Archiv


Ein ausgekochter Ästhet

Es war einmal ein großer Name: Elio Vittorini. Das Werk des italienischen Schriftstellers wurde bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs in ganz Europa sehr diskutiert; in Deutschland war es vor allem Alfred Andersch, der sich in den 50er Jahren für Vittorini als Pionier der literarischen Moderne einsetzte und dem Autor eine "strahlende Intelligenz" bescheinigte.

Von Christian Linder | 23.07.2008
    Als der Schriftsteller Elio Vittorini 1966, im Alter von 58 Jahren, an einer unheilbaren Krankheit in Mailand starb, trat im Fernsehen ein sichtlich erschütterter Italo Calvino auf:

    "Es ist schwer, Vittorinis Tod zu begreifen, denn er war für uns der Inbegriff des Lebendigen, Heilen und Zukunftsträchtigen. Solange Elio lebte, fühlten wir uns in seiner Kraft geborgen. Jetzt werden wir uns an eine große Leere gewöhnen müssen."

    Das Werk Elio Vittorinis stand nach Ende des 2. Weltkriegs für einen Aufbruch aus der Enge jedes staatlichen Provinzialismus in die offene Weite der literarischen Moderne. Geboren am 23. Juli 1908 in Syrakus auf Sizilien als Sohn einer Eisenbahnerfamilie, verließ Vittorini nach nur wenigen Jahren die Schule und schlug sich als Gelegenheitsarbeiter durch, der nachts in Zügen schlief. Rückblickend war das Erstaunliche an seiner Karriere, dass er sich zu einem der intellektuellsten Autoren Europas entwickelte, ohne je eine Universität besucht zu haben, sondern sich sein ganzes Wissen erlesen hatte. Er begann auch früh selber zu schreiben, Prosa und Theoretisches. Die theoretischen Texte bot Vittorini dem damals schon weltbekannten Curcio Malaparte an mit der Bitte, eine Veröffentlichung zu vermitteln. Malaparte las die Texte, wollte daraufhin den Autor kennen lernen und war erstaunt, wie er sich später erinnerte, dass er entgegen seiner Erwartung keinem älteren, gesetzten Herrn Professor begegnete, sondern ein ganz junger Mann in kurzen Hosen vor ihm stand. Es war im Italien der 20er Jahre. Mussolini marschierte auf Rom zu. Die Verführbarkeit durch den Faschismus ist das große Thema von Vittorinis erstem Roman "Die rote Nelke", auch wenn das Buch vordergründig die Liebesgeschichte eines jungen Mannes erzählt. Worum es Vittorini damals und auch später immer ging:

    "Es ging mir nie um "die" Bücher; es geht mir um "das" Buch; ich schreibe, weil ich an "eine" Wahrheit glaube, die gesagt werden muss."

    Aber was ist die Wahrheit, und wie bekommt man sie heraus?

    "Die Wahrheit setzt dadurch, dass sie durch eine Epoche der Verworfenheit hindurchgeht, nichts aufs Spiel, weder ihre Zukunft noch ihre Jugend. Auch ist es nicht nötig, dass sie stets erkannt voranschreitet. Was aber nie abreißen darf, ist unsere Kraftanstrengung, sie irgendwie unter uns Menschen zu erhalten."

    Die Verführbarkeit durch faschistische Ideen verlor sich, als Vittorini Bücher von Faulkner und Hemingway las und sie auch übersetzte. Als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, stand Vittorini - auch aufgrund von Zensurerfahrungen in Mussolinis Italien - auf der Seite der politischen Linken.

    "Wir waren Idealisten. Unentwegt hofften wir auf eine Welt, in der es individuelle Freiheit und soziale Gleichheit geben würde."

    Als Vittorini sich nach 1945 an die Kriegsjahre erinnerte, hatte er sich von seinem Idealismus verabschiedet und war 1947 unter beträchtlicher öffentlicher Aufmerksamkeit aus der Kommunistischen Partei Italiens, deren Mitglied er geworden war, wieder ausgetreten.

    "Die Partei ist nicht das geworden, wozu die Geschichte sie bestimmt hatte."

    Vittorini widmete sich nun ausschließlich seinem Schreiben und förderte über einige Verlage, deren Berater er wurde, die Projekte anderer Autoren. In den 50er und 60er Jahren wurde er auch in Deutschland hoch geachtet, zum Beispiel von Alfred Andersch, der in einer Sendung der legendären Redaktion "Radio-Essay" im damaligen Süddeutschen Rundfunk seine "Nachrichten über Vittorini" verkündete.

    Autor "Neorealismus" hieß das Etikett, unter dem Vittorinis Romane wie "Im Schatten des Elefanten", "Die Frauen von Messina" oder "Die Garibaldina" damals diskutiert wurden. Er selber begleitete sein Schreiben mit einer hohen Kunst der Selbstreflexion in Texten, die er "Offenes Tagebuch" nannte:

    "Die Poesie ist darum Poesie, weil sie nicht an die Dinge gebunden bleibt, aus denen sie hervorgegangen ist, und weil man sie, wenn sie aus dem Schmerz hervorgegangen ist, auf jeden Schmerz beziehen kann."

    Auch seine Vision einer offenen literarischen Moderne, die die Vergangenheit nicht leugnet, hat er immer wieder skizziert:
    Es war einmal ein großer Name: Elio Vittorini. Das Werk des italienischen Schriftstellers wurde bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs in ganz Europa sehr diskutiert; in Deutschland war es vor allem Alfred Andersch, der sich in den 50er Jahren für Vittorini als Pionier der literarischen Moderne einsetzte und dem Autor eine "strahlende Intelligenz" bescheinigte.

    "Tretet ein, wo ein Dichter ist, der groß ist, und dann seht ihr gleich, dass das Problem eines Landes keine fest umrissenen Grenzen mehr hat, zu einem Problem der ganzen Welt wird. Lesen wir Hölderlin, der immerhin anderthalb Jahrhunderte alt ist, und Deutschland wächst uns ans Herz wie unser eigenes Land."

    Ein Schriftsteller müsse mit dem ganzen Körper schreiben und denken, forderte Vittorini. Gegen Ende seines Lebens konnte er sich selber diesen Wunsch nicht mehr erfüllen. Seine unheilbare Krankheit, aber auch seine Selbstzweifel ließen ihn zuletzt verstummen. Begraben wurde Elio Vittorini in Concorezzo in der Lombardei. Er hatte sich einen Gedenkstein mit Inschrift, die an seinen großen Namen erinnert hätte, verbeten. Kein Schlusswort. Das Ende sollte offen bleiben. Vittorini hatte Ernest Hemingway einmal verraten, dass er seine Lieblingsbücher, darunter auch Hemingways "In einem anderen Land", zwar zig Mal, aber nie zu Ende gelesen habe, denn wenn er den Schluss nicht kenne, könne er immer wieder von Neuem mit der Lektüre beginnen.