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Ein Brettspiel wird zur Parabel

Der Titel von Roberto Bolanos Buch führt zunächst ein wenig in die Irre. Denn das "Dritte Reich" ist ein Brettspiel, ein Wargame. Bolanos Protagonist Berger verliert in seiner Spielsucht die Realität aus den Augen und identifiziert sich zunehmend mit der Rolle Nazi-Deutschlands.

Von Eva Karnofsky |
    Es beginnt ganz harmlos: Udo Berger, ein 25-jähriger Angestellter der Stuttgarter Elektrizitätswerke, fährt mit seiner Freundin Ingeborg an die spanische Küste. Das Paar kommt in dem Hotel unter, in dem Berger bereits als Junge mit seinen Eltern regelmäßig die Ferien verbracht hatte. Udo schreibt neben seiner Arbeit für Fachzeitschriften und will seinen Stil vervollkommnen – zu diesem Zweck führt er Urlaubstagebuch, will heißen, Roberto Bolano schreibt seinen Roman aus Udos Perspektive, in der Ichform.

    Zunächst erweckt Udo in seinem Tagebuch den Eindruck, als befinde er sich auf einer ganz normalen Ferienreise: Ingeborg und er ergehen sich in Urlaubsroutine – Strand, Sonnenbrand, mittags deutsche Küche, abends Diskothek und zu viel Alkohol und schließlich eine Urlaubsbekanntschaft, Hanna und Charly aus Oberhausen. Udo schreibt detailgenau, bierernst und gelegentlich sprachlich überhöht, sodass der Leser erst einmal vermutet, Roberto Bolano habe eine Satire über den Massentourismus vorgelegt, den er täglich hatte beobachten können, denn der Autor lebte bis zu seinem Tod 2003 im spanischen Badeort Blanes.

    "Ich habe eine silberne Halskette mit Einlegearbeiten aus Ebenholz gekauft. Hoffentlich gefällt sie ihr. Außerdem habe ich eine winzige Tonfigur erstanden, einen Bauern, der in der Hocke sitzt und kackt; der Verkäuferin zufolge eine für die Region typische Figur. Ich bin sicher, dass Ingeborg sie lustig finden wird."

    Doch bald geht der Roman über die Satire hinaus. Es wird immer deutlicher, dass Roberto Bolano auch das Psychogramm zweier Süchtiger entworfen hat, denn sowohl Udo als auch Charly begreifen die Reise einzig als Chance, ihre jeweilige Sucht auszuleben. Charly unternimmt mit seinem Surfbrett täglich waghalsigere Trips, bis er schließlich verschwindet. Die Frage, ob Charly die Sucht nach Selbstzerstörung zum Verhängnis wurde, ob er einem Verbrechen zum Opfer fiel oder sich nur einen bösen Spaß mit seiner Freundin Hanna und seinen Urlaubsbekannten erlaubt hat, beschäftigt Tagebuchschreiber Udo bis zum Schluss und trägt zur Spannung bei.

    Udo erkennt durchaus Charlys Suchtverhalten und fühlt sich davon abgestoßen, doch seine eigene Sucht verdrängt er. Den Leser beschleicht jedoch bereits sehr bald das Gefühl, dass mit Udo Berger etwas nicht stimmen könnte: Im Hotel hatte er sich gleich nach Ankunft wie ein deutscher Herrenmensch aufgeführt. Er schikanierte das Hotelpersonal, nur, um einen größeren Tisch aufs Zimmer zu bekommen, auf dem er ein Brettspiel aufbauen kann. Udo spielt nämlich Wargames, Brettspiele, bei denen Kriege und Schlachten nachgestellt werden, vorzugsweise die des Zweiten Weltkrieges. Udo ist darin deutscher Meister. Und über diese Kriegsspiele schreibt Udo auch – in Fanmagazinen. In seinem Urlaub will er "Das Dritte Reich" spielen und darüber einen Bericht verfassen. Kaum hat Udo mit dem Spiel begonnen, lässt Bolano ihn allmählich immer tiefer in seine Sucht eintauchen:

    "Um zwölf traf ich mich mit Ingeborg am Strand. Ich befand mich, muss ich gestehen, wegen der ertragreichen Stunden, die ich am Spielbrett verbracht habe, in einer aufgekratzten Laune, weshalb ich ihr gegen meine Gewohnheit einen detaillierten Bericht von meiner Eröffnung gab, den Ingeborg mit den Worten unterbrach, man würde uns zuhören. Dann erst verstand ich, dass sich Ingeborg meinetwegen schämte, wegen der Vokabeln, die ich von mir gegeben hatte (Infanterieverbände, Panzerverbände, Kampfgeschwader der Luftwaffe, der Marine, Präventivschlag gegen Norwegen, Möglichkeiten für einen Angriff auf die Sowjetunion im Winter 1939, Chancen für eine vollständige Niederschlagung Frankreichs im Frühjahr 1940), und mir war, als täte sich vor meinen Füßen ein Abgrund auf. Mit ehrlichem Entsetzen wird mir bewusst, dass sich etwas zwischen uns zu schieben beginnt."

    Das Spiel ist Udos Droge. Auch dies beschreibt der Autor mit unterschwelliger Ironie und mit einem Blick für das Detail. Nur, wenn Udo vor dem Brett sitzt, fühlt er sich gut. Er isoliert sich zusehends, hält sich jeden Tag länger auf dem Zimmer auf und lebt schließlich nur noch für "Das Dritte Reich".

    Das Spiel ist im Übrigen nicht der Fantasie des Autors entsprungen, ebenso wenig die im Roman von Udo ausführlich beschriebene Wargames-Szene mit ihrer Vorliebe für den Zweiten Weltkrieg und Hitler-Deutschland. Beides kannte Roberto Bolano gut, so wie ihm auch die Spielsucht nicht fremd war, Bolano war selbst fanatischer Anhänger solcher Wargames. Er soll einmal ein halbes Jahr lang keine Zeile geschrieben haben, weil er sich nur noch Kriegsspielen widmete.

    Nach Charlys Verschwinden und Hannas Abreise kehrt auch Ingeborg nach Deutschland zurück, doch Udo bleibt, nimmt sogar in Kauf, dass er seinen Arbeitsplatz verliert. Und es beunruhigt ihn auch nicht sehr, als ihm sein Freund Conrad, Wargames-Spieler wie er, in einem Brief mitteilt, dass er sich in Ingeborg verliebt hat. Denn Udo hat einen Partner gefunden, gegen den er spielen kann. Der Mann, ein ehemaliger lateinamerikanischer Guerillero, vermietet Tretboote am Strand und wird von allen nur der Verbrannte genannt:

    "Der Mann war braun gebrannt, hatte lange Haare und einen muskulösen Körper, aber das bei Weitem Auffälligste an seiner Person waren die Verbrennungen – vom Feuer, nicht von der Sonne -, die einen Großteil des Gesichts, des Halses und der Brust bedeckten und sich offen darboten, dunkel und wulstig wie Fleisch auf dem Grill oder Verschalungen eines verunglückten Flugzeugs. Ich muss gestehen, dass ich mich für einen Moment wie hypnotisiert fühlte, bis ich gewahr wurde, dass auch er uns ansah und in seinem Gesicht Gleichgültigkeit überwog, eine Art Kaltblütigkeit, die mir sofort zuwider war."

    Trotzdem, oder gerade deshalb, spielt Udo nun Nacht für Nacht mit dem Verbrannten, wobei dieser den Part sämtlicher Kriegsgegner übernimmt und Udo den Hitler-Deutschlands. Wenn ihn die Sucht einmal klar denken lässt, sieht er sich keinesfalls als Nazi, dennoch identifiziert er sich, ohne es zu merken, im Laufe des Spiels immer mehr mit dem Dritten Reich. So schwingt auch Hitlers Wahn von der Überlegenheit der deutschen Rasse in Udos Tagebuch mit:

    "Ich eröffnete die erste Runde und erklärte jeden meiner Schritte, sodass der Verbrannte begriff und die Eleganz schätzen lernte, mit der meine Panzer die polnischen Stellungen niederwalzten."

    Sehr gut zeichnet Bolano nach, wie das Spiel die beiden Kontrahenten darin hindert, ein persönliches Gespräch zu führen. Eine menschliche Annäherung kommt nicht zustande, obwohl Udo durchaus interessiert wäre, mehr über die Lebensgeschichte des Verbrannten zu erfahren. Doch das Spiel vermischt sich mit der Wirklichkeit, Udo begreift den Verbrannten täglich mehr als Feind, mit dem private Kommunikation unmöglich ist. Hier lässt der Autor seine Verehrung für den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges durchscheinen, der es meisterhaft verstand, die Grenze zwischen Realität und Fantasie fast unmerklich immer mehr verschmelzen zu lassen. Zwar erlaubt das Spiel durchaus eine Umkehrung der Geschichte, und Udo hatte sich vorgenommen, die Alliierten zu schlagen, doch er gerät immer mehr ins Hintertreffen. Er verspürt schließlich sogar Angst vor dem Verbrannten, dessen Tretboote verfolgen ihn bis in seine Träume:

    "Von meiner Position aus konnte ich nur die Schnauze des ersten erkennen, so perfekt war die neue Formation ausgeführt. Ohne Böses zu ahnen, beobachtete ich, wie die Schaufeln das Wasser teilten und wieder Bewegung in die Boote kam. Sie steuerten direkt auf mich zu! Nicht sehr schnell, aber unaufhaltsam und schwer wie die alten Dreadnoughts von Jütland. Just bevor die Kufe des ersten, dem neun weitere folgten, meinen Schädel zerschmetterte, erwachte ich."

    In seinem durch die Sucht ausgelösten Verfolgungswahn glaubt Udo gar, der todkranke Ehemann von Hotelbesitzerin Frau Else, mit der er anzubandeln versucht, unterstütze den Verbrannten dabei, ihn zu zerstören. Schließlich, so viel sei verraten, erweist sich der Verbrannte jedoch als Udos Retter aus der Sucht, so wie der Sieg der Alliierten Deutschland von Hitler befreite. Und so kann man Roberto Bolanos vielschichtiges Buch "Das Dritte Reich" durchaus auch als Parabel begreifen. Bleibt noch anzumerken, dass sich der chilenische Schriftsteller wie mit seinen späteren Romanen bereits mit seinem Erstling als ein Autor empfiehlt, der es verstand, Szenarien von universeller Brisanz zu schaffen.

    Roberto Bolano: "Das Dritte Reich". Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Carl Hanser Verlag, München 2011., 320 Seiten, 21,90 Euro.