Die neue Welt ist noch immer gut für einen Aufbruch, selbst wenn so ein Aufbruch nur kaschieren soll, dass es sich um eine Flucht handelt. Thomas und Carmen lassen ihre alte Ikea-Wohnlandschaft in Hamburg zurück und richten sich mit neuen Billy-Regalen auf ein paar Quadratmetern in Manhattan ein. Beide haben hippe Jobs in Aussicht. Ein Traum geht in Erfüllung, von dem man zu Anfang von Kathrin Werners Debütroman „Niu“ allerdings noch nicht weiß, ob er sich nicht rasch in einen Alptraum verwandeln könnte.
Thomas laboriert nämlich an den Folgen eines Unfalls herum, von dem ihm eine auffällige Narbe am Handgelenk geblieben ist. Carmen, die nur C. genannt wird – der aufmerksame Leser wird darin eine gewisse Identitätsunsicherheit erkennen –, hat kurz vor der Abreise einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen. Thomas weiß davon nichts.
Nicht nur schicksalhaft, sondern unwahrscheinlich
Ohnehin ist das Paar gerade nicht sehr zum Reden aufgelegt. Auf einem ihrer einsamen Spaziergänge durch Manhattan lernt C. die Titelheldin Niu kennen - geschrieben N – I – U. Niu ist ein chinesischer Name, steht aber freilich auch für das Neue, das sich nun eröffnet: Die Begegnung ist für C. verwirrend, faszinierend, folgenreich. Es geht eine ungemeine Anziehungskraft von dieser schwarzhaarigen, gelockten Niu aus, und ehe man sich’s versieht, landen die beiden jungen Frauen gemeinsam im Bett.
„'Ich werde dich nicht C. nennen',, sagt Niu. ‚Du bist mehr als ein Buchstabe, Carmen.‘ Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, ihr Gesicht kommt näher an C.s Gesicht. Zeitlupe. C. neigt sich herab und drückt ihre Lippen auf Nius Lippen. Hauchschnell, weich auf weich, Mund geschlossen.“
Was C. allerdings nicht ahnt: Wenige Tage zuvor hatte Niu bereits Thomas getroffen. Der war in der Subway auf die Narbe an ihrem Handgelenk aufmerksam geworden, die bis ins Detail seiner eigenen gleicht. Auch diese Begegnung bleibt nicht ohne Folgen. Dass Niu die beiden Deutschen unabhängig voneinander kennenlernt, wirkt nicht nur schicksalhaft, sondern unwahrscheinlich – vielleicht aber sollte man dieser Figur nicht mit einem allzu realistischen Leserblick begegnen.
“Sie legt die Hand auf seine Schulter, die Hand mit der Narbe. Es ist, als könne sie direkt in ihn hineinschauen, seinen Herzschlag sehen.“
Atemloser Stil, pathetischer Ton
Thomas und C. stürzen sich in eine Amour fou. Beide werden nicht zuletzt dadurch aus ihren Karrierebahnen katapultiert, und müssen mit ihrem aus Deutschland mitgeschleppten Vergangenheitsballast zurechtkommen. Ein bisschen Mystery, ein bisschen Psychodrama, ein bisschen Paartherapie – am Ende stehen Carmen und Thomas vor den Scherben ihres Lebens. Niu ist verschwunden, mit ihr die Illusion eines anderen Lebens gewesen, und doch geht über der Brooklyn Bridge die Sonne auf und scheint einen wirklichen Neustart zu illuminieren. Von Niu gibt es dazu noch einen Abschiedsbrief.
„Ich bin frei. Ich bin weg. Ihr braucht mich nicht mehr. Vielleicht habt Ihr mich nie gebraucht. Aber ich glaube, dass ich Euch geholfen habe. Ihr wisst, wer Ihr seid. Ihr seid mehr, als Ihr Euch zutraut. Lebt danach. Und haltet zusammen. Vielleicht gibt es mich gar nicht.“
Ein bisschen hat diese Botschaft der Verschwundenen etwas Paolo Coelho-Haftes – die Moral von der Geschicht’, gegossen in drei pathetische Zeilen. Dabei gibt sich Kathrin Werner in ihrem Debüt durchaus Mühe, nicht allzu betulich zu klingen, ihre Geschichte schnell zu machen. Ihr Stil ist atemlos, die Sätze kurz. Das soll das Tempo New Yorks nachvollziehen, von dem so mancher Besucher der Stadt überfordert ist. Werner hat viele Jahre als Journalistin in Big Apple gelebt – und hat sich für ihre Figuren noch einmal an den Blick des staunenden, gehetzten Newcomers erinnert. Die einschlägigen touristischen Ziele tauchen im Buch allesamt auf, einmal heißt es, alles sei genauso wie auf den Bildern.
New York wie auf Postkartenmotiven und doch ganz anders: Diese Spannung zwischen Projektionen und realen Bildern, zwischen Innen und Außen versucht Werner über 250 Seiten zu erzeugen. Allerdings gelingt das nur zum Teil. Denn für dieses „Andere“ und das Herausfordernde der Stadt, für das Unsagbare, das Niu verkörpert, fehlt dann doch eine mitreißende, eine verstörende Sprache, obendrein lauern in diesem Roman Klischees an jeder Straßenecke. So bleiben zwar eine solide erzählte, geheimnisvolle Geschichte mit aus dem Hut gezauberter Märchenfigur, ein paar New-York-Snapshots – aber nur wenige literarische Funken.
Kathrin Werner: „Niu“
Atlantik, Hamburg, 254 Seiten, 22 Euro.
Atlantik, Hamburg, 254 Seiten, 22 Euro.