Archiv


"Ein absolut reizvoller Abend"

"b.10" hat Choreograf Martin Schläpfer seinen Ballettabend im Theater Duisburg tituliert, und die Ortspremiere des Ex-Leiters des Mainzer Balletts kann als durchweg geglückt bezeichnet werden. Bewegend, klug, musikalisch hoch sensibel - FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster spart nicht mit Lob.

Wiebke Hüster im Gespräch mit Dina Netz |
    Dina Netz: Zehn Jahre lang war Martin Schläpfer Leiter des Mainzer Balletts und vollbrachte dort so etwas wie ein Ballettwunder: die Vorstellungen waren dauernd ausverkauft. Seit 2009 leitet Martin Schläpfer das "Ballett am Rhein" in Duisburg und Düsseldorf und hat das Ballettwunder gleich mitgenommen: Der ungeheuer umtriebige Schläpfer wurde 2010 zum "Choreographen des Jahres" gewählt. Gestern hatte sein neuer Ballettabend am Theater Duisburg Premiere, der "b.10" heißt und aus drei Teilen besteht: Sie heißen "Drittes Klavierkonzert" und "Tanzsuite", zu Musik von Alfred Schnittke und Helmut Lachenmann. Außerdem gab es eine Choreografie von Jiøí Kylián zu Strawinskys "Psalmensinfonie". Allerdings sind alle drei Choreografien nicht neu, sondern waren schon früher zu sehen, die von Martin Schläpfer eben in Mainz. Die Tanzkritikerin der FAZ, Wiebke Hüster, war in Duisburg. Frau Hüster, so eine Retrospektive auf das eigene Werk und das eines Anderen ist ja ungewöhnlich, wo doch immer alle so nach Uraufführungen gieren. Sie haben die Schläpfer-Stücke damals in Mainz schon gesehen. Ist es trotzdem ein reizvoller Abend?

    Wiebke Hüster: Es ist ein absolut reizvoller Abend. Wenn jemand so wie Martin Schläpfer zehn Jahre an einem Ort arbeitet, also wie Schläpfer in Mainz, und dann wechselt, dann kreiert er ein neues Ensemble, er hat mehr Tänzer als vorher, er hat teilweise andere Tänzer als vorher. Das ermöglicht ihm in einem Probenprozess, noch mal wirklich zurückzugehen in diese Stücke, in das Innere dieser Werke und sie selber noch einmal zu revidieren.
    Und das Andere ist: Es kommt ein ganz neues Publikum in Kontakt mit diesen Werken, und diese Kommunikation zwischen Publikum und Company, die muss auch funktionieren und die muss sich auch entwickeln. Und das heißt, Martin Schläpfer ist als Ballettdirektor daran gelegen, ein Repertoire aufzubauen, ein Repertoire zu präsentieren, das in einem Kulturraum wie Düsseldorf, Duisburg und Umgebung einem Publikum auch etwas sagt. Und das ist, glaube ich, mit diesem Abend beispielhaft gelungen, weil er nämlich zeitgenössische Musik nimmt für ein Publikum, das das durchaus auch in der Oper und in den Konzertabenden der Häuser gewohnt ist, und den starken Bezug dieser Gegend zur bildenden Kunst auch extrem sozusagen reizt oder kitzelt mit diesem Abend. Vor allem Keso Dekkers Dekorationen und Kostüme für die "Tanzsuite" von Helmut Lachenmann sind eigentlich ein Kunstwerk, das man auch sich in einem großen Museum vorstellen könnte.

    Netz: Jetzt müssen Sie, Frau Hüster, aber ein bisschen genauer sagen, wie Martin Schläpfer umgeht in diesen Tanzstücken, also "Tanzsuite" und "Drittes Klavierkonzert", das eine zur Musik von Helmut Lachenmann, das andere zur Musik von Alfred Schnittke, das ist ja nicht so einfach, zu dieser Musik was zu erzählen. Oder erzählt Martin Schläpfer schlicht und ergreifend gar nicht?

    Hüster: Doch, das tut er, und er tut das auf hinreißende Weise und in beiden Stücken absolut konträr. Das "Dritte Klavierkonzert" ist ganz in Schwarz getaucht, die Kostüme sind schwarz, die Bühne ist schwarz, die Musik Schnittkes erratisch, schroff, und dazu entwickelt sich um das zentrale Paar, Yuko Kato und Remus Sucheana, ein absolut faszinierendes Spiel zweier Menschen, die sich suchen, finden, verlieren, aber nicht auf diese banale Mann-trifft-Frau-und-verlässt-sie-wieder-Weise, sondern es geht wirklich darum, auf welche Weise, wie offen kann man einem anderen Menschen begegnen, was sucht man in ihm, ist das vielleicht nur etwas, das in einem selbst angelegt ist und das man sowieso nirgends, in niemandem finden kann. Diese Frau, die Yuko Kato hier darstellt, geht eigentlich durch eine Welt des Nichtverstandenwerdens und der Einsamkeit, und das ist eigentlich eine sehr bewegende, kluge, musikalisch hoch sensible Art und Weise, wie Martin Schläpfer das ganz unpathetisch erzählt.
    In ganz klarem Kontrast dazu die fantastische "Tanzsuite". Fast fürchtet man sich ein bisschen vor dieser komplizierten Komposition von Lachenmann, in der so viele Zitate von Volksliedern, ein bisschen zur Deutschlandhymne, verborgen sind. Aber was er damit macht, ist ein ganz leichtes, zutiefst komödiantisches Spiel, indem er die Tänze als Farben, die einem Fernsehtestbild entsteigen, auftreten lässt und ganz abstrakt und erst ganz allmählich da auch zu Duetten und Trios findet. Aber eigentlich ist es ein großer Scherz über das, was nach dem eigentlichen Sendeschluss, auf den Tanz übertragen, was danach passiert, wenn eigentlich das Handlungsballett längst zu Ende gespielt ist und der Vorhang sich geschlossen hat, was sich dann noch auf der Ganzbühne ereignen kann.

    Netz: Und dann ereignet sich noch Jiøí Kylián, der auch ein Stück mitgebracht hat, was schon älter ist, eine Choreografie von 1978: Die "Psalmensinfonie" von Igor Strawinskys hat er da bearbeitet. Ergänzt das diesen Abend irgendwie sinnfällig?

    Hüster: Das Faszinierende an Martin Schläpfer als Ballettdirektor ist ja, dass er dieses große Verantwortungsgefühl gegenüber dem Publikum hat und eigentlich nicht seine eigenen Werke ins Zentrum seiner Ästhetik gestellt wissen will, obwohl ihm deren Erarbeitung natürlich sehr wichtig ist. Aber er will dem Publikum zeigen, woher er kommt, welche anderen großen Choreografen es in unserer Gegenwart gibt, und exemplarisch sucht Martin Schläpfer da Werke aus, die dem Publikum vorführen, welche Signatur dieser Künstler im 20. Jahrhundert hinterlassen hat, und da ist natürlich Kyliáns "Psalmensinfonie", die hier erstmals ein deutsches Ensemble überhaupt tanzt, ein sehr, sehr schönes Beispiel für den Aufbruch der Niederländer in den zeitgenössischen Tanz, hin zum Schläppchen, weg vom Spitzenschuh.

    Netz: Wiebke Hüster, sehr angetan von Martin Schläpfers neuem Tanzabend in Duisburg mit zwei eigenen Choreografien und einer von Jiøí Kylián.