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Eiland/Jennings: "Walter Benjamin. Eine Biographie"
Eine Jahrhunderterscheinung

Vor achtzig Jahren starb Walter Benjamin in den spanischen Pyrenäen. Ein schier unglaubliches Nachleben begann, das sich nur mit dem von Kafka vergleichen lässt. Nun ist bei Suhrkamp eine weitere Biographie verlegt worden, von den amerikanischen Philologen Howard Eiland und Michael W. Jennings.

Von Jörg Später |
Howard Eiland / Michael W.Jennings: "Walter Benjamin. Eine Biographie" Zu sehen sind der Philosoph Walter Benjamin und das Buchcover
Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Walter Benjamin (Cover: Suhrkamp Verlag / Foto: dpa /picture alliance / Heinzelmann)
Walter Benjamin ist so etwas wie der Che Guevara der Kulturwissenschaften, es fehlen eigentlich bloß noch die entsprechenden T-Shirts mit dem Konterfei der Ikone. Um den verstoßenen Außenseiter ranken viele Mythen. Sein Artikel "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" ist der meistzitierte Aufsatz in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen. In den letzten acht Jahren erschienen allein vier Biographien. Eine davon ist nun ins Deutsche übersetzt worden. Womit legitimiert sich angesichts der Benjamin-Industrie die Biographie der amerikanischen Germanisten Eiland und Jennings? Ganz einfach, sie ist die beste! Auch weil man der Übersetzung von Ulrich Fries und Irmgard Müller an keiner Stelle anmerkt, eine zu sein. Zwar gibt es in dem Buch einzelne Fehler – aber diese bei einem solchen "opus magnum", das sich entlang eines weiten Spektrums von Bekanntschaften, Begegnungen und Freundschaften bewegt, wäre kleinkariert.
Eiland/Jennings zeigen in ihrem Benjamin-Buch ein narzisstisches Genie, sein Netzwerk und sein einzigartiges Werk. Daraus entsteht das Bild eines äußerst schwierigen Menschen und seiner Konflikte, aber auch seiner vielfältigen Kooperationen; zudem ein intellektuelles Panorama, soweit es vom Mount Benjamin aus sichtbar wird; und eines Werks im Zeitalter seiner blockierten Wirksamkeit – wir dürfen ja nicht übersehen, dass Benjamin nach 1945 zu den vielen Vergessenen gehörte, eher Theodor W. Adorno und Gershom Scholem 1955 begannen, seine Schriften zu edieren.
Vor allen sind Eiland/Jennings um Historizität bemüht – sie gehen streng chronologisch vor, und schon dadurch erscheint manch interpretatorisch durchgekauter Text Benjamins auf einmal in einem anderen Licht, löst sich mancher Knäuel auf, die sich im Laufe der Jahrzehnte nach Benjamins Wiederentdeckung gebildet hat. Dieser Walter Benjamin ist kein erratisches Monument, sondern ein eigenwilliger, etwas sonderbarer Suchender, der seine Mitwelt zu faszinieren weiß. Er durchlebt Phasen, ist widersprüchlich, ändert auch mal Laufwege. Vor allem ist er von Stimmungen getrieben, von Höhenflügen wie tiefen Depressionen. Dabei bleibt aber eine Haltung konstant: Benjamins Denken, so die Autoren,
"wird von einem Grundgefühl für ein Ganzes geleitet, das nur durch ein Versenken ins Kraftfeld von bedeutungsvollen Details erstehen kann, durch eine Wahrnehmung, die so individualisierend wie allegorisch ist".
Das heißt, dass jedes noch so unbedeutende Ding aus der Menschenwelt, wie zum Beispiel ein Kinderspielzeug, recht betrachtet und durchdacht, Wahrheiten dieser Menschenwelt offenbaren kann.
Kindheit, Dingwelt, Geheimagent
Die allegorische Wahrnehmung hat, so meinen die Autoren, ihre Wurzeln bereits in der Berliner Kindheit Benjamins, und zwar in der fast libidinösen Beziehung des Jungen zur "Dingwelt". Für den Allegoriker signalisiert nämlich der offensichtliche Sinn einer Sache einen darunterliegenden, möglicherweise ganz anderen Sinn. Und so wie das Kind die Dinge in mimetischer Weise entdeckt und sich in eine Beziehung zu ihnen stellt, so tat es später der philosophische Schriftsteller – vor allem in seinen Texten ab 1930 zu seiner Berliner Kindheit um 1900:
"Wenn er sich in den Dreißigerjahren an seine Kindheitsjahre zurückerinnert, inszeniert er das Kind, das er eins war und das für ihn nun in den Bildern einer entschwundenen Existenz lebt, als sein Genie des Verweilens, eingeweiht in die verborgenen Winkel der häuslichen Räume wie in das geheime Leben der alltäglichen Dinge. Zugleich betont er die Reiselust des Kindes und seine selbstbewusste, ja manchmal rücksichtlose Neigung, Grenzen zu überschreiten und festgesetzte Normen zu brechen – also zu experimentieren. Diese Dialektik von Selbsterkundung und Erforschung der äußeren Welt bleibt auch für den erwachsenen Mann und sein Werk bestimmend."
Eiland/Jennings zeichnen diesen ungewöhnlichen Künstlerphilosophen und esoterischen Kommunisten als einen anachronistischen "hommes de lettres" mit großbürgerlichem Habitus, radikaler Haltung und Sinn für Innovatives. Benjamin hing der Idee egalitärer Sozialverhältnisse an und gehörte gleichzeitig mit Überzeugung zur Geistesaristokratie. Er interessierte sich mehr für tote Dinge als für den Klassenkampf. Sein Denken hatte einen romantischen, ja esoterischen Zug, der auch sein materialistisches und anthropologisches Spätwerk nicht gänzlich verließ. Mythos und Vernunft stritten in seiner Person miteinander. Selbst nach seiner Wende zu einem freihändigen experimentierfreudigen Marxismus hielt er an messianischen, metaphysischen und romantisch-mystischen Elementen fest – niemals aber war er Dogmatiker, sondern "immer radikal, niemals konsequent".
Über Baudelaire behauptete Benjamin er sei "ein Geheimagent" gewesen, "ein Agent der geheimen Unzufriedenheit seiner Klasse mit ihrer eigenen Herrschaft". Die Biographen schreiben diese Rolle nun ihm selbst zu. Würde man einen Roman über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts schreiben, der in Berlin spielt, wäre Benjamin, der ja ungefähr zeitgleich mit dem Wandel Berlins zur modernen Metropole und des Durchbruchs des Industriekapitalismus in Deutschland geboren wurde, eine fantastische, weil rätselhafte wie symptomatische Figur.
Als Zeitzeuge irrte Benjamin gleichwohl manches Mal, aber da er Pessimist war, hatte er auch oft recht, so als er 1929 dem militanten Optimismus seines Freundes Ernst Bloch entgegenhielt, man müsse den Pessimismus organisieren:
"Und das bedeutet: Pessimismus auf der ganzen Linie. Jawohl und durchaus. Mißtrauen in das Geschick der Literatur, Mißtrauen in das Geschick der Freiheit, Mißtrauen in das Geschick der europäischen Menschheit, vor allem aber Mißtrauen, Mißtrauen und Mißtrauen in alle Verständigung: zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen. Und unbegrenztes Vertrauen allein in I.G. Farben und die friedliche Vervollkommnung der Luftwaffe. Aber was nun, was dann?"
Benjamin war ein scharfer Kritiker allen Fortschrittsglaubens und idealistischen Geschichtsphilosophie. Allerdings legte er das geschichtsphilosophische Denken nicht ab, sondern entwickelte eine negative Geschichtsphilosophie, allegorisch verdichtet im Engel der Geschichte nach einem Gemälde von Paul Klee. Der Engel ist mit dem Gesicht dem Paradies zugewandt, aus dem ein Sturm weht und dem er sich immer weiter entfernt, die Trümmer der Katastrophen überblickend, die in der Menschheitsgeschichte sich auftürmen. Trotz aller politischen Linkstendenz war Benjamin mehr als andere ein Repräsentant des untergehenden Bürgertums.
Freunde, Frauen, Förderer
Bei den Freundschaften fällt auf, dass die Beziehungen zu den intellektuellen Partnern meist angespannt und konfliktreich waren, während die zu seinen alten Schulfreunden und Schulfreundinnen wie Ernst Schoen und Jula Cohn, anders waren. Hier war Benjamin ein treuer, großzügiger Gefährte. Sonst fiel vielen Benjamins mangelnde Empathie für seine Mitmenschen auf, seine manchmal rücksichtslose Selbstbezogenheit und Kompromisslosigkeit. Es verfolgte die Strategie, seine Freunde voneinander hermetisch zu separieren, so konnte er sich auch immer schön beim einen über die andere beschweren. Gerhard Scholem, Florens Christian Rang und Siegfried Kracauer, Bertolt Brecht, Franz Hessel und Theodor W. Adorno, Asja Lacis, Gretel Karplus und Hannah Arendt kannten sich oft nur vom Hörensagen. Benjamin spielte Versteck und hatte nicht selten eine "hidden agenda".
Die Verhältnisse zu seinen Geliebten oder begehrten Frauen sind ein anderes Thema. So souverän Benjamin in der Auswahl seiner Freunde erscheint, so getrieben wirkt er in der Liebe. Er war ständig leidenschaftlich verliebt, seine Gefühle zu leben verstand er allerdings nicht. Für Benjamin war die Sehnsucht nach der Geliebten erstrebenswerter als ihre Anwesenheit. Oft war die Geliebte schon gebunden, sodass sich ein kompliziertes Dreiecksverhältnis entwickelte und Benjamins Liebeswunsch, wenn es ihn gab, unerfüllt blieb.
Zwei Heldinnen kristallisieren sich in dieser Biographie heraus: Gretel Karplus zum einen, die spätere Frau Adornos, die schon längst eine eigene Biographie verdient hätte. Vor allem aber Dora Kellner, die als seine Ehefrau trotz eigener literarischer Begabungen und Selbstständigkeit als fähige Managerin mit Sinn fürs Praktische Benjamin ein Leben als Denker und Schriftsteller erst ermöglichte. Selbst nach der Trennung blieb sie loyal und unterstützte den Mann, den sie für ein Genie hielt, das geschützt werden müsse. In ihrer Großzügigkeit ließ sie sich auch durch die weniger schönen Seiten von Benjamins Charakter nicht beirren. Für die Autoren spielt Dora Benjamin anders als in anderen Biographien eine Schlüsselrolle:
"Es wird oft übersehen, dass der Zeitraum vom Frühjahr 1931 bis zum Sommer 1932, in dem Benjamin wiederholt einen Suizid in Erwägung gezogen hat, mit der Periode der größten Entfremdung von seiner geschiedenen Frau zusammenfällt. Der Bruch mit Dora beraubte ihn seiner einzigen verlässlichen Basis, ihr hatte er Stabilität und Unterstützung zu verdanken – emotional wie intellektuell. Ohne die von Dora gebotene Bodenhaftung drohte Benjamin an seiner eigenen Verletzlichkeit zu scheitern."
Benjamins Leben war eben eines von intellektuellen, manchmal rauschartigen Höhenflügen und tiefen Depressionen. Es war geprägt vom ständige Reisen, um Miseren zu überwinden, Erfahrungen zu sammeln, die Vielseitigkeit auszubilden. Vom unnachlässigen Lesen, um neue Inspirationen zu bekommen, egal ob von Lenin, Mendelsohn oder Kafka und natürlich von der französischen Literatur, für die er nach 1925 die erste Adresse in Deutschland wurde, allen voran wenn es um Proust ging, den er übersetzte und dem er sich verwandt fühlte.
Wie schilden Eiland/Jennings die Beziehungen zu Adorno und Max Horkheimer, dem Direktor des Instituts für Sozialforschung, das Benjamins wichtigster Auftraggeber während der Pariser Emigration nach 1933 war? Um 1968 herum war das Verhältnis ja von Helmut Heißenbüttel, der linken Zeitschrift alternative und Hannah Arendt skandalisiert worden, als man dem Institut vorwarf, Benjamin zensiert und ihn nicht hinreichend unterstützt zu haben. Nun, die Biographen beziehen eine eigene Position inmitten der Schlachtenlandschaft. Kein Zweifel, der intellektuelle Austausch mit Adorno war konstitutiv für das Passagenwerk. Die finanzielle Unterstützung des Instituts überproportional in Relation zu der der anderen externen Mitarbeitern - problematisch waren in dieser Hinsicht eher Benjamins hohe Lebenshaltungskosten. Wenn sich Benjamin verbog, um vermeintliche Erwartungen der Institutsdirektoren zu erfüllen, hätte er das meist gar nicht nötig gehabt. Horkheimer, Adorno & Co. wussten um die Originalität dieses seltsamen mystischen Marxisten und wollten gerade diese fördern. Horkheimers Wertschätzung allerdings ging nicht so weit, Benjamin nach New York zu holen. Und mit der Zeit, so meinen die Autoren, wurden Adornos Kommentare zum Passagenwerk – heute würde man sagen – übergriffig und hatten eine unheilvolle Wirkung auf Benjamins Gemüt und damit auch Arbeitskraft. Beim Duell zweier Genies saß Adorno am längeren Hebel:
"Das Verhältnis zwischen ihnen hatte sich völlig verkehrt. Vor noch nicht allzu langer Zeit war Adorno Benjamins Schüler gewesen, hatte mehrere Aufsätze und ein Buch über Kierkegaard verfasst, die zutiefst Benjamins Werk verpflichtet waren; er hatte ihm seine Antrittsvorlesung in Frankfurt gewidmet und sein erstes Seminar über das Trauerspiel-Buch gehalten. In dem Bewusstsein, dass Benjamins Lebensunterhalt völlig vom Institut abhing, schien er zu meinen, er könne Benjamin nicht nur Themen, sondern auch den intellektuellen Tenor seiner Arbeiten diktieren."
Man möchte allerdings hinzufügen, dass der Stil der bedingungslosen, unverblümten Kritik in diesen Kreisen Usus war. So sprach man eben miteinander, Benjamin selbst machte da keine Ausnahme. Dass die Kritisierten um ihre Existenzgrundlage fürchteten, durfte die Sache nicht verwässern oder vermenscheln. Das kategorische Urteilen ungeachtet von Personen und ihren Umständen sind Dokumente aus den finsteren Zeiten der Emigration. Gedenket ihrer Protagonisten mit Nachsicht.
Passage Benjamin
Warum ist es auch heute noch reizvoll Benjamins Texte zu lesen? Die Autoren meinen, seine Ideen sind seltsam, aber kräftig, sein Stil einzigartig, die Methode des Denkbilds nachhaltig. Ein "Denkbild" ist eine aphoristische Prosa, also kurz, treffend und geistreich gestaltet, die philosophische Analyse mit einer konkreten Bildersprache verbindet und so einen unverwechselbar persönlichen und kritischen Darstellungsstil hervorbringt. Das "dialektische Bild" ist für die Biographen der zentrale Begriff in Benjamins Erkenntnisweisen und die "literarische Montage", in der "Material und Theorie, Zitat und Interpretation in eine gegenüber jeder gängigen Darstellungsform neue Konstellation" (Tiedemann) gebracht werden, seine spezifische schriftstellerische Ausdrucksweise. Auf die Spitze getrieben hat das Benjamin in seinem unvollendeten Passagenwerk über das Paris des 19. Jahrhundert als Traumlandschaft des Kapitalismus, der erst im 20. Jahrhundert seine Blüte erlebte. Benjamin suchte immer nach den Vorboten der Gegenwart in untergegangenen vorzeitlichen Phänomenen, dabei die Einheit von Gegensätzen betonend. Ja, die Gegenwart suchte er mit Elementen aus der verlorenen Zeit darzustellen. Im Passagenwerk schrieb er:
"Die neue dialektische Methode der Historik präsentiert sich als die Kunst, die Gegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die sich jener Traum, den wir Gewesenes nennen, in Wahrheit bezieht. Gewesenes in der Traumerinnerung durchzumachen! – Also: Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des Eingedenkens."
Benjamin stellte unentwegt Rätsel – so wie Kafka in der Literatur -, die andere bis heute lösen mögen.
Auf der anderen Seite war er ein Philosoph mit soziologischem Blick. Wie seine Freunde Bloch und Kracauer stand er auf den Schultern von Georg Simmel, der sein philosophisches Werk als eine Verknüpfung von erkenntnistheoretischen, kunsthistorischen und eben soziologischen Elementen verstand. Noch durch die kleinste Nebenpforte konnte man demnach Erkenntnisse über das Ganze gewinnen. Und wie Simmel philosophierte Benjamin mittels Kunstkritik und orientierte umgekehrt seine Kunstkritik an philosophischen Fragen, insbesondere wenn es um visuelle Dinge ging. Wie sein Freund Siegfried Kracauer war Benjamin ein Pionier in der kritischen Reflexion der Massenkultur. Neben Simmel waren der Aphoristiker Nietzsche, der Allegoriker Baudelaire, der Materialist Brecht, der Dialektiker Lukács und die Alltagsphysiognomen Kracauer und Hessel stilbildend. Aus diesen Quellen erwuchs eine sehr originäre Art, die Welt zu sehen, sie zu interpretieren und darüber zu schreiben. Sehr eigen war die Brise Messianismus und die Bö negativer Geschichtsphilosophie, die Benjamin umwehte – mit einer bestechenden Fortschrittskritik, die nahtlos in Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung eingeflossen ist.
Die Formvollendung der "Philosophie in Revueform" fand er im Zusammenspiel mit Bloch, Kracauer und dem jungen Adorno, als er nach 1925 zu einem bedeutenden Literaturkritiker der Weimarer Zeit aufstieg. Das geschah, nachdem ihm an der Frankfurter Universität die Habilitation verweigert worden war. Aus einer Mischung aus Vetternwirtschaft und Unverständnis hatte die Wissenschaft Benjamin zurückgewiesen, dem dazu – natürlich – eine Allegorie einfiel:
"Ich möchte das Märchen von Dornröschen zum zweiten Mal erzählen. / Es schläft in seiner Dornenhecke. Und dann, nach so und so viel Jahren wird es wach. / Aber nicht vom Kuß eines glücklichen Prinzen. / Der Koch hat es aufgeweckt, als er dem Küchenjungen die Ohrfeige gab… Ein schönes Kind schläft hinter der dornigen Hecke der folgenden Seiten. / Daß nur kein Glücksprinz im blendenden Rüstzeug der Wissenschaft ihm nahe kommt. Denn im bräutlichen Kuß wird es zubeißen. / Vielmehr hat der Autor, es zu wecken, als Küchenmeister selbst vorbehalten. Zu lange schon ist die Ohrfeige fällig, die schallend durch die Hallen der Wissenschaft gellen soll…"
Dies ist keineswegs ein Buch bloß für Spezialistinnen – aber Nicht-Spezialisten brauchen viel Zeit oder die Begabung des Querlesens und Überspringens, denn die Autoren haben einen Hang zur Vollständigkeit. Nicht jede möchte beispielsweise die Leselisten Benjamins abarbeiten. Man kann in der Biographie lesen wie in einem Handbuch – freilich einem chronologisch aufgebauten, zusammenhängenden. Benjamins Leben wird ausgeleuchtet und entlang seiner sozialen Interaktionen erzählt, sein Werk erläutert und mit seinen Kontexten erhellt. Impulse, Stimmungen, Ideenkonstellationen – in diesem Netz werden die Lebensschritte Benjamins von Eiland und Jennings präsentiert. Wer nichts auslässt, erlebt dies: Je näher man dem Ende von Benjamins Leben und damit des Buches kommt, umso langsamer rinnt die Zeit. In Paris geht es ab 1933 Monat für Monat, ab 1938 Woche für Woche, ab 1939 beinahe Tag für Tag voran. Am Ende steht in Port Bou die Zeit still.
Was kann man mehr von einer Biographie über eine rätselhafte Gestalt erwarten, die im Sog eines extremen Zeitalters untergegangen ist und danach als Ikone wiederauftauchte? Diese Biographie bringt den entrückten Benjamin auf die Erde zurück, sie macht aber auch verständlich, warum er in den Olymp eingezogen ist.
Howard Eiland / Michael W. Jennings: "Walter Benjamin. Eine Biographie"
aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller
Suhrkamp Verlag, Berlin. 1021 Seiten, 58 Euro.