Christoph Heinemann: Sie beginnen mit dem Rückblick "es war einmal" und schlagen am Ende oft eine Brücke in die Gegenwart mit dem Hinweis "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute". Um Märchen geht es ab heute wieder in der Hauptstadt bei den Berliner Märchentagen, die bis zum 25. November unter dem Wahlspruch "von Löwenherzen und Räubertöchtern" stattfinden. Seine Lesart zu drei ausgewählten Märchen hat der Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann in einem Buch beschrieben. "Von der Macht des Geldes" lautet die Überschrift. Und er analysiert Rumpelstilzchen, die Geschichte der Müllerstochter, die ihr Kind einem Gnom verspricht, der für sie Stroh zu Gold spinnt, der gestiefelte Kater, der zum eigenen Vorteil Schritt für Schritt die Karriere seines Herrn plant und dabei über Leichen geht, und die Bremer Stadtmusikanten, die vorgeblich nutzlosen Alten, die gemeinsam so stark sind, dass sie sogar ruchlose Diebe in die Flucht schlagen können. "Es sei wichtig, in diesen Geschichten den Verformungen nachzugehen, die sich unter dem Druck äußerer Not in den Seelen von Menschen abzeichneten", schreibt Eugen Drewermann. "Märchen zur Ökonomie" hat er sein Buch im Untertitel bezeichnet. Ich habe ihn vor dieser Sendung gefragt, inwiefern zum Beispiel die Geschichte vom Rumpelstilzchen unsere Wirtschaftsordnung beschreibt.
Eugen Drewermann: Die Geschichte vom Rumpelstilzchen spricht von einem Mädchen, das vom Vater einem König versprochen wird mit der Kunst, Stroh in Gold spinnen zu können. Und wenn dieses Kind das nicht schafft, wird es hingerichtet werden. Die Märchen der Brüder Grimm sind voll von Geschichten armer Leute, die auf sozialen Aufstieg hoffen, aber dabei Unglaubliches leisten müssten, viel mehr als sie vermögen. Das Märchen vom Rumpelstilzchen erzählt nun, dass es vielleicht sein kann, den Leistungsförderungen der Umgebung perfekt sich anzupassen, aber nur um den Preis des Opfers, der eigenen Gefühle, der eigenen Kindheit, der eigenen Persönlichkeit. Am Ende muss dieses Mädchen sich selber mit dem Kind, das es zur Welt bringt, versprechen einem Gnom, der ihm dabei behilflich ist, bei dem Kunststück, wie man aus Nichts Goldwertes schaffen könnte, behilflich zu sein, nur wenn man den Namen dieses Gnoms kennt. Zweierlei liegt in meinen Augen darin. Das Wirtschaftssystem, das wir heute haben, anerkennt überhaupt keine Werte mehr. Alles ist in den Händen des Kapitalismus wie Stroh. Brennende Urwälder, Elend in unglaublicher Form, die für nichts gilt, wenn man nur Gewinne damit einheimsen kann, und gleichzeitig aus diesem Nichtigen muss eben Gold gesponnen werden ohne Rücksicht auf die Menschen. Eine Geschichte, die über 190 Jahre alt ist, und doch so modern, wie sie nur irgend sein kann.
Heinemann: Wer spielt denn heutzutage die Rolle dieses Gnoms, dieses Rumpelstilzchens?
Drewermann: Ich denke alle Gefühle, die wir opfern müssen, um Karriere zu machen, lassen sich repräsentieren in diesem Zwergenwesen unserer selbst, in dieser Homunkulusgestalt, die immer trickreich ist, immer fleißig, jede Nacht durcharbeitet. Die Müllerstochter, die hoffte auf diese Art Karriere zu machen, muss nach und nach alles von sich opfern. Wie viele Frauen vor allem kenne ich, die an Gicht leiden, an Arthrose unter dem Dauerstress, in den man sie gestellt hat, um Beruf und Familie, um Karriere und Kind miteinander unter einen Hut bekommen zu können. Sie leiden endlos und sie opfern ständig. Sie sind am Ende mit 50 so ausgebrannt und leer, dass sie kaum noch wissen wofür sie existiert haben. Die Kinder sind schon wieder aus dem Hause, aber sie haben sie kaum kennen gelernt. Was das Märchen vom Rumpelstilzchen dabei sagen kann sind dringende Warnungen. Höre auf dein Herz und lass dich nicht ein auf einen Pakt, der in den Märchen sonst beschrieben wird als ein Pakt mit dem Teufel. Man kann dabei sehr reich werden, verliert aber seine Seele.
Heinemann: Der gestiefelte Kater wurde geschrieben als Karikatur des Merkantilismus in der Zeit Ludwigs XIV. Wie aktuell ist dieses Märchen?
Drewermann: Es ist eine Satire. Es beschreibt weniger jemanden, der an dem System scheitert, sondern der glänzend wie auf einer Klaviatur mit behänden Fingern über seine Regeln hinweggleitet und immer höher strebt. Es ist ein System, in dem der gestiefelte Kater - unter permanenter Todesangst wohlgemerkt - lernt, die Schwächen seiner Mitmenschen auszunutzen, alles was er gewinnt, nicht zum Konsum für sich selber zu schlagen, sondern Kapital daraus zu machen, das sich selber vermehren soll. Er lernt, dass Geldbesitz am besten lukrativ angelegt ist, wenn es den Pakt mit den Mächtigen schließt. Er geht zum König und verkauft ihm die Fasanen und Rebhühner, die er für ihn erjagt hat. Umgekehrt ist es die Weisheit von Charles Perrault schon am Hofe Ludwigs XIV., dass man die Mächtigen gar nicht anders definieren kann als im Bündnis mit den Geldbesitzern. Diese unheilige Allianz ist heute so modern, dass wir sie in jeder Börsennachricht finden, beim Anschauen der Nachrichten im politischen Geschäft. Wie viel kostet es, Präsident der USA zu werden. Das erleben wir gerade, wie die Wahlwettbewerber ihre Sponsoren aktivieren. 250 Millionen Dollar sind das wenigste, um präsidentiabel zu werden. Man kann alles kaufen in diesem System. Diese Welt einer grausam gewordenen Katze aus Todesangst ist die Geschichte vom gestiefelten Kater. Sie endet grotesk und possierlich wie Goethes Reinecke Fuchs, aber sie hat einen bitteren Ernst. Wir sollten aufwachen, wenn wir sie lesen, uns erst mal darüber kaputt lachen, dann aber aus der Satire die richtigen Folgerungen machen. Dieses System ist lachhaft.
Heinemann: Die Bremer Stadtmusikanten immerhin machen die Erfahrung, dass wenn man gemeinsam stark ist man die Geld- und die Hausbesitzer in die Flucht schlagen kann.
Drewermann: Die Geschichte von den Bremer Stadtmusikanten ist in aller Munde des berühmten Satzes wegen "was besseres als den Tod findest du überall". Aber die wirkliche Weisheit dieser Geschichte, die Revolution, die in ihr liegt, besteht in der Feststellung, die jedem sonnenklar sein könnte und dennoch stets verschwiegen wird, dass ein Wirtschaftssystem nicht Recht haben kann, das Menschen festlegt und überhaupt nur leben lässt durch ihre Leistungsfähigkeit, durch die Effizienz ihrer gesellschaftlichen Aktivitäten. Und das erleben zumindest die alt gewordenen spätestens. Die Geschichte ist deshalb überraschend, weil die Hausbesitzer entlarvt werden als Räuber. Eigentum ist Diebstahl. Und die Räuber, die da im Hause sitzen und sich vollprassen und mästen, anerkennen in ihrem Unbewussten, dass sie Diebe sind. Der Hahn, den sie hören, oben auf dem Dach, nachdem die Tiere das Haus besetzt haben, erscheint ihnen wie der oberste Richter, der schon die Festnahme der Schelme in Auftrag gibt, und sie wagen nicht mehr zurückzukehren. Das ist wirklich märchenhaft, dass mal eine Revolution sei, die nicht sofort wieder von der Gegenrevolution kassiert wird wie etwa Allende durch Pinochet.
Heinemann: Aber Stichwort Aktualität. Nicht jeder, der mit Mühe sein Eigenheim abstottert für seine Familie, ist doch gleich ein Dieb.
Drewermann: Das mag sein und man hat sicher nichts zu sagen gegen die kleinen Leute, die versuchen, in diesem System zurecht zu kommen. Aber Adornos Satz gilt natürlich: Man kann im Verkehrten nichts Richtiges machen. Wir alle sitzen in einer Tretmühle, an deren Rändern 50 Millionen Menschen jedes Jahr an Hunger sterben. Wir könnten für 20 Milliarden Euro, die Hälfte des Wehrhaushaltes der Bundesrepublik, allen Menschen Zugang zu Trinkwasser schaffen. Wir könnten ungefähr für die gleiche Summe die Slums um die Großstädte der Welt auflösen. Sao Paulo, Rio, Bombay einmal vorgestellt ohne Slums. Wir könnten wirklich etwas tun für den Frieden, für die Einheit der Menschen, für eine Globalisierung der Humanität und der Verantwortung und genau das Gegenteil tun wir. Die kleinen Häuslebauer müssen alleine für die Kredite, die sie aufnehmen, endlose Zinsen zahlen und wieder mästen sie dabei die schon Reichen mit überflüssigen Abgaben und werden dabei immer ärmer.
Heinemann: Wie sollte man die Märchen, auch die Märchen zur Ökonomie, jungen Menschen heute vermitteln?
Drewermann: Die Märchen zu vermitteln wäre etwas Wunderbares, weil die Sprache selber wieder kultiviert werden müsste, in der Lyrik möglich ist. Ich glaube, dass wir sehr darunter leiden, dass man uns im Rahmen einer Ausbildung, die nichts weiter will als berufsbezogene Effizienz, wie in der Geschichte vom Rumpelstilzchen die Gefühle längst gestohlen hat, die uns fähig machen, zu Poeten unseres Lebens zu werden, die eigenen Träume wahrzunehmen, ihnen zu folgen als Visionen eines richtigeren, menschlicheren Lebens. Und wir verlieren die Sprache der Liebe, von denen die Märchen voll sind. Märchen sind die Lingua Franca der Nation. So meinte Erich Fromm vor einem halben Jahrhundert schon, die Sprache der Träume, der Märchen, der Religionen, des Unbewussten zu lernen verändert die ganze Einstellung zur menschlichen Wirklichkeit und ist in sich selber therapeutisch.
Heinemann: Das kann aber nur gepflegt werden, wenn die Kette der Überlieferung nicht zerreißt. Haben Grimms oder Andersens Märchen im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit etwa gegen die Teletubbies eine Chance?
Drewermann: Ich fürchte wenn es so weitergeht eigentlich nicht mehr. Es wird das alles aussterben, indem es sich vermarktet. Das heißt es gibt eine Phase des Scheinerfolges, indem man die Märchenmotive kolportiert. Vieles was in Kriminalfilmen heute, in Science-Fiction-Filmen untergebracht ist, Kampf mit dem Drachen beispielsweise, Kampf zwischen Gut und Böse, wird bis in die politische Ideologie hinein sogar ausgebeutet. Statt es zu reflektieren und durchzuarbeiten, wie die psychoanalytische, psychologische Aufklärung erfordern würde, geht das alles ungefiltert eins zu eins am Ende in das Weltbild sogar von George W. Bush ein, dass wir einen monomentalen Kreuzzug gegen das Böse zu führen haben. Damit psychiatrisieren wir die politische Wirklichkeit, statt sie entlang der uralten Märchenüberlieferungen noch einmal zu reflektieren und dann entsprechend zu korrigieren. Es ist nicht ohne Gefahr, was wir machen. Hinzu kommt die Verflachung. Der Geschmack an den Märchen hängt in der Möglichkeit, mit Worten Bilder zu imaginieren und also das Träumen noch einmal zu lernen. Die Visualisierung der Märchen in der Industrie, der heutigen elektronischen Medien, kehrt diesen Vorgang vollkommen um. Man präsentiert bestimmte Bilder und macht mundtot dabei. Vielleicht kann man es vergleichen mit dem Schicksal des Volkslieds. Es wird nicht mehr zu Hause gesungen. Es vermittelt sich nicht mehr zwischen dem, was die Mutter, der Vater einem Kind, das auf dem Schoß sitzt, als eine Kostbarkeit vermittelt wie einen Erbbesitz, der durch nichts mehr ersetzt werden kann. Man hat heute eine Klatschparade irgendwo bei der so genannten Volksmusik. Da sind dann Tausende von Leuten in einer riesigen Halle bei einem Konzert und sie dudeln sich voll für zwei Stunden, ohne dass irgendein Stück noch begriffen würde. Lieder, die einmal aus dem Besten der deutschen Dichtung stammten. Nehmen Sie einmal "in einem kühlen Grunde". Wie eine Liebe zerbricht, wie ein Ring zerfällt, und man weiß am Ende nicht mehr wohin. Das sind drei, vier kleine Strophen und sie enthalten die Tragödie des Suchens und nicht mehr Findens, ein Gegenmärchen, mit dem nun eine Geschichte der Brüder Grimm beginnen könnte.
Heinemann: Das Gespräch mit dem Theologen und Psychotherapeuten Eugen Drewermann haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet.
Eugen Drewermann: Die Geschichte vom Rumpelstilzchen spricht von einem Mädchen, das vom Vater einem König versprochen wird mit der Kunst, Stroh in Gold spinnen zu können. Und wenn dieses Kind das nicht schafft, wird es hingerichtet werden. Die Märchen der Brüder Grimm sind voll von Geschichten armer Leute, die auf sozialen Aufstieg hoffen, aber dabei Unglaubliches leisten müssten, viel mehr als sie vermögen. Das Märchen vom Rumpelstilzchen erzählt nun, dass es vielleicht sein kann, den Leistungsförderungen der Umgebung perfekt sich anzupassen, aber nur um den Preis des Opfers, der eigenen Gefühle, der eigenen Kindheit, der eigenen Persönlichkeit. Am Ende muss dieses Mädchen sich selber mit dem Kind, das es zur Welt bringt, versprechen einem Gnom, der ihm dabei behilflich ist, bei dem Kunststück, wie man aus Nichts Goldwertes schaffen könnte, behilflich zu sein, nur wenn man den Namen dieses Gnoms kennt. Zweierlei liegt in meinen Augen darin. Das Wirtschaftssystem, das wir heute haben, anerkennt überhaupt keine Werte mehr. Alles ist in den Händen des Kapitalismus wie Stroh. Brennende Urwälder, Elend in unglaublicher Form, die für nichts gilt, wenn man nur Gewinne damit einheimsen kann, und gleichzeitig aus diesem Nichtigen muss eben Gold gesponnen werden ohne Rücksicht auf die Menschen. Eine Geschichte, die über 190 Jahre alt ist, und doch so modern, wie sie nur irgend sein kann.
Heinemann: Wer spielt denn heutzutage die Rolle dieses Gnoms, dieses Rumpelstilzchens?
Drewermann: Ich denke alle Gefühle, die wir opfern müssen, um Karriere zu machen, lassen sich repräsentieren in diesem Zwergenwesen unserer selbst, in dieser Homunkulusgestalt, die immer trickreich ist, immer fleißig, jede Nacht durcharbeitet. Die Müllerstochter, die hoffte auf diese Art Karriere zu machen, muss nach und nach alles von sich opfern. Wie viele Frauen vor allem kenne ich, die an Gicht leiden, an Arthrose unter dem Dauerstress, in den man sie gestellt hat, um Beruf und Familie, um Karriere und Kind miteinander unter einen Hut bekommen zu können. Sie leiden endlos und sie opfern ständig. Sie sind am Ende mit 50 so ausgebrannt und leer, dass sie kaum noch wissen wofür sie existiert haben. Die Kinder sind schon wieder aus dem Hause, aber sie haben sie kaum kennen gelernt. Was das Märchen vom Rumpelstilzchen dabei sagen kann sind dringende Warnungen. Höre auf dein Herz und lass dich nicht ein auf einen Pakt, der in den Märchen sonst beschrieben wird als ein Pakt mit dem Teufel. Man kann dabei sehr reich werden, verliert aber seine Seele.
Heinemann: Der gestiefelte Kater wurde geschrieben als Karikatur des Merkantilismus in der Zeit Ludwigs XIV. Wie aktuell ist dieses Märchen?
Drewermann: Es ist eine Satire. Es beschreibt weniger jemanden, der an dem System scheitert, sondern der glänzend wie auf einer Klaviatur mit behänden Fingern über seine Regeln hinweggleitet und immer höher strebt. Es ist ein System, in dem der gestiefelte Kater - unter permanenter Todesangst wohlgemerkt - lernt, die Schwächen seiner Mitmenschen auszunutzen, alles was er gewinnt, nicht zum Konsum für sich selber zu schlagen, sondern Kapital daraus zu machen, das sich selber vermehren soll. Er lernt, dass Geldbesitz am besten lukrativ angelegt ist, wenn es den Pakt mit den Mächtigen schließt. Er geht zum König und verkauft ihm die Fasanen und Rebhühner, die er für ihn erjagt hat. Umgekehrt ist es die Weisheit von Charles Perrault schon am Hofe Ludwigs XIV., dass man die Mächtigen gar nicht anders definieren kann als im Bündnis mit den Geldbesitzern. Diese unheilige Allianz ist heute so modern, dass wir sie in jeder Börsennachricht finden, beim Anschauen der Nachrichten im politischen Geschäft. Wie viel kostet es, Präsident der USA zu werden. Das erleben wir gerade, wie die Wahlwettbewerber ihre Sponsoren aktivieren. 250 Millionen Dollar sind das wenigste, um präsidentiabel zu werden. Man kann alles kaufen in diesem System. Diese Welt einer grausam gewordenen Katze aus Todesangst ist die Geschichte vom gestiefelten Kater. Sie endet grotesk und possierlich wie Goethes Reinecke Fuchs, aber sie hat einen bitteren Ernst. Wir sollten aufwachen, wenn wir sie lesen, uns erst mal darüber kaputt lachen, dann aber aus der Satire die richtigen Folgerungen machen. Dieses System ist lachhaft.
Heinemann: Die Bremer Stadtmusikanten immerhin machen die Erfahrung, dass wenn man gemeinsam stark ist man die Geld- und die Hausbesitzer in die Flucht schlagen kann.
Drewermann: Die Geschichte von den Bremer Stadtmusikanten ist in aller Munde des berühmten Satzes wegen "was besseres als den Tod findest du überall". Aber die wirkliche Weisheit dieser Geschichte, die Revolution, die in ihr liegt, besteht in der Feststellung, die jedem sonnenklar sein könnte und dennoch stets verschwiegen wird, dass ein Wirtschaftssystem nicht Recht haben kann, das Menschen festlegt und überhaupt nur leben lässt durch ihre Leistungsfähigkeit, durch die Effizienz ihrer gesellschaftlichen Aktivitäten. Und das erleben zumindest die alt gewordenen spätestens. Die Geschichte ist deshalb überraschend, weil die Hausbesitzer entlarvt werden als Räuber. Eigentum ist Diebstahl. Und die Räuber, die da im Hause sitzen und sich vollprassen und mästen, anerkennen in ihrem Unbewussten, dass sie Diebe sind. Der Hahn, den sie hören, oben auf dem Dach, nachdem die Tiere das Haus besetzt haben, erscheint ihnen wie der oberste Richter, der schon die Festnahme der Schelme in Auftrag gibt, und sie wagen nicht mehr zurückzukehren. Das ist wirklich märchenhaft, dass mal eine Revolution sei, die nicht sofort wieder von der Gegenrevolution kassiert wird wie etwa Allende durch Pinochet.
Heinemann: Aber Stichwort Aktualität. Nicht jeder, der mit Mühe sein Eigenheim abstottert für seine Familie, ist doch gleich ein Dieb.
Drewermann: Das mag sein und man hat sicher nichts zu sagen gegen die kleinen Leute, die versuchen, in diesem System zurecht zu kommen. Aber Adornos Satz gilt natürlich: Man kann im Verkehrten nichts Richtiges machen. Wir alle sitzen in einer Tretmühle, an deren Rändern 50 Millionen Menschen jedes Jahr an Hunger sterben. Wir könnten für 20 Milliarden Euro, die Hälfte des Wehrhaushaltes der Bundesrepublik, allen Menschen Zugang zu Trinkwasser schaffen. Wir könnten ungefähr für die gleiche Summe die Slums um die Großstädte der Welt auflösen. Sao Paulo, Rio, Bombay einmal vorgestellt ohne Slums. Wir könnten wirklich etwas tun für den Frieden, für die Einheit der Menschen, für eine Globalisierung der Humanität und der Verantwortung und genau das Gegenteil tun wir. Die kleinen Häuslebauer müssen alleine für die Kredite, die sie aufnehmen, endlose Zinsen zahlen und wieder mästen sie dabei die schon Reichen mit überflüssigen Abgaben und werden dabei immer ärmer.
Heinemann: Wie sollte man die Märchen, auch die Märchen zur Ökonomie, jungen Menschen heute vermitteln?
Drewermann: Die Märchen zu vermitteln wäre etwas Wunderbares, weil die Sprache selber wieder kultiviert werden müsste, in der Lyrik möglich ist. Ich glaube, dass wir sehr darunter leiden, dass man uns im Rahmen einer Ausbildung, die nichts weiter will als berufsbezogene Effizienz, wie in der Geschichte vom Rumpelstilzchen die Gefühle längst gestohlen hat, die uns fähig machen, zu Poeten unseres Lebens zu werden, die eigenen Träume wahrzunehmen, ihnen zu folgen als Visionen eines richtigeren, menschlicheren Lebens. Und wir verlieren die Sprache der Liebe, von denen die Märchen voll sind. Märchen sind die Lingua Franca der Nation. So meinte Erich Fromm vor einem halben Jahrhundert schon, die Sprache der Träume, der Märchen, der Religionen, des Unbewussten zu lernen verändert die ganze Einstellung zur menschlichen Wirklichkeit und ist in sich selber therapeutisch.
Heinemann: Das kann aber nur gepflegt werden, wenn die Kette der Überlieferung nicht zerreißt. Haben Grimms oder Andersens Märchen im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit etwa gegen die Teletubbies eine Chance?
Drewermann: Ich fürchte wenn es so weitergeht eigentlich nicht mehr. Es wird das alles aussterben, indem es sich vermarktet. Das heißt es gibt eine Phase des Scheinerfolges, indem man die Märchenmotive kolportiert. Vieles was in Kriminalfilmen heute, in Science-Fiction-Filmen untergebracht ist, Kampf mit dem Drachen beispielsweise, Kampf zwischen Gut und Böse, wird bis in die politische Ideologie hinein sogar ausgebeutet. Statt es zu reflektieren und durchzuarbeiten, wie die psychoanalytische, psychologische Aufklärung erfordern würde, geht das alles ungefiltert eins zu eins am Ende in das Weltbild sogar von George W. Bush ein, dass wir einen monomentalen Kreuzzug gegen das Böse zu führen haben. Damit psychiatrisieren wir die politische Wirklichkeit, statt sie entlang der uralten Märchenüberlieferungen noch einmal zu reflektieren und dann entsprechend zu korrigieren. Es ist nicht ohne Gefahr, was wir machen. Hinzu kommt die Verflachung. Der Geschmack an den Märchen hängt in der Möglichkeit, mit Worten Bilder zu imaginieren und also das Träumen noch einmal zu lernen. Die Visualisierung der Märchen in der Industrie, der heutigen elektronischen Medien, kehrt diesen Vorgang vollkommen um. Man präsentiert bestimmte Bilder und macht mundtot dabei. Vielleicht kann man es vergleichen mit dem Schicksal des Volkslieds. Es wird nicht mehr zu Hause gesungen. Es vermittelt sich nicht mehr zwischen dem, was die Mutter, der Vater einem Kind, das auf dem Schoß sitzt, als eine Kostbarkeit vermittelt wie einen Erbbesitz, der durch nichts mehr ersetzt werden kann. Man hat heute eine Klatschparade irgendwo bei der so genannten Volksmusik. Da sind dann Tausende von Leuten in einer riesigen Halle bei einem Konzert und sie dudeln sich voll für zwei Stunden, ohne dass irgendein Stück noch begriffen würde. Lieder, die einmal aus dem Besten der deutschen Dichtung stammten. Nehmen Sie einmal "in einem kühlen Grunde". Wie eine Liebe zerbricht, wie ein Ring zerfällt, und man weiß am Ende nicht mehr wohin. Das sind drei, vier kleine Strophen und sie enthalten die Tragödie des Suchens und nicht mehr Findens, ein Gegenmärchen, mit dem nun eine Geschichte der Brüder Grimm beginnen könnte.
Heinemann: Das Gespräch mit dem Theologen und Psychotherapeuten Eugen Drewermann haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet.