geht vor allem von Familien mit konservativen und patriarchalen Werten aus.
Besonders der Fall der ermordeten Hatun Sürücü 2005 erregte große Aufmerksamkeit und schaffte ein zunehmendes Bewusstsein über "Ehrenmorde" als eine spezifische Form von Femiziden. Der Schutz von Betroffenen könnte in Deutschland durch das Gewalthilfegesetz künftig verbessert werden. Erstmalig wird damit der Bund an der Finanzierung beteiligt sein. Bundesländer finanzieren die Prävention von Ehrgewalt bereits durch Projekte und Aufklärungsarbeit an Schulen. Was braucht es, um Betroffene vor der Gefahr durch Ehrgewalt zu schützen?
Wie häufig kommen „Ehrenmorde“ in Deutschland vor?
Es ist schwer zu erfassen, wie viele Morde vermeintlich im Namen der Ehre begangen werden, das Bundeskriminalamt (BKA) hat dazu im Jahr 2011 eine Studie vorgelegt. Demnach wurden in Deutschland zwischen 1996 und 2005 genau 109 Menschen Opfer von versuchten "Ehrenmorden", davon wurden 69 Menschen ermordet. Die Autoren der BKA-Studie geben an, dass die Dunkelziffer weit höher ist und vermutlich doppelt so viele Taten begangen werden.
Ehrenmorde werden hierbei als Tötungsdelikte definiert, die „im Kontext patriarchalisch geprägter Familienverbände oder Gesellschaften vorrangig von Männern an Frauen verübt werden, um die aus Tätersicht verletzte Ehre der Familie oder des Mannes wiederherzustellen.“ Die Ehre wird in diesem Kontext als verletzt wahrgenommen, weil das Opfer vermeintlich gegen die in einer Familie vorherrschenden sexuellen Verhaltensnormen verstoßen habe.
Was „Ehrenmorde“ sind, lässt sich laut der Studie nicht trennscharf erfassen: So kann beispielsweise auch die Partnertötung Elemente von Ehrgewalt enthalten. Der Studie zufolge sind 57 Prozent der Betroffenen Frauen, doch auch Männer werden mit rund 43 Prozent zu Opfern dieser Gewaltform.
Der Soziologe Kazım Erdoğan vermutet, dass es auch heute bis zu 150 Fälle pro Jahr gibt. Obwohl die Gesellschaft sensibilisierter sei und es mehr Hilfsangebote gebe, habe die Gewalt leider zugenommen, sagt Erdoğan, der mit seinem Verein Aufbruch Neukölln gegen patriarchale Männerbilder ankämpft und eine Selbsthilfegruppe für türkischstämmige Männer leitet.
Was für Motive haben Täter von „Ehrenmorden“?
Sogenannte Ehrenmorde gelten als eine spezifische Form von Femiziden, die in archaisch geprägten Familienverbänden vorkommen. „Die Grundlage dafür sind patriarchale Strukturen, die sehr starke Rollenbilder tradieren“, sagt Elisabeth Gernhardt von Terre des Femmes. Es werde dabei nach starren Rollenbildern von Mann und Frau unterschieden und streng festgelegt, was der jeweils erlaubte Bewegungsspielraum sei.
„Die Familienehre hängt oft sehr stark mit der weiblichen Sexualität zusammen. Zentral ist dabei die Jungfräulichkeit der Tochter, die unbedingt bis zum Tag der Eheschließung bewahrt werden muss“, sagt Gernhardt. Aus diesem Grund würden Mädchen in patriarchalen muslimischen Familien stark kontrolliert und in ihrer persönlichen Entwicklung eingeschränkt.
Überschreite eine junge Frau die damit verbundenen Verhaltensnormen und Traditionen, mit denen ihre Eltern aufgewachsen seien, könne das dem Ruf der ganzen Familie in der Gemeinschaft schaden, so Gernhardt. „Da lastet ganz enormer sozialer Druck.“ Aber das sei natürlich überhaupt keine Rechtfertigung, Gewalt im Namen der Ehre zu verüben, so Gernhardt.
Gewalt im Namen der Ehre wird oft mit muslimischen Familien in Verbindung gebracht. Doch es gibt sie auch in anderen kulturellen und religiösen Umfeldern. Die Beratungsstelle Yasemin in Stuttgart berät junge Frauen, die von Zwangsverheiratung und von Gewalt im Namen der Ehre betroffen sind und weist darauf hin, dass patriarchal strukturierte, traditionell orientierte Familiensysteme auf der ganzen Welt zu finden seien, auch in Deutschland.
Welche Auswirkungen hat die Gefahr, die von Ehrgewalt ausgeht, auf Betroffene?
Eine Betroffene der Beratungsstelle Yasemin berichtet, dass sie ihre Familie verlassen musste, weil ihre Eltern sie kontrollierten und sie psychische und physische Gewalt erlebt hatte. Die 20-Jährige möchte anonym bleiben und nennt sich Sarah. Als sie ihren ersten Freund hatte, sei sie Repressalien durch ihre Mutter ausgesetzt gewesen, so die 20-Jährige, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist.
„So etwas wie einen Freund gibt es gar nicht. Für uns aus unserem Raum ist einfach vorgesehen zu heiraten“, berichtet Sarah, deren Eltern aus dem nordafrikanischen Raum kommen. Weil sie Angst um ihr Leben hatte, ist sie mithilfe des Jugendamtes vor ihrer Familie geflohen und kam in einer Notunterkunft unter. Heute wird Sarah von der Beratungsstelle Yasemin betreut.
Nicht immer gelingt es Betroffenen, ihre Familien zu verlassen. Beratungsstellen zufolge haben viele Angst davor, sich von ihren Familien loszusagen oder schaffen es nicht. In manchen Fällen kehren Betroffene wieder zurück. Diejenigen, die sich von ihren Familien trennen, kostet es viel Überwindung.
Die Familie zu verlassen, erfordere viel, sagt Elvira Niesner vom Beratungszentrum Frauenrecht ist Menschenrecht. Das sei ein schwerer Weg, weil der ganze Lebensmittelpunkt und der soziale Kontext dann verschwinde, so Niesner.
Wie kann Ehrgewalt vorgebeugt werden?
Beratungsstellen und Menschenrechtsorganisationen weisen darauf hin, dass es unerlässlich ist, Betroffene konkret und individuell zu schützen. Letztere fordern allerdings eine kontinuierliche Finanzierung. Diese könnte durch das Gewalthilfegesetz, das der Bundestag beschlossen hat und das vom Bundesrat bestätigt werden muss, künftig verbessert werden.
Es sieht vor, dass Opfer von häuslicher Gewalt, Frauen und deren Kinder ab dem Jahr 2032 einen kostenfreien Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung haben. Erstmalig wird sich auch der Bund an der Finanzierung beteiligen. Das könnte dazu beitragen, dass Projektarbeit in der Soforthilfe, Beratung und Prävention langfristig finanziert werden kann. In Bundesländern wie Baden-Württemberg sind Maßnahmen gegen Zwangsverheiratung bislang durch das Partizipations- und Integrationsgesetz vorgeschrieben.
Gerade die Präventionsarbeit ist wesentlich. Die Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes weist darauf hin: Ein wesentlicher Schritt zur Lösung des Problems kann es sein, patriarchale Strukturen und Rollenbilder aufzulösen. Dazu gehört es, in Schulen das Gespräch zu suchen und junge Menschen aufzuklären. So kann verhindert werden, dass dieselben repressiven Ehrvorstellungen immer wieder weitergegeben werden.
Beratungszentren wie Yasemin führen deswegen auch gezielt Präventionsprojekte mit Männern und Jungen durch. Darunter Projekttage an Schulen, bei denen sich die jungen Männer mit Sexualität, Geschlechterrollen und Gleichberechtigung auseinandersetzen. Der Verein Heroes aus Berlin-Neukölln etwa gibt theaterpädagogische Workshops an Schulen, um Jugendliche über Rollenbilder und toxische Männlichkeit aufzuklären.
Junge Männer können sich in Workshops wie diesen in einem geschützten Rahmen mit sehr persönlichen Themen auseinandersetzen, etwa damit, wie sie mit Druck in der Familie oder mit der eigenen Männlichkeit umgehen.
Inwieweit ist der Begriff „Ehrenmord“ angebracht?
Die Benutzung des Begriffs „Ehrenmord“ ist umstritten. Der Verein Neue Deutsche Medienmacher kritisiert, dass der Begriff häufig zu allgemein verwendet werde, beispielsweise wenn Beziehungstaten ohne Ehrenmotiv von türkischstämmigen Männern begangen werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wiederum verwendet sowohl für sogenannte Ehrenmorde als auch für Beziehungstaten den Begriff Femizid: Dies bezeichnet Morde an Frauen, die aus misogynen bzw. frauenfeindlichen Motiven begangen werden.
Auch das BKA weist darauf hin, dass es sich bei „Ehrenmorden“ um vielschichtige Phänomene handelt, die nicht eindeutig zu definieren und von Taten wie Partnertötungen abzugrenzen sind. Das sehen jedoch nicht alle Experten so: Sonja Fatma Bläser ist Gründerin des Vereins Hennamond, mit dem sie junge Frauen mit Migrationshintergrund zu Zwangsheirat und „Ehrenmorden“ berät.
Aus ihrer Sicht ist der Begriff „Ehrenmord“ angebracht, weil er eine Form des Femizids bezeichnet, an dem die ganze Familie beteiligt ist. Nur wenn das Wort „Ehrenmord“ genannt werde, könne die ganze Familie bestraft werden, so Fatma Bläser.
tan