Christiane Kaess: Als "Vater der Nation" wurde er gesehen und seitdem sein Land, Venezuela, vom Tod von Hugo Chávez erfahren hat, verharren seine Anhänger in Schockstarre oder Verzweiflung. Chávez hatte Lateinamerika verändert und war zur Ikone der Linken geworden. Gestern Nachmittag erlag der 58-Jährige seinem schweren Krebsleiden. Vizepräsident Nicolás Maduro hat dem Land die Botschaft überbracht. Am Telefon ist jetzt Professor Stefan Rinke vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Guten Morgen, Herr Rinke.
Stefan Rinke: Guten Morgen!
Kaess: Herr Rinke, wir hören, die Stimmung in Venezuela ist angespannt. Ist die Stabilität im Land gefährdet?
Rinke: Nein, das glaube ich nicht. Es ist natürlich jetzt ein Moment tiefer Trauer da, ein Moment, in dem die Massen nach Caracas strömen, um praktisch an der jetzt kommenden Staatstrauer sich zu beteiligen. Das ist ein tiefer Einschnitt in der jüngsten Geschichte Venezuelas, ganz klar, nach so einem personalistischen Regime. Wenn da der oberste Anführer plötzlich stirbt, dann ist das natürlich auch ein trauriger Moment. Immer wenn ein Mensch stirbt, ist das ein trauriger Moment, aber wenn dann so ein charismatischer Anführer wie Hugo Chávez stirbt, dann steht natürlich, wenn man so will, die Geschichte einen Moment lang still in dem betreffenden Land. Und das ist jetzt momentan gerade der Fall.
Kaess: Chávez ist ja von seinen Anhängern fast abgöttisch verehrt worden. Hatten die bis zuletzt wirklich gehofft, er werde sich noch mal von seiner Krankheit erholen?
Rinke: Ja, das denke ich schon. Ich meine, Sie haben ja gesehen oder wir alle haben ja gesehen, die Informationspolitik war ja alles andere als transparent. Was eben auch zeigt, dass in der Demokratie Venezuelas einiges im Argen war und ist. Aber dass da noch Hoffnungen bestanden, das ist sicherlich so. Ich meine, denken Sie an die kubanische Führung, die ja auch schon lange totgesagt war und dann doch immer wieder wundersam auferstanden ist und jetzt noch fröhlich weiter regiert. Von daher war das ja so abwegig nicht, dass auch eine Krebsbehandlung durchaus hätte positiv verlaufen können.
Kaess: Schauen wir auf die Amtszeit von Hugo Chávez. Das wird als Zeitenwende interpretiert. Zu Recht?
Rinke: Ja, zu Recht. Zu Recht, und zwar deswegen zu Recht, weil die traditionelle Politik in Venezuela über Jahrzehnte hinweg praktisch in eine Sackgasse gelaufen war, zu einem Stillstand gekommen war, letztendlich nur noch ein Geschäft von Eliten war, die sich die Pfründe, die der Staat und vor allem die reiche Erdölwirtschaft hergaben, hin- und herschoben. Chávez war dagegen angetreten, mit einem durchaus hohen Maß an persönlicher Integrität, wenn man so will. Ich komme gleich noch auf die negativen Seiten zu sprechen.
Kaess: Da müssen wir drüber sprechen!
Rinke: Er hat sicherlich auch es geschafft, den breiten Massen in Venezuela eine Stimme zu geben. Er hat sich an sie gewandt, er hat das auch ernst genommen. Er hat mit seinen "Misiones" auch viele Sozialprogramme in Bewegung gesetzt. Aber er hat natürlich auch …
Kaess: Er hat auch gespalten.
Rinke: … gespalten, ganz genau. Letztendlich haben das ja auch die letzten Wahlen gezeigt: Er war zwar klar über den 50 Prozent und die Opposition hat das ja auch anerkannt, aber auf der anderen Seite ist eben auch fast die Hälfte Venezuelas doch sehr, sehr deutlich auch gegen ihn gewesen und gerade diejenigen, die aus Venezuela geflüchtet sind und ins Exil gegangen sind, jetzt in den USA leben. In Florida spricht man ja mittlerweile schon von den Exil-Venezolanern, die fast so stark seien, wie die Exil-Kubaner es mal waren. All dies sind natürlich Elemente, die darauf hinweisen, dass vieles in dem Land auch schief gelaufen ist, dass Chávez es nie gelungen ist, ein Integrationsfaktor zu sein, sondern dass er eben bestimmte soziale Schichten, die vorher völlig ausgegrenzt waren, die man von der Politik völlig hatte links liegen lassen, in dieses politische Geschäft hineingezogen hat. Da liegt seine Leistung, da liegen aber auch seine Grenzen.
Kaess: Herr Rinke, abschließend noch, denn wir haben nicht mehr so viel Zeit. Für viele westliche Politiker war Chávez ja lediglich ein Demagoge, der mit Ölgeld Länder destabilisiert hat. Auch eine berechtigte Sichtweise?
Rinke: Ja, das war er sicherlich auch. Gerade im außenpolitischen Sektor sind viele seiner Maßnahmen nur sehr schwer nachvollziehbar. Da war vieles eben auch praktisch eine Politik, die sich vor allem versucht hat, den Faktor, den immer noch sehr starken Faktor des Anti-Yankeeismus, also des Anti-US-Amerikanismus auszubeuten, da mit sozusagen Sympathien zu werben. Das hat er gezielt versucht, da hat er ja auch einige Erfolge erzielt bei ihm gleichgesinnten Präsidenten, wenn man an Bolivien, Nicaragua oder auch Ecuador denkt. Aber das war natürlich, wenn man so will, eine erratische Politik, da ist auch sehr viel Geld hineingeflossen, was man vielleicht sinnvoller in Venezuela hätte anwenden können, um die Armut, die drückende Armut im Land noch weiter zurückzuschrauben. Denn alle seine Maßnahmen - und das ist sicherlich auch Teil seines Erbes - waren letztendlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Er hat wie gesagt diese Stimmen in den Diskurs, den politischen Diskurs hineingebracht, die Stimmen der Armen, aber auf der anderen Seite ist es ihm nicht gelungen, einen Strukturwandel in Venezuela auf den Weg zu bringen.
Kaess: Herr Rinke, ganz kurze Einschätzung zum Schluss bitte: Was, glauben Sie, wird bei den Neuwahlen rauskommen?
Rinke: Na ja, der Maduro wird das gewinnen. Der wird auch von dem Mitleidseffekt profitieren. Und dann wird sich zeigen, ob er diesen Charismatiker wird ersetzen können. Nicht umsonst heißt es, spricht man ja von Chavismus, und ein Chavismus ohne Chávez ist nur schwer vorstellbar. Aber andererseits wird sich zeigen, ob der Nicolás Maduro vielleicht so ein ähnlich gelagertes Talent auch besitzt und ob es ihm gelingen wird, dann in dieser Form die Stimmen der Schwachen auf seine Seite zu bringen, und ob es ihm vor allem gelingt, seine Bewegung zusammenzuhalten, denn das ist auch nicht so ganz klar.
Kaess: Die Einschätzungen von Stefan Rinke vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Danke für das Gespräch heute Morgen.
Rinke: Sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stefan Rinke: Guten Morgen!
Kaess: Herr Rinke, wir hören, die Stimmung in Venezuela ist angespannt. Ist die Stabilität im Land gefährdet?
Rinke: Nein, das glaube ich nicht. Es ist natürlich jetzt ein Moment tiefer Trauer da, ein Moment, in dem die Massen nach Caracas strömen, um praktisch an der jetzt kommenden Staatstrauer sich zu beteiligen. Das ist ein tiefer Einschnitt in der jüngsten Geschichte Venezuelas, ganz klar, nach so einem personalistischen Regime. Wenn da der oberste Anführer plötzlich stirbt, dann ist das natürlich auch ein trauriger Moment. Immer wenn ein Mensch stirbt, ist das ein trauriger Moment, aber wenn dann so ein charismatischer Anführer wie Hugo Chávez stirbt, dann steht natürlich, wenn man so will, die Geschichte einen Moment lang still in dem betreffenden Land. Und das ist jetzt momentan gerade der Fall.
Kaess: Chávez ist ja von seinen Anhängern fast abgöttisch verehrt worden. Hatten die bis zuletzt wirklich gehofft, er werde sich noch mal von seiner Krankheit erholen?
Rinke: Ja, das denke ich schon. Ich meine, Sie haben ja gesehen oder wir alle haben ja gesehen, die Informationspolitik war ja alles andere als transparent. Was eben auch zeigt, dass in der Demokratie Venezuelas einiges im Argen war und ist. Aber dass da noch Hoffnungen bestanden, das ist sicherlich so. Ich meine, denken Sie an die kubanische Führung, die ja auch schon lange totgesagt war und dann doch immer wieder wundersam auferstanden ist und jetzt noch fröhlich weiter regiert. Von daher war das ja so abwegig nicht, dass auch eine Krebsbehandlung durchaus hätte positiv verlaufen können.
Kaess: Schauen wir auf die Amtszeit von Hugo Chávez. Das wird als Zeitenwende interpretiert. Zu Recht?
Rinke: Ja, zu Recht. Zu Recht, und zwar deswegen zu Recht, weil die traditionelle Politik in Venezuela über Jahrzehnte hinweg praktisch in eine Sackgasse gelaufen war, zu einem Stillstand gekommen war, letztendlich nur noch ein Geschäft von Eliten war, die sich die Pfründe, die der Staat und vor allem die reiche Erdölwirtschaft hergaben, hin- und herschoben. Chávez war dagegen angetreten, mit einem durchaus hohen Maß an persönlicher Integrität, wenn man so will. Ich komme gleich noch auf die negativen Seiten zu sprechen.
Kaess: Da müssen wir drüber sprechen!
Rinke: Er hat sicherlich auch es geschafft, den breiten Massen in Venezuela eine Stimme zu geben. Er hat sich an sie gewandt, er hat das auch ernst genommen. Er hat mit seinen "Misiones" auch viele Sozialprogramme in Bewegung gesetzt. Aber er hat natürlich auch …
Kaess: Er hat auch gespalten.
Rinke: … gespalten, ganz genau. Letztendlich haben das ja auch die letzten Wahlen gezeigt: Er war zwar klar über den 50 Prozent und die Opposition hat das ja auch anerkannt, aber auf der anderen Seite ist eben auch fast die Hälfte Venezuelas doch sehr, sehr deutlich auch gegen ihn gewesen und gerade diejenigen, die aus Venezuela geflüchtet sind und ins Exil gegangen sind, jetzt in den USA leben. In Florida spricht man ja mittlerweile schon von den Exil-Venezolanern, die fast so stark seien, wie die Exil-Kubaner es mal waren. All dies sind natürlich Elemente, die darauf hinweisen, dass vieles in dem Land auch schief gelaufen ist, dass Chávez es nie gelungen ist, ein Integrationsfaktor zu sein, sondern dass er eben bestimmte soziale Schichten, die vorher völlig ausgegrenzt waren, die man von der Politik völlig hatte links liegen lassen, in dieses politische Geschäft hineingezogen hat. Da liegt seine Leistung, da liegen aber auch seine Grenzen.
Kaess: Herr Rinke, abschließend noch, denn wir haben nicht mehr so viel Zeit. Für viele westliche Politiker war Chávez ja lediglich ein Demagoge, der mit Ölgeld Länder destabilisiert hat. Auch eine berechtigte Sichtweise?
Rinke: Ja, das war er sicherlich auch. Gerade im außenpolitischen Sektor sind viele seiner Maßnahmen nur sehr schwer nachvollziehbar. Da war vieles eben auch praktisch eine Politik, die sich vor allem versucht hat, den Faktor, den immer noch sehr starken Faktor des Anti-Yankeeismus, also des Anti-US-Amerikanismus auszubeuten, da mit sozusagen Sympathien zu werben. Das hat er gezielt versucht, da hat er ja auch einige Erfolge erzielt bei ihm gleichgesinnten Präsidenten, wenn man an Bolivien, Nicaragua oder auch Ecuador denkt. Aber das war natürlich, wenn man so will, eine erratische Politik, da ist auch sehr viel Geld hineingeflossen, was man vielleicht sinnvoller in Venezuela hätte anwenden können, um die Armut, die drückende Armut im Land noch weiter zurückzuschrauben. Denn alle seine Maßnahmen - und das ist sicherlich auch Teil seines Erbes - waren letztendlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Er hat wie gesagt diese Stimmen in den Diskurs, den politischen Diskurs hineingebracht, die Stimmen der Armen, aber auf der anderen Seite ist es ihm nicht gelungen, einen Strukturwandel in Venezuela auf den Weg zu bringen.
Kaess: Herr Rinke, ganz kurze Einschätzung zum Schluss bitte: Was, glauben Sie, wird bei den Neuwahlen rauskommen?
Rinke: Na ja, der Maduro wird das gewinnen. Der wird auch von dem Mitleidseffekt profitieren. Und dann wird sich zeigen, ob er diesen Charismatiker wird ersetzen können. Nicht umsonst heißt es, spricht man ja von Chavismus, und ein Chavismus ohne Chávez ist nur schwer vorstellbar. Aber andererseits wird sich zeigen, ob der Nicolás Maduro vielleicht so ein ähnlich gelagertes Talent auch besitzt und ob es ihm gelingen wird, dann in dieser Form die Stimmen der Schwachen auf seine Seite zu bringen, und ob es ihm vor allem gelingt, seine Bewegung zusammenzuhalten, denn das ist auch nicht so ganz klar.
Kaess: Die Einschätzungen von Stefan Rinke vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Danke für das Gespräch heute Morgen.
Rinke: Sehr gerne.
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