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"Ein Aufrütteln des Gewissens"

Der Papst habe bei seiner Visite auf der italienischen Flüchtlingsinsel Lampedusa deutlich gemacht, dass Mitleid bei europäischen Asylrechtfragen nicht ausreiche, meint Christopher Hein, Leiter des italienischen Flüchtlingsrats. Sein Besuch sei ein Appell an die politisch Verantwortlichen, in die "Festung Europas" Brücken für Flüchtlinge zu bauen.

Christopher Hein im Gespräch mit Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Der Papst auf Lampedusa – Papst Franziskus hat gestern auf der italienischen Ferieninsel, die auch eine Flüchtlingsinsel ist, eine Messe gehalten, vor Tausenden von Einwohnern und Migranten. Vorher hatte der Papst einen Kranz ins Meer geworfen, in Trauer für 20.000 ertrunkene afrikanische Flüchtlinge in den letzten etwa 20 Jahren – eine Geste nicht nur der Trauer, sondern auch der Solidarität mit den Elendsflüchtlingen.

    Christopher Hein leitet den italienischen Flüchtlingsrat in Rom, er berät auch den Vatikan in Migrationsfragen. Guten Morgen, Herr Hein!

    Christopher Hein: Guten Morgen Ihnen!

    Meurer: War das Ihre Idee gewesen, Herr Hein?

    Hein: Es war nicht meine Idee, aber es hätte meine Idee sein können. Ich war begeistert, als ich von der Absicht des Papstes hörte, als erste Mission überhaupt außerhalb Roms nach Lampedusa zu gehen. Das scheint mir eine Geste zu sein, die für alle, die in Europa, auf der Welt mit Flüchtlingen, für Flüchtlinge arbeiten, eine außerordentliche Bedeutung hat, dass es ein Aufrütteln des Gewissens gegeben hat in den sehr starken Worten auch, die der Papst gestern auf Lampedusa gebraucht hat.

    Meurer: Was hat Sie da so begeistert?

    Hein: Es hat mich begeistert erst mal überhaupt, dass er da hingefahren ist und dass er damit eine Weltöffentlichkeit auf sich gezogen hat über eine Frage, die seit vielen Jahren für Europa und nicht nur für Europa sicherlich ungelöst ist: Wie kommen Flüchtlinge überhaupt hier an, wie kommen sie in die Europäische Union rein, oder auch, wie kommen sie nach Australien rein. Lampedusa ist ja ein Symbol nicht nur für Flüchtlingsbewegungen und Ankünfte und über schreckliche Tragödien der Nicht-Ankünfte im Meer in Bezug auf das Mittelmeer, sondern auch für andere Teile der Weltregionen wie von Somalia nach Jemen oder von der Türkei nach Griechenland oder auch im Pazifik Richtung Australien.

    Überall haben wir die Barrieren der Länder, wir haben ein internationales Asylrecht, wir haben jetzt ein neues europäisches Asylrecht, aber wir haben die Frage nicht beantwortet, wie kommt denn überhaupt jemand, der flüchtet, hier bei uns rein? Der kann ja nicht zu einer Botschaft gehen und ein Visum beantragen. Er kann es tun, aber er würde es nie bekommen, oder wahrscheinlich würde er gar nicht erst in die Botschaft reingelassen. Der Papst hat also sehr deutlich gemacht, dass es eine Frage unseres Gewissens ist, noch vor politischen Entscheidungen.

    Meurer: Die Spielregel lautet ja immer noch, Herr Hein, dass das Erstlandsprinzip gilt. Ein Flüchtling beantragt Asyl in dem Land, in das er zuerst kommt. Das ist dann zum Beispiel Italien und Lampedusa oder auch Griechenland oder auch Spanien. Was schlagen Sie denn vor, wie Flüchtlinge nach Europa kommen sollen?

    Hein: Wir schlagen vor, dass es in die sogenannte Festung Europas Brücken geben muss, wie in jede mittelalterliche Festung es Brücken gegeben hat, und diese Brücken gibt es gegenwärtig nicht. Eine Brücke – und das ist eine ganz wichtige Entscheidung von Deutschland -, mehrere Tausend syrische Flüchtlinge aufzunehmen, also direkt zu überführen nach Deutschland und die gleichen Menschen nicht dazu zu verpflichten, jetzt über Meer, Ströme, Berge auf illegale Weise nach Deutschland oder Westeuropa anzukommen. Das ist eine der Brücken.

    Wenn Sie sich mal vorstellen einen Eritreer, der in Tripolis in Libyen ist, der sieht quasi Europa, Lampedusa, das ist direkt da drüben. Er kann aber in Libyen keinen Asylantrag stellen, sondern muss sozusagen durch das Meer schwimmen, bis er in Europa, also auf Lampedusa angekommen ist, um dort dann einen Asylantrag stellen zu können. Das ist doch absurd, dass jemand sein Leben riskieren muss, internationale Schlepperorganisationen finanzieren muss, nur damit er ein Recht wahrnehmen kann, nämlich das Recht, einen Asylantrag zu stellen.

    Meurer: Welche Brücke schlagen Sie denn für Wirtschaftsflüchtlinge vor?

    Hein: Wirtschaftsflüchtlinge ist eine andere Frage. Hier geht es ganz überwiegend um Menschen, wenn wir sehen: Die über 8000, die in den ersten Monaten dieses Jahres auf Lampedusa angekommen sind, das sind ganz überwiegend Menschen aus Eritrea, Somalia, Sudan, Kongo, aber auch einige aus Syrien, aus Afghanistan. Das sind keine Wirtschaftsflüchtlinge in der Mehrzahl.

    Für Wirtschaftsflüchtlinge ist eine Landebrücke notwendig, dass wir unsere Einwanderungsregeln überdenken, auch die der Familienzusammenführung, aber das steht auf einem anderen Blatt. Hier geht es wirklich um Menschen, überwiegend jedenfalls, die gar keine andere Wahl haben, also die auf Flucht sind.

    Meurer: Wenn wir das Schicksal sehen, Herr Hein, der Flüchtlinge, die da auf Elendskähnen und kleinen Schiffen die riskante Fahrt über das Mittelmeer antreten, dann sind alle voller Mitleid. Aber Sie wissen auch: Niemand will dann Asylbewerber vor der Tür haben. Wie lautet da Ihre Antwort?

    Hein: Na ja, Mitleid reicht sicherlich nicht aus, und ich denke mir, gerade der Papstbesuch gestern Vormittag hat das auch noch mal deutlich gemacht. Der Papst hat davon gesprochen, dass wir die Fähigkeit zu trauern, auch zu weinen verloren haben, dass wir indifferent sind, er hat von der Globalisierung der Indifferenz, der Gleichgültigkeit gesprochen. Aber es ging auch weiter. Er hat gesagt, das darf nie wieder passieren, dass hier die Fischer in ihren Netzen Leichen haben statt Fische. So hat er das nicht gesagt, aber das war der Sinn seiner Geste, auch als er den Blumenkranz ins Meer geworfen hat in Erinnerung an die Toten im Mittelmeer.

    Es geht also nicht nur um Gewissen, es geht natürlich um einen Appell an die politisch Verantwortlichen, nicht einfach die Augen zuzumachen, sondern energische Vorschläge zu machen und durchzubringen auf europäischer Ebene, das kann nicht ein einzelnes Land wie Italien machen, auf europäischer Ebene, dass es Möglichkeiten gibt, aus einem Durchgangsland, manchmal auch aus einem Herkunftsland einen Asylantrag zu stellen, und nicht dann erst, wenn man physisch hier angekommen ist.

    Meurer: Für uns ist Lampedusa relativ weit weg. Soll Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen?

    Hein: Wissen Sie, Lampedusa ist von Berlin oder München aus gesehen weit weg. Aber viele von denen – das weiß man genau -, die in Lampedusa ankommen, nach ein paar Monaten sind sie in Deutschland. Möglicherweise werden sie dann aufgrund der europäischen Regelungen der Verantwortung des Erstaufnahmelandes nach Italien zurückgeschickt. Aber wie kommen die 60.000 Asylbewerber nach Deutschland?

    Die kommen ja nicht über Fallschirmabspringen, sondern die kommen natürlich überwiegend aus Südeuropa über die grünen Grenzen. Insofern ist auch Lampedusa eine Frage, die direkt die deutsche Politik, die aber auch die französische oder die britische angeht, denn das sind Menschen, die sich bewegen, die versuchen, natürlich dort hinzugehen, wo sie Freunde, wo sie Familienangehörige haben.

    Meurer: Die Deutschen sollen sich also nicht beschweren, dass Italien die einfach zu uns schickt?

    Hein: Na ja, da gab es eine große Polemik darüber. Ich habe dazu immer gesagt, das war jetzt nach meinen Kenntnissen keine Absicht der italienischen Behörden oder Regierung, die Menschen weiterzuschicken. Das heißt aber nicht, dass in Italien jetzt alles rosig wäre, ganz im Gegenteil. Das Aufnahmesystem für Asylbewerber ist absolut unzureichend.

    Integrationsmöglichkeiten sind beschränkt, es gibt kein nationales Integrationsprogramm, und das heißt, dass dann die Menschen versuchen, in Länder zu gehen wie auch Deutschland, wo sie meinen, oder vielleicht auch richtigerweise meinen, bessere Bedingungen zu finden. Das ist nicht unbedingt eine beabsichtigte Politik, aber das ist eine Konsequenz eines mangelnden Aufnahmewillens und einer Aufnahmekapazität in Ländern wie Griechenland oder Italien.

    Meurer: Der Papst predigt auf Lampedusa, der Flüchtlingsinsel – das war Christopher Hein, der Leiter des italienischen Flüchtlingsrats und Berater des Vatikan. Herr Hein, danke nach Rom und auf Wiederhören!

    Hein: Einen schönen Tag Ihnen.


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