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"Eigentlich war ja mein Ziel, das in Peru zu machen"

Seit 16 Jahren betreut die gelernte Kinderchirurgin Jenny de la Torre Wohnungslose in Berlins Mitte. Während die stark gesunkene Zahl Obdachloser in Deutschland ihr Hoffnung macht, beobachtet sie mit Sorge die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich.

Jenny de la Torre im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Jasper Barenberg: Die "Ärztin der Ungeduschten" hat sie die Wochenzeitung DIE ZEIT getauft: Jenny de la Torre. Seit 16 Jahren betreut die gelernte Kinderchirurgin Wohnungslose in Berlins Mitte. Im Behandlungszentrum ihrer Stiftung arbeiten unter anderem ein Augenarzt, ein Zahnarzt und ein Internist, aber auch ein Anwalt und ein Friseur, die meisten tun das ehrenamtlich. Unter dem Dach werden Essen und Kleider verteilt. Geboren und aufgewachsen ist Jenny de la Torre in den peruanischen Anden, ihr Medizinstudium hat sie Ende der 70er-Jahre mit einem Stipendium in der damaligen DDR abgeschlossen, für ihre Arbeit hat sie Bundespräsident Roman Herzog 1997 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Und jetzt ist sie am Telefon. Einen schönen guten Morgen, Frau de la Torre.

    Jenny de la Torre: Guten Morgen!

    Barenberg: Obdachlosen zu helfen, sie medizinisch zu betreuen, in diese Aufgabe sind Sie ja eher zufällig reingerutscht, wenn ich das richtig weiß, vor 18 Jahren inzwischen. Wie wurde daraus für Sie so etwas wie eine Berufung?

    de la Torre: Na ja, eigentlich war ja mein Ziel, das in Peru zu machen. Also zufällig ja, weil ich nie für möglich gehalten hätte, das hier zu machen. Aber ansonsten hatte ich eigentlich vor, das in Peru zu machen, also in einer Klinik zu arbeiten und dann nebenbei, weil ich weiß, ganz viele Menschen in Peru sind nicht versichert und haben Probleme mit ihrer Gesundheit, dass ich gesagt habe, dann werde ich mal in einem Armenviertel so eine Sprechstunde machen. Und ja, plötzlich sah ich mich in so einer Sprechstunde dann in Berlin!

    Barenberg: Und wann wurde aus einem Job so etwas, was Sie auf keinen Fall wieder aufgeben wollen, wo Sie gesagt haben, da muss ich dabei bleiben, eine andere Tätigkeit kann ich mir jetzt nicht mehr vorstellen?

    de la Torre: Ja, gut, ich meine, ich habe meinen Beruf noch nie als Job gesehen, als irgendetwas, was man so tut, um Geld zu verdienen, sondern das ist mein Leben. Das ist mein Traum gewesen, Ärztin zu sein, und mir war es in dem Moment eigentlich auch egal, wo ich tätig bin, Hauptsache ich bin Ärztin. Als ich natürlich am Ostbahnhof mir damals diese Menschen angesehen habe und was für Probleme sie haben, so viele Probleme, mit denen man absolut nicht rechnet. Man denkt, man kann diesen Leuten doch schnell helfen, sie brauchen nur Sozialhilfe zu beantragen, dann kriegen sie doch alles, dann sind sie versichert, dann können sie zum Arzt. Aber das Problem war viel, viel, viel, viel größer und viel komplizierter, als ich mir überhaupt gedacht habe, und deshalb, denke ich, bin ich geblieben, weil ich gesagt habe, ich kann diese Leute so nicht einfach im Stich lassen.

    Barenberg: Können Sie uns ein Beispiel erzählen, mit was für Problemen Sie es zu tun haben?

    de la Torre: Ja, ich kenne ganz viele Beispiele. Aber eines davon ist, wenn ein Mensch kommt, der ist total krank, der muss vielleicht sogar ins Krankenhaus, der ist nicht versichert und er hat nicht mal einen Ausweis.

    Barenberg: Es sind ja geschätzte 20.000 Menschen, die in Deutschland auf der Straße leben. In Berlin sprechen die Behörden von etwa 2000. Geht es Ihnen auch darum, die Menschen am Ende Ihrer Arbeit dann möglichst von der Straße zu holen?

    de la Torre: Das kann nur das einzige Ziel sein, was uns natürlich nicht immer gelingt, weil es kommt darauf an, wie lange die Leute schon auf der Straße sind, wie krank sie überhaupt sind und ob sie danach, wenn man es zum Beispiel mit einer Wohnung versorgen könnte, in der Lage sind, auch allein das zu schaffen.

    Barenberg: Haben Sie denn erlebt, dass Menschen zu Ihnen kommen, nachdem Sie sie vielleicht behandelt haben, etwas später möglicherweise, und die hatten dann den Weg geschafft aus der Obdachlosigkeit?

    de la Torre: Ja, oft. Sie kommen hin und ich erkenne sie nicht wieder. Sie erzählen mir dann die Geschichten und dann kann ich mich daran erinnern. Manchen kenne ich natürlich schon jahrelang, aber bei manchen, die ich nur ein paar Mal behandelt habe, oder wo es schon lange her ist, dann freue ich mich natürlich unglaublich, weil sie erzählen, dass sie jetzt eine Arbeit haben, dass sie eine Wohnung haben, dass sie jetzt nicht mehr obdachlos sind und dass sie sich absolut nicht mehr vorstellen können, wieder in die Situation zu kommen.

    Barenberg: Ist das Leben für die Obdachlosen besonders jetzt im Winter schlimm?

    de la Torre: Das ist hart, das ist sehr hart. Das kann man sich absolut nicht vorstellen, wenn ein Mensch in die Sprechstunde kommt. Der hat dann vielleicht Fieber und er ist krank, er hat seinen Husten gehabt, er gehört eigentlich ins Bett und er geht wieder nach draußen. Die erzählen sogar, Frau Doktor, ich schlafe immer noch draußen.

    Barenberg: Was für Geschichten bekommen Sie dann zu hören? Warum leben die Menschen auf der Straße? Gibt es nicht genug Möglichkeiten unterzukommen, oder wollen sie die aus bestimmten Gründen nicht wahrnehmen?

    de la Torre: Viele sind natürlich jahrelang schon auf der Straße und auch wenn sie wollten, können sie das allein nicht mehr bewältigen. Das sind so viele Probleme. Allein schon der Antrag ist für manchen schon ein Akt der Bürokratie, das schaffen sie nicht allein. Sie haben die Kraft nicht mehr.

    Barenberg: Und ist es für Sie manchmal frustrierend zu sehen, dass Sie auch nur begrenzt helfen können? Sie stellen keine Betten zur Verfügung, Sie konzentrieren sich auf die medizinische Versorgung.

    de la Torre: Nein, nicht nur medizinisch. Wir haben ja auch eine Psychologin da und Rechtsanwälte, eine Sozialarbeiterin. Also wir machen schon ein bisschen mehr im Sinne der Reintegration, dass wir immer weiterhelfen, dass wir nicht dabei bleiben, nur medizinisch zu versorgen. Das würde überhaupt nicht ausreichend sein, das ist nicht ausreichend. Aber wir versuchen, die Leute auch ins Obdachlosenheim oder überhaupt eine Unterkunft oder gar in eine Wohnung zu bekommen, aber das ist natürlich ein langer Weg. Das geschieht nicht von heute auf morgen.

    Barenberg: Reiche werden reicher und die Armut in Deutschland nimmt zu, ein Thema, das viel diskutiert wurde in diesem Jahr. Aus Ihrer Perspektive und vor dem Hintergrund dessen, was Sie an Erfahrungen sammeln, können Sie diesen Trend bestätigen? Haben auch Sie den Eindruck, dass die Armut wächst, dass es mehr gibt?

    de la Torre: Ja. Ich hatte vor was weiß ich, 16 Jahren, sicher eine bestimmte Schicht oder bestimmte Leute, die meine Sprechstunde aufgesucht haben. Hauptsächlich waren das eben obdachlose Menschen, die von der Straße her kamen. Aber im Moment kommen sehr andere Menschen, die zum Beispiel nicht versichert sind, da kommen Rentner, ältere Menschen nehmen zu, psychische Erkrankungen nehmen eindeutig zu, da kommen viele, die zwar nicht obdachlos sind, aber sich auch die Medikamente kaum leisten können.

    Barenberg: Was erfahren Sie dann über das Leben dieser Menschen, wenn sie zu Ihnen kommen? Wie schwierig ist es für sie?

    de la Torre: Viele sagen zum Beispiel, ich habe eine kleine Rente, aus irgendeinem Grund ist die Versicherung nicht bezahlt und ich kann mir jetzt diese Versicherung nicht leisten, weil ich muss ja auch sowieso alles nachzahlen, und das schaffe ich nicht.

    Barenberg: Haben Sie die Hoffnung am Ende und treibt Sie das vielleicht auch an, dass es keine Obdachlosen mehr in Berlin geben wird?

    de la Torre: Das ist ein schöner Traum. Ich hoffe sehr! Man muss diesen Traum nicht aufgeben, weil ich denke, dass dieses Problem doch zu lösen ist. Wenn wir die Zahlen sehen: Vor 16 Jahren hieß es, in Deutschland gibt es eine Million Obdachlose, jetzt reden wir über eine Viertel Million. Das heißt, es ist sehr viel auch in Deutschland entstanden. Das heißt, dass es eine Möglichkeit gibt, diese Menschen doch in die Gesellschaft zurückzubringen. Sie sind da, wir sehen sie nur nicht, und es gibt schon Möglichkeiten und ich habe Leute sogar gesehen, die es weg von der Straße geschafft haben, wo ich gedacht habe, mein Gott, wie geht das denn, ist das überhaupt möglich. Und siehe da: Es ist möglich. Man muss nur die richtige Hilfe jedem einzelnen Menschen geben und ihnen auch Zeit geben, wieder zurückzukommen. Man kann nicht zum Beispiel ihn jetzt sofort von der Straße holen, der war zehn Jahre lang dort, und dann kann er ab übermorgen wieder arbeiten oder so. Er braucht Zeit, um überhaupt zu begreifen, was in seinem Leben geschehen ist und was für eine Kraft er hat, und dann wird er natürlich mit seinem ganzen Leben dann von heute auf morgen auch konfrontiert. Das heißt, sie brauchen viel Zeit, sie brauchen vielleicht auch längere Betreuung, bis sie dahin kommen, was wir denken, so kann man leben und das ist menschlich.

    Barenberg: Die Ärztin Jenny de la Torre kümmert sich in Berlins Mitte um Obdachlose. Frau de la Torre, danke für das Gespräch.

    de la Torre: Danke schön auch!