Archiv

Ein Besuch bei Davide Morosinotto
Das Genre weit überschritten

Vor einem Jahr wurde Davide Morosinotto mit seinem Abenteuerroman "Die Mississippi-Bande – Wie wir mit drei Dollar reich wurden" für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Jetzt hat er sich an eine fiktive Geschichte aus der Belagerungszeit Leningrads gewagt.

Von Siggi Seuß |
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Zwei Werke von Davide Morosinotto (Buchcover Thienemann Verlag)
    "Alles begann mit dem Mord an Mr Darsley. - Oder auch nicht. Wenn ich es mir recht überlege, begann es eigentlich ein paar Wochen zuvor, an dem Nachmittag, an dem wir mit dem Bau des Einbaums fertig wurden."
    Vor kurzem glaubte ich noch, der Autor müsse ein Zeitgenosse Mark Twains sein und ein Vertrauter von Tom Sawyer und Huck Finn: Davide Morosinotto, 38 Jahre alt, bekannter italienischer Kinder- und Jugendbuchautor, der auch Videospiele entwickelt, und der in diesem Jahre mit seiner "Mississippi-Bande" - einer Mischung aus Abenteuerroman und Krimi - sogar für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert ist.
    "Ganz ehrlich: Ich bin kein großer Fan von Tom Sawyer, aber ich war ein riesiger von Huckleberry Finn. Meiner Meinung nach sind seine Geschichten das wirkliche Meisterwerk von Mark Twain, weil in ihnen mehr Abenteuer steckt – dieses ganze Leben am Fluss.
    Davide Morosinotto kennt in seinem Roman "Die Mississippi-Bande" jeden Schlupfwinkel in den Bayous nahe New Orleans Anfang des 20. Jahrhunderts und er kennt all die kleinen und großen Sorgen seiner Helden.
    Wir waren ein kleiner Stamm
    "Ich bin in einer kleinen Stadt in der Nähe von Padua aufgewachsen, inmitten von Hügeln, mit Schwestern, die ein bisschen jünger waren als ich. Und mit einer Menge Cousins und Cousinen. Wir waren so etwas wie ein kleiner Stamm. In den 1980ern wuchsen die Kinder wahrscheinlich freier auf als heute. Ich konnte durch die Straßen und Gärten streunen und überall herumstöbern. In der Nähe gab es einen Fluss, keinen mächtigen, aber dort konnten wir unsere eigenen, großen Abenteuer erleben."
    Ich steckte Davide Morosinotto damals in die Schublade "begnadeter Erzähler von Abenteuern", nicht ahnend, dass der Autor bereits zu einem Thema recherchierte, das das Genre weit überschritt.
    "Meine Bücher erzählen immer von Reisen, von Veränderungen und von Erfahrungen, die man damit macht. Die Genres sind unterschiedlich, manchmal Fantasy, manchmal Science Fiction und manchmal sind es Abenteuerbücher oder historische Romane."
    Und nun, mit seinem zweiten bei uns erschienenen Roman - "Verloren in Eis und Schnee – Die unglaubliche Geschichte der Geschwister Danilow -, widmet er sich einem historischen Thema, von dem man meinen könnte, dass seine Mühe alsbald an die Grenzen des Erzählbaren stößt. Lässt sich unsagbares Leid sagbar machen? In diesem Fall: die Tragödie der jahrelangen Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht vom September 1941 bis Januar 1944, der über eine Million Zivilisten zum Opfer fielen.
    Mir sind möglicherweise Fehler unterlaufen
    Die meisten verhungerten. - So wie in den vergangenen Jahren – im Resultat umstritten - etwa John Boyne und David Safier versuchten, die unvorstellbaren Dimensionen der Nazityrannei auf die Ebene von Erzählungen für Jugendliche zu transformieren, indem sie sich dem Leben einzelner Menschen näherten, versucht nun Davide Morosinotto die Anfänge der Tod und Leid bringenden Leningrader Blockade an Hand der fiktiven Tagebücher eines dreizehnjährigen Zwillingspaars aus Leningrad, Viktor und Nadja, zu veranschaulichen, das bei einem Kindertransport kurz vor der Einkesselung der Stadt getrennt wird. Sie werden in verschiedenen Zügen evakuiert.
    "Ich habe versucht, mich so eng wie möglich an die historischen Tatsachen zu halten …"
    Das schreibt Morosinotto in seinem Nachwort …
    "Aber ich weiß, dass mir dabei möglicherweise Fehler unterlaufen sind, für die ich mich an dieser Stelle entschuldigen möchte. Gelegentlich habe ich aber auch bewusst historische Tatsachen verfälscht, weil das für meinen Roman notwendig war."
    "An meinem vierzehnten Geburtstag wurde ich zu einem Helden."
    Viktor! Bist du verrückt geworden?
    Das bekennt Viktor rückblickend am Anfang des Romans, aus dessen zeitgleich erschienener Hörbuchfassung wir hier zitieren:
    "Das begriff ich sofort. Vielleicht noch nicht in dem Augenblick, als ich die Stadt erreichte, aber kurz danach, als ich auf dem gefrorenen Fluss den Schlitten hinter mir herzog. Der Schlitten, auf dem Anna saß. Ich erinnere mich an die leblosen Körper an den Ufern der Newa. Wie dunkle Pilze ragten sie hier und da aus dem Schnee. Und ich erinnere mich an eine alte Frau in einem verschlissenen Mantel, die mit einem kleinen Eimer in der Hand über den zugefrorenen Fluss humpelte."
    Worauf sich seine Schwester sogleich mit einem Einwand zu Wort meldet:
    "Viktor! Bist du verrückt geworden? - Wieso? - So etwas kannst du nicht schreiben! Das weißt du doch selbst. Du bringst uns damit in Schwierigkeiten und davon hatten wir schon genug … - Also, weißt du, Nadja, das hier ist meine Geschichte! Ich muss sie so schreiben, wie ich das für richtig halte! Wir haben sie doch schon erzählt. Vorher. Jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, dass sie jemand liest."
    Die erste Inspiration, diesen Roman zu schreiben, nahm Davide Morosinotto aus den Erzählungen seines Großvaters, der als Soldat nach Russland geschickt wurde und als einer von Wenigen seiner italienischen Kompanie überlebte.
    "Ich war emotional sehr in die Geschichte verwickelt und deshalb war es schwierig, dieses Buch zu schreiben. Einerseits gab es diese Erzählungen meines Großvaters. Und ich hatte meinen Opa sehr, sehr lieb. Er war eine sehr wichtige Person in meinem Leben. Aber dann habe ich mich gefragt: "Okay, und was ist mit den Kinder von heute, die keinerlei Bezug mehr zu dieser Zeit haben? Das alles ist für sie so weit weg in der Vergangenheit. Wie kann man ihnen so eine Geschichte erzählen? Ich habe wirklich sehr lange überlegen müssen, wie ich diese Geschichte erzählen will."
    Schuldig oder nicht schuldig?
    Drei Jahre lang arbeitete Morosinotto an diesem Buch, las Romane und Sachbücher, holte sich Informationen und Ratschläge von einem von ihm mitbegründeten Autorenkollektiv, besuchte die Schauplätze des Geschehens und recherchierte in Museen in St. Petersburg. Dramaturgisch, stilistisch und gestalterisch ist Davide Morosinotto mit "Verloren in Eis und Schnee" ein außergewöhnlicher Roman gelungen. Der Autor veranschaulicht die Ereignisse mit zahlreichen Dokumenten, Bildern, Karten und Zeitungsausschnitten und lässt in Tagebuchform aus drei verschiedenen Perspektiven erzählen: aus der Sicht Viktors (in roter Schrift), aus der Sicht Nadjas (in blauer Schrift) und – in Form von Rand- und Zwischenbemerkungen - aus der Sicht eines Volkskommissars für Innere Angelegenheit, der das Verhalten der beiden jungen Menschen nach dem Ende des Krieges beurteilen muss: Schuldig oder nicht schuldig? Angeblich haben sich Viktor und Nadja während ihrer Odyssee von Juni bis November 1941, die sie am Ende wieder zusammenführt, zahlreicher Verstöße und Verbrechen schuldig gemacht, bis hin zum Hochverrat.
    "Bei der Durchsuchung der Wohneinheit mit der Anschrift Stolyarny-Gasse 8 wurde beiliegendes Dokument gefunden und anschließend den Justizbehören vorgelegt. Es dient als Beweismaterial für die Untersuchung zulasten der beiden Sowjetbürger: Viktor Nikolajewitsch Danilow, geboren in Leningrad am 17. November 1927
    Nadja Nikolajewna Danilowa, geboren in Leningrad am 17. November 1927
    Das vorliegende Dokument, das die Angeklagten als "Hefte" bezeichnen, besteht aus einer Sammlung unterschiedlicher Materialien, darunter beschriebene lose Blätter, auf verschiedene Papierarten geschriebene Notizen, Postkarten und Fotografien. Ein Teil der losen Blätter war vermutlich ursprünglich Bestandteil von Spiralheften."
    Morosinotto: "Eines Nachts ist plötzlich der Krieg da und die ganze Stadt gerät in Panik. Die Regierung bestimmt. Alle Einwohner, die älter sind als 16 Jahre, müssen die Stadt verteidigen. Die Jüngeren, vom Kleinkind bis zum Teenager, sollen in aller Eile evakuiert werden, bevor der Feind auftaucht. Dazu werden Züge eingesetzt, die in einer Woche etwa 50.000 Jungen und Mädchen aus der Stadt bringen. Den Kindern werden im Bahnhof – das ist historisch belegt – die Zugnummern auf die Hand geschrieben. Nadja erhält die Nummer 76 und Viktor die Nummer 77. Die Kinder denken sich zuerst nichts dabei, begreifen aber bald, dass sie getrennt werden. Also versprechen sie sich gegenseitig: "Egal, was passiert: Wir finden uns wieder."
    Ich wollte kein trauriges Buch
    Allein das Martyrium der jungen Menschen, die Grausamkeiten des Krieges, der Belagerung, der Hunger, die Kälte, die Bombenangriffe, unzählige Leichen am Wegesrand, der Tod naher Menschen – all das macht manche Passagen des Romans schwer lesbar. Dazu kommt, dass der Zug Nr. 76, in dem sich Nadja befindet, nach Meldungen der sowjetischen Nachrichtenagentur angeblich bombardiert wurde. Es gebe keine Überlebenden, heißt es. In diesem Zusammenhang spekuliert Morosinotto auch über Machtkämpfe hinter den Kulissen des stalinistischen Apparats.
    "Und, ja, das war eine Geschichte, die ich erzählen musste, weil es zwei Kindern gelang, ihre Menschlichkeit die ganze Zeit über zu bewahren und in ihre Welt zu tragen, obwohl sie in der dunkelsten Epoche der Geschichte der Menschheit lebten, in der zwei Gewaltsysteme in großer Grausamkeit aufeinandertrafen. Der italienische Titel bedeutet übersetzt "Das strahlende Licht zweier roter Sterne". Diese Menschlichkeit zu zeigen, war für mich wichtig. Ich wollte kein trauriges Buch schreiben, sondern einen Roman über diese Lebendigkeit und diese positive Energie der Geschwister. Das wollte ich in den Vordergrund stellen und nicht die Schwierigkeiten und Tragödien."
    Zu diesem Zweck formt Morosinotto seine beiden jugendlichen Helden – trotz mannigfacher Todesgefahr, trotz erlebter Grausamkeiten und eigener Verletzungen – zu unsterblichen Figuren, die das Erlittene zum Wohle der menschenfreundlichen Botschaften ihres Erschaffers psychisch nahezu unbeschadet zu überstehen scheinen. Psychologen, die im realen Leben vom Krieg traumatisierte Kinder behandeln, würden wahrscheinlich ungläubig den Kopf schütteln angesichts des schier unerschöpflichen Reservoirs an positiven Energien, die Nadja und Viktor zwar Trauer, Angst und Schmerz spüren, im übernächsten Augenblick aber schon wieder an das glückliche Ende ihrer Mission glauben lassen. Schließlich kann sich der Junge sogar noch als kleiner vaterländischer Held betrachten, weil es ihm gelingt, einen Versorgungskorridor in die umzingelte Stadt zu entdecken.
    "13. November. Wir ließen uns ein paar Tage Zeit, um in Ruhe über alles nachzudenken. Aber eigentlich wissen wir bereits, was wir zu tun haben.
    * Wir müssen nach Leningrad
    * und dort zum Oberkommando der Roten Armee
    * um ihnen unsere Geschichte zu erzählen und die Beweise vorzulegen.
    * Sie sollen zur Festung Oreschek Verstärkung schicken
    * und eine Lastwagenkette organisieren, die über den zugefrorenen Ladogasee nach Leningrad fährt, um die Menschen dort mit Lebensmitteln zu versorgen.
    Aber viele Fragen sind noch offen.
    * Wer von uns geht nach Leningrad?
    * Wie kommt er oder sie dahin?
    * Wie kommt man in die Stadt hinein?
    * Wer von uns ist am besten geeignet, den Beweis vorzulegen?
    * Wie schaffen wir es, angehört zu werden?"
    Herzensgüte und bedingungslose Freundschaft
    Hier siegt zweifellos der begnadete Erzähler und Fantast Morosinotto über den den Tatsachen verpflichteten Chronisten. Natürlich atmet man nach der Lektüre – das zumindest vorläufig gute Ende wird bereits am Anfang angedeutet – tief auf und freut sich mit den jungen Überlebenskünstlern. Schließlich hat man gerade einen überaus spannenden, ungewöhnlich reichhaltig und aufwändig gestalteten Tagebuchroman gelesen, in dem sich Realität und Fiktion, trotz zahlloser gesehener und erlebter Gräuel, stets zugunsten der Protagonisten zusammenfinden.
    Dennoch rumort in den Hinterstübchen erwachsenen Leser ein immer wiederkehrender Quälgeist bei der Lektüre von Romanen über monströse tragische Ereignisse der Weltgeschichte: Erzählungen wie "Verloren in Eis und Schnee" spielen nur mit Elementen der Wirklichkeit und entkräften dadurch die Macht des wirklich Geschehenen. Wie sonst aber sollen Geschichten jungen Lesern die Augen, oder besser: das Herz für "das Gute", für "die Hoffnung" öffnen, vor den unzählbaren Abgründen des Krieges? In jeder komplexen Geschichte über die Belagerung Leningrads würden Tugenden wie Offenheit, Herzensgüte und bedingungslose Freundschaft hoffnungsarm in einem Universum des Leids verschwinden. Insofern: Bühne frei für Viktor und Nadja!
    Davide Morosinotto: "Verloren in Eis und Schnee. Die unglaubliche Geschichte der Geschwister Danilow"
    aus dem Italienischen von Cornelia Panzacchi.
    Thienemann-Esslinger Verlag, Stuttgart, 440 Seiten, 18 Euro, ab 12
    Davide Morosinotto: "Verloren in Eis und Schnee. Die unglaubliche Geschichte der Geschwister Danilow"
    aus dem Italienischen von Cornelia Panzacchi.
    Bearbeitete Lesung auf 2 mp3-CDs mit Gabrielle Pietermann, Nicolás Artajo und Reinhart Kuhnert.
    cbj audio, Verlagsgruppe Random House, München. 8 Std. 21 Min., 14,95 Euro
    Davide Morosinotto: "Die Mississippi-Bande. Wie wir mit drei Dollar reich wurden"
    aus dem Italienischen von Cornelia Panzacchi
    Thienemann-Esslinger Verlag, Stuttgart. 366 Seiten, 14,99 Euro, ab 12