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China-Boykott
"Ein beeindruckender Schritt der WTA"

Der Tennisverband WTA fürchte, dass die chinesische Spielerin Peng Shuai nach Vergewaltigungsvorwüfen gegen einen Politiker in China festgehalten wird und hat alle dortigen Turniere abgesagt. So konfrontativ zu agieren sei völlig neu, erklärt die französische Geopolitik-Expertin Carole Gomez im Dlf.

Die chinesische Tennisspielerin Peng Shuai (Aufnahme vom 17.11.2021)
Die chinesische Tennisspielerin Peng Shuai (Aufnahme vom 17.11.2021) (picture alliance / ZUMAPRESS.com | Gerry Maceda)
Der Frauen-Tennisverband WTA hat seine Turniere in China abgesagt, weil die chinesische Spielerin Peng Shuai von der Bildfläche verschwand, nachdem sie einem hochrangigen Politiker im Internet sexuelle Gewalt vorwarf. Bis heute hat sie China nicht verlassen. Der Verband geht damit einen deutlich konfrontativeren Weg, als Sportverbände es im allgeminen tun, sagt die Sport- und Geopolitik-Expertin Carole Gomez vom französischen Institut für internationale und strategische Angelegenheiten IRIS im Dlf.
Gomez erklärt im Gespräch, dass noch nicht klar ist, ob eher der Ansatz der WTA oder die defensive Haltung des Internationalen Olympischen Komitees erfolgreicher sein werden und warum große Sportveranstaltungen extrem wichtige Möglichkeiten für die Außenpolitik bieten - sowohl vor als auch hinter den Kulissen. Hier gibt es die Überstzung des gesamten Gesprächs mit Gomez.
Im Deutschlandfunk senden wir aus Zeitgründen nur einen Teil des Interviews, hier lesen und hören Sie das komplette Gespräch.
Matthias Friebe: Die WTA, der Tennisverband, spielt nach dem Fall Peng Shuai keine Turniere mehr in China. Ist das ein Vorbild für Sportorganisationen?
Carole Gomez: Es war eine große Überraschung, diese Nachrichten gestern und in dieser Woche zu hören. Das war etwas ganz Neues. Die Spannungen waren in der letzten Woche sehr groß. Steve Simon (Präsident der WTA, Anm. d. Red.) hat die Drohung ausgesprochen. Und er hat tatsächlich getan, was er angekündigt hatte. Es ist ein sehr großer Schritt - ein beeindruckender Schritt der WTA. In gewisser Weise ist es vielleicht kein Vorbild, aber es könnte ein Schlüsselpunkt in der Geschichte des Sports sein.
Gomez sitzt in einer Gesprächsrunde und lächelt.
Carole Gomez vom franzöisschen Institut für Geopolitik und Strategie (IRIS) (Federico Pestellini/imago images/PanoramiC)
Friebe: Der Männerverband, die ATP, macht da nicht mit. Sie wüssten, dass der Sport einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft haben kann. Aber sie glaubten, dass sie mit einer globalen Präsenz die besten Chancen dazu haben, dies umzusetzen, sagt Andrea Gaudenzi, Chef der ATP. Ist an diesem Argument nicht etwas Wahres dran?
Gomez: Es war recht interessant, wie die Partner auf diese Ankündigung reagiert haben. Viele, viele, viele Organisationen und viele Sportlerinnen und Sportler waren sich über die WTA im Klaren, dass in der Tat ein Verband einen neuen Weg eingeschlagen hat. Wir warten noch auf andere Verbände, die sich dem anschließen.
Es war eine sehr starke Aussage, die die WTA am Mittwoch gemacht hat. Aber jetzt müssen wir sehr vorsichtig sein, was der nächste Schritt sein wird und wie die anderen Organisationen reagieren werden.
Das IOC hat seine Position in ihren Erklärungen sehr klar dargelegt: Es folgt definitiv nicht dem Weg der WTA, sondern bleibt bei der Position der stillen Diplomatie.

Friebe: Was ist Ihre Erfahrung? Stille Diplomatie, kann das noch funktionieren?

Gomez: Das ist so etwas wie ein neues Konzept, dass das IOC vor sieben Jahren entwickelt hat. Es ging um die lautlose Diplomatie. Jetzt hören wir von der stillen Diplomatie. Um ehrlich zu sein: Sie könnte effizient sein. Denn viele diplomatische Fragen lassen sich leichter lösen, wenn sie nicht im Rampenlicht stehen, sondern eher in informellen Gesprächen behandelt werden. Es könnte also durchaus funktionieren. Aber gleichzeitig - angesichts der Dringlichkeit der Situation - weiß ich nicht, welche Position die beste ist, welche Strategie die beste ist: Eine sehr harte Aussage wie die WTA oder eine stille Diplomatie des IOC. Ich denke, die Zukunft wird uns bald sagen, was die beste Option war: Aber definitiv hat die WTA einen großen Schritt gemacht, einen sehr wichtigen Schritt in diesem Bereich.
Friebe: Finden Sie, dass das IOC sich wegduckt.
Gomez: Es war sehr interessant zu sehen, wie die WTA die Erklärung verkündet hat. Am Mittwoch die Tatsache, dass sie kein Turnier in China spielen werden. Und am Donnerstagmorgen haben wir gesehen, dass das IOC gesagt hat, dass es weiterhin Gespräche mit China über Peng Shuai führt. Und sie gaben bekannt, dass sie ein Treffen mit ihr hatten und dass alles in Ordnung zu sein scheint. Aber es gibt keinen Beweis, es gibt keinen Hinweis, es gibt keine Erklärung, keine Pressemitteilung, worüber sie gesprochen haben. Und was noch wichtiger ist: Sie sprachen überhaupt nicht über die Vorwürfe von Peng Shuai oder über eine mögliche Strafverfolgung wegen ihrer Vergewaltigungsvorwürfe gegen einen chinesischen Toppolitiker. Es ist also eine schwierige Situation für das IOC, weil es etwas tun will. Vor ein paar Wochen führte es das Videotelefonat mit Peng Shuai. Etwas, was noch niemandem gelungen war. Aber gleichzeitig erwähnte es nichts davon, dass es über sehr wichtige Dinge wie die Vergewaltigung Peng Shuais und ihre Situation, ihre Sicherheit in China gesprochen habe.
Friebe: Aber warum wollen Sportorganisationen diese politischen Themen oft nicht ansprechen?

Gomez: Weil das eine schwierige Frage ist. Es gehört zum Erfolg des Sports, dass es in seiner DNA liege, keine Verbindung zur Politik zu haben. Wir können das in der IOC-Charta sehen, wir können es in den Erklärungen der FIFA sehen.
Aber es gibt definitiv eine starke Verbindung zwischen Sport und Politik. Und auch wenn Thomas Bach und viele Funktionäre sagen, dass Politik und Sport nicht zusammenpassen - um ehrlich zu sein, ist das für mich so etwas wie Mythologie. Jeder einzelne Tag, jedes einzelne Sportereignis zeigt, dass Sport und Politik sich vermischen. Wir müssen hier einfach sehr pragmatisch sein. Und meine Meinung: Die internationalen Verbände müssen sich mit diesem Bereich auseinandersetzen. Und niemand wird ihnen mehr glauben, wenn sie so etwas erzählen. Meiner Meinung nach müssen die internationalen Verbände also viel pragmatischer sein und einfach sagen: ‚Okay, Sport und Politik vermischen sich also definitiv. Also lasst uns einen Weg finden, damit es funktioniert, und nicht einfach sagen, dass es das nicht gibt oder dass es sich nicht vermischt, denn jeder weiß, dass das nicht die Wahrheit ist.‘
Friebe: Aber wenn Sie sagen, dass es ein starkes Signal von der WTA gibt, die Veranstaltungen aus China zurückzuziehen - wird das etwas bringen? Lernt eine Regierung wie die chinesische wirklich etwas daraus?
Gomez: Es ist sehr schwer zu sagen und zu wissen, wie genau die chinesische Regierung reagieren wird. Ich habe kurz nach der Erklärung der WTA eine Erklärung des chinesischen Außenministers Wang gesehen, dass er mit der Politisierung des Sports nicht einverstanden ist.
Aber er hat nichts anderes erwähnt. Wir müssen also definitiv den nächsten Schritt der chinesischen Regierung abwarten. Und wir müssen auch auf Nachrichten von Peng Shuai oder von Zhang Gaoli, dem ehemaligen Minister, warten, von dem Peng Shuai sagte, er habe sie vergewaltigt.
Friebe: Zum Thema China: die bevorstehenden Olympischen Winterspiele. Vor allem die USA haben einen diplomatischen Boykott ins Spiel gebracht. Ist das mehr als nur ein Symbol?
Gomez: Um ehrlich zu sein, war es ziemlich interessant, dasselbe wie vor drei Jahren zu sehen. Es gibt einige Boykottdrohungen.
Der erste war ein Sportboykott. Aber ziemlich schnell war diese Option nicht mehr auf dem Tisch. Und vor ein paar Monaten erinnerte ich mich an einen Kommentar des US-amerikanischen Politikers Mitt Romney in einer amerikanischen Zeitung, in dem er einen Wirtschaftsboykott forderte. Und dann sahen wir mehrere Optionen. Und vor allem der diplomatische Boykott, der von Nancy Pelosi oder dem aktuellen Präsidenten der Vereinigten Staaten vorgeschlagen wurde. Wir können definitiv sehen, dass etwas im Gange ist. Aber das Wichtigste bei einem Boykott ist: Wenn man will, dass ein politischer oder diplomatischer Boykott wirksam ist, muss man sich mit anderen Nationen, mit anderen Akteuren zusammenschließen. Wenn Sie allein sind, wird sich die Situation nicht ändern. Und die Situation wird sich gegen Sie richten. Denn dann ist man ganz allein und kann nicht darauf hinweisen, was in einigen Ländern nicht in Ordnung ist. Es wird also sehr interessant sein zu sehen, wie die USA oder andere Länder in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten vor den Olympischen Spielen und Paralympics versuchen werden, Menschen, Staaten und Interessengruppen um sich zu scharen, um eine große Bewegung gegen China zu formen. Aber noch einmal: Es geht nicht um einen Sportboykott. Nicht wie in Moskau, Los Angeles oder Montreal. Es wird eher ein diplomatischer Boykott sein. Das bedeutet, dass niemand aus der Politik - Präsidenten oder Premierminister usw. - nach Peking reisen wird, um die Eröffnung der Olympischen Spiele zu unterstützen.
Friebe: Im Allgemeinen steckt hinter großen Sportereignissen eine Menge Geld und auch Geopolitik. Sind Sportereignisse Ihrer Meinung nach heute einer der wichtigsten internationalen Politikbereiche für viele Länder?
Gomez: Es ist ziemlich schwer zu sagen, ob das so ist. Aber viele Länder, viele Staatsoberhäupter, viele Zivilgesellschaften und viele Menschen schauen sich diese Olympischen Spiele und Paralympics an. Wenn man also eine globale Botschaft haben will, wenn man Tausende von Menschen erreichen will, kann man definitiv etwas bei den Olympischen Spielen machen, und jeder wird es live oder ein paar Stunden später in der Zeitung sehen.
Meiner Meinung nach ist es also sehr wichtig, genauer gesagt, es ist eine sehr wichtige öffentliche Instanz. Aber man kann auch sehr wichtige, sehr entscheidende Gespräche führen, nicht vor der Kamera, sondern kurz vor oder nach den Spielen. Es ist also auch eine große Bühne für Politik und Diplomatie.
Friebe: Was ist die Verantwortung des Sports in diesem Bereich?
Gomez: Es war sehr interessant zu sehen, wie sich der Sport immer mehr in die Politik einmischt. Es gab schon immer eine Verbindung zwischen Sport und Politik. Aber heute sehen wir, dass es bei der Ausrichtung eines großen Sportereignisses nicht nur darum geht, Sportler und Touristen auf dem eigenen Boden zu empfangen. Man muss sich mit politischen, diplomatischen und ökologischen Fragen auseinandersetzen und sich neuen Problemen stellen. Man muss sich also auf jeden Fall darüber im Klaren sein, was in seinem eigenen Land vor sich geht oder in einem anderen Land, wenn man das besucht. Meiner Meinung nach war das vor einigen Jahrzehnten noch nicht der Fall. Aber heute, seit zehn oder 15 Jahren, ist es definitiv der Fall. Vor allem, weil der Sport wächst und wächst. Heute ist er ein sehr wichtiges Ereignis in wirtschaftlicher, politischer und diplomatischer Hinsicht.