Archiv


Eigenwillige Violinkonzerte

Aus Strawinskys neoklassizistischer Periode stammt das Violinkonzert in D, das jetzt von Baiba Skride eingespielt wurde. Außerdem ein weiteres Violinkonzert von Frank Martin.

Von Ludwig Rink |
    7.000 Dollar verlangte Igor Strawinsky 1931 vom deutschen Verlagshaus Schott, das den Komponisten gebeten hatte, für einen jungen amerikanischen Geiger ein Konzert zu schreiben. Eine damals enorme Summe. Strawinsky reizte seinen Marktwert aus, schließlich musste er die Haushaltsführung seiner Ehefrau, seiner Geliebten und seiner Mutter sichern. Der Verleger zahlte, Strawinsky machte sich an die Arbeit und wir erfreuen uns bis heute an einem ganz besonders eigenwilligen, heiteren Beitrag zur Gattung Violinkonzert. Dieses von Strawinsky und ein weiteres von Frank Martin hat die junge, aus Riga stammende Geigerin Baiba Skride jetzt beim Label Orfeo herausgebracht.

    "Igor Strawinsky
    Konzert für Violine und Orchester in D: 4. Satz Capriccio (Anfang)
    Track 1
    Dauer: 1'20
    Baiba Skride, Violine
    BBC National Orchestra of Wales
    Leitung: Thierry Fischer
    LC 08175 Orfeo
    C 849 121 A"

    Vielleicht war die von Igor Strawinsky für dieses Violinkonzert verlangte Pauschalsumme auch deshalb so hoch, weil er, wie viele Komponisten seiner Generation, eigentlich immer weniger Lust verspürte, das etablierte Konzertleben mit dem Üblichen, also Solokonzerten und Sinfonien, zu beliefern. Damals, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bestimmten nämlich eine Vielzahl anderer Impulse das Denken eines Komponisten. Es war eine Zeit des Probierens, des Experimentierens, denn längst hatte die über Jahrhunderte alles zusammenhaltende Kraft der Tonalität ihre Wirkung eingebüßt. Immer noch ging es um Originalität, aber jetzt derart zugespitzt, dass jedes Werk gleichsam seine künstlerische Berechtigung aus sich heraus zu beweisen hatte. Ähnlich wie in Picassos Schaffen lassen sich dabei auch bei Strawinsky Perioden ausmachen, Zeitspannen, in denen ein bestimmter Stil gefunden, erprobt und angewendet wird. Und Strawinsky hat sich in seinen Partituren nicht nur mit musikalischen Parametern wie Rhythmus, Harmonik, Melodik oder mit bestimmten Techniken auseinandergesetzt, sondern auch mit vielerlei fertiger Musik aus Gegenwart und Vergangenheit, seien es das russische Volkslied, die Schöpfungen seiner spätromantischen Landsleute Tschaikowsky, Rimskij-Korsakow, Glinka oder Balakirew, die Errungenschaften des französischen Impressionismus, die völlig neuen Klänge des noch jungen Jazz, die Zwölftontechnik bis hin zur Serialität, aber auch Bach'sche Fugen, italienische Renaissancemusik oder französische Barockoper. In unseren postmodernen Zeiten, wo in allen Künsten bis hin zur Architektur gerne mit allen möglichen fertigen Stilelementen aus den verschiedensten Zusammenhängen gespielt wird, ist das Verständnis hierfür inzwischen größer als noch vor 50 Jahren, als zum Beispiel das ja nicht ganz unwichtige große Lexikon "Die Musik in Geschichte und Gegenwart" kritisch vom "zutiefst parasitären Charakter der Musik Strawinskys" sprach.

    Aus Strawinskys neoklassizistischer Periode stammt das Violinkonzert in D, das jetzt von Baiba Skride eingespielt wurde. Mit seinen vier statt wie sonst üblich eher drei Sätzen legt es Zeugnis ab von Strawinskys Auseinandersetzung mit Denkweisen und Formen der Barockmusik, vor allem mit dem Concerto-Grosso-Prinzip. Dies bedeutet, dass an vielen Stellen auch die Orchestermusiker solistisch zu Ehren kommen, zum Beispiel im zweiten Satz, wo die Stimmführer jeder Streichersektion im Stil einer barocken Concertino-Gruppe herausgelöst werden oder im letzten Satz, wo es ein langes Duett mit imitierendem Stimmenverlauf zwischen Solistin und Konzertmeister gibt. Aber auch mit einzelnen Bläsern bis hin zum tiefen Fagott lässt sich die Sologeige immer wieder ein auf einen Dialog, einen Wettlauf oder ein Kräftemessen. Dabei sind die beiden Ecksätze "Toccata" und "Capriccio" überaus bewegt, treiben das für Barockmusik so typische durchgehende Metrum oft fast parodistisch auf die Spitze, während die beiden Binnensätze Aria eins und zwei gesanglicher und reichlich ausgeziert erscheinen. Im Unterschied zu den anderen wichtigen Violinkonzerten der 30er-Jahre von Alban Berg, Arnold Schönberg und Bela Bartok ist Strawinskys Konzert kompakter, weniger ausladend, mitnichten aber einfacher in der Ausführung. Denn um zu überzeugen, bedarf es einer rhythmisch überaus präzisen, blitzsauberen Interpretation – bei Solist und Orchestermusikern gleichermaßen. Baiba Skride und dem BBC National Orchestra of Wales unter Leitung von Thierry Fischer gelingt dies beispielhaft – hören Sie selbst den ersten, mit "Toccata" überschrieben Satz.

    "Igor Strawinsky
    Konzert für Violine und Orchester in D: 1. Satz "Toccata"
    Track 1
    Dauer: 5'35
    Baiba Skride, Violine
    BBC National Orchestra of Wales
    Leitung: Thierry Fischer
    LC 08175 Orfeo
    C 849 121 A"

    Neben den barocken Stilelementen lugen aus Strawinskys Partitur auch – sozusagen augenzwinkernd – eine Vielzahl anderer Einflüsse hervor – etwas Ballett, Cabaret, oder auch Tanzmusik.

    Deutlich ernster kommt da das 20 Jahre später komponierte Violinkonzert von Frank Martin daher, dreisätzig, überhaupt klassischer in der Anlage und mit einer großen, dankbaren Kadenz für die Solistin im ersten Satz. Der 1890 als zehntes Kind eines calvinistischen Pfarrers in Genf geborene Frank Martin entwickelte eine eigene, ganz spezielle Musiksprache, die großen Wert auf eine sozusagen natürliche Entwicklung des musikalischen Materials legt. Deshalb begegnen wir in seinen Werken wunderbar stimmigen Übergängen, Fortspinnungen, Umdeutungen und Steigerungen. Hinzukommt eine freie, aber dennoch immer tonal grundierte Harmonik, deren Fortschreitungen ausführlich auf mögliche Richtungen abgeklopft wurden, auch hier übrigens mit dem Ziel einer möglichst organischen, sich scheinbar von selbst ergebenden Ordnung. Mit diesem musikalischen Denken geriet Martin, der ab 1950 fast schon im Rentenalter für sieben Jahre eine Kompositionsklasse an der Kölner Musikhochschule übernahm, zunehmend in die Kontroversen um die "richtige" Richtung der Neuen Musik, bei der zunehmend jene den Ton angaben, die sich nicht auf "die Natur" verlassen, sondern das musikalische Material lieber rational nach neutraleren, seriellen Verfahren organisieren wollten. Die Folge: Vieles aus Martins umfangreichem, nach dem Krieg auch sehr erfolgreichem Schaffen verschwand in der Versenkung. Umso mehr ist zu begrüßen, dass Baiba Skride nun mit der vorliegenden Produktion endlich einmal wieder eine musikalisch wie technisch überzeugende Einspielung seines Violinkonzertes auf den Markt bringt. Und wenn Sie das Gefühl haben, durch dieses Stück wehe stellenweise ein Geist, so sind Sie auf der richtigen Spur. Denn Martin hatte vorher lange an seiner Shakespearevertonung "Der Sturm" gearbeitet. Deshalb hat das Violinkonzert, so schreibt er selbst, "etwas von dieser geheimnisvollen und märchenhaften Atmosphäre bewahrt. Andere Elemente mit mehr Lyrik, mehr Pathos treten darin auf, aber immer dringt Ariels Charakter wieder durch, leicht geheimnisvoll ... oder lebhaft kapriziös."

    "Frank Martin
    Konzert für Violine und Orchester: 2. Satz, von 1'47 bis 5'05
    Track 8
    Dauer: 3'17
    Baiba Skride, Violine
    BBC National Orchestra of Wales
    Leitung: Thierry Fischer
    LC 08175 Orfeo
    C 849 121 A"

    Soweit ein Ausschnitt aus dem zweiten Satz von Frank Martins Violinkonzert, gespielt von Baiba Skride und dem BBC National Orchestra of Wales unter der Leitung des aus der Schweiz stammenden Dirigenten Thierry Fischer. Neben den beiden Violinkonzerten von Strawinsky und Frank Martin finden sich auf dieser Orfeo-CD noch drei weitere kleinere Stücke, bei denen sich die walisischen Musiker allein präsentieren können: das Dampflokporträt "Pacific 231" und die musikalische Schilderung des Mannschaftssportes "Rugby", beides von Arthur Honegger, sowie die "Circus Polka", die Igor Strawinsky 1942 für 50 Elefanten und die gleiche Zahl von Ballerinas komponiert hat. Auch dieser Auftrag für eine Zirkuskapellenbesetzung war für Strawinsky eine Goldgrube, wurde doch diese Nummer mehr als 400 Mal gegeben.