"Palizzolo, ein Städtchen von siebentausend Einwohnern, mitten zwischen großen Latifundien gelegen, rühmte sich im Jahre 1901 zweier Marchesi, vierer Barone, eines Herzogs von 102 Jahren, der sein Schloss nicht mehr verließ, und eines Märtyrers im Kampf gegen die Bourbonen, Avvocato Ruggero Colapane, der wegen seiner Parteinahme für die Neapolitanische Republik öffentlich aufgeknüpft worden war. Doch der größte Stolz des Ortes waren die acht Kirchen, jede mit Glockenturm und so gewaltigen Glocken, dass ihr Geläute, wenn sie alle zusammen erklangen, für die Häuser einem mittleren Erdbeben gleichkamen."
So stellt Andrea Camilleri, der inzwischen siebenundachtzig Jahre alte sizilianische Schriftsteller und italienische Bestellerautor den Tatort der wüst-komischen Geschichte "Die Sekte der Engel" vor, die sich – wie er aus alten Zeitungen weiß – damals so ähnlich wirklich zugetragen hat, abzüglich all dessen, was er erfindungsreich hinzugedichtet hat. Die Adelsgesellschaft, samt einiger kooptierter sonstiger reicher Bürger und Akademiker muss in ihrem Verein mit Namen "Ehre und Familie" über den Antrag des Anwalts Matteo Teresi entscheiden, ins erlauchte Gremium aufgenommen zu werden – er fällt prompt durch, ist er doch ein Aufrührer, der in einem von ihm herausgegebenen Wochenblättchen Unruhe unters gemeine Volk bringt, dessen geringere Leute er zu verteidigen pflegt.
Doch der Verein hat noch ein anderes Problem: die verrammelten Palazzi zweier Mitglieder, zu denen gerade zwei Ärzte unterwegs sind, was prompt zu dem Gerücht führt, die Cholera sei erneut ausgebrochen. Die Herrschaften spannen die Kutschen an, um auf ihre Landsitze zu fliehen, als kurz darauf ein anderes Gerücht davon wissen will, die "Krankheit", die die herrschaftlichen Familien heimgesucht habe, bestünde darin, dass man ihre halbflüggen Töchter missbraucht habe, was naturgemäß, wäre es denn wahr, Ehre und Familie nachhaltig beschädigen würde.
Das zweite Gerücht entspricht einem Tatbestand. Es sind nicht nur zwei, sondern acht Minderjährige, die das Opfer Testosteron-geschwängerter Mannsbilder geworden sind, die jungen Damen sind alle im zweiten Monat schwanger. Es braucht den ganzen Scharfsinn des Anwalts Teresi und eines Capitano der Carabinieri, um den verzwickten Fall aufzuklären. Der Offizier ist nicht aus Palizzolo, sondern aus dem Savoyen und mit den sizilianischen Bräuchen wenig vertraut. Gerade darum kommt ans Tageslicht, was die andere Großmacht des Städtchens kompromittiert: die Heilige Mutter Kirche! Von den acht Pfarrern hätten sich sieben – einer war schon zu alt, die anderen aber in vollem Saft – an ihren frommen Beichtkindern monatelang unter der ebenso frommen Lüge vergangen, der Heilige Geist persönlich tue ihnen an, was die Kirche eigentlich unter Höllenstrafen verbiete und gesellschaftlicher Ächtung bestrafe, mehr noch, sie hätten bei einer Orgie auch ihre zarten Partnerinnen gewechselt, ausgerechnet in einem aufgelassenen Kloster. Das soll wahr sein? Es ist wahr!
Camilleri nimmt als bewährter "mangiaprete", also Pfaffenfresser, ein Erzählmotiv auf, das schon bei Boccaccio dezent anklang, seine volle Wirkung aber erst im Frankreich des 18. Jahrhunderts entfaltete, als pornografische Erzählungen und Stiche mit übeltuenden Priestern die Aufklärung einläuteten. Aufklärung will auch der Autor, verpackt in eine turbulente Geschichte, die im Original zusätzlichen Reiz durch Camilleris stilistische Hinterlist gewinnt, das Meiste auf sizilianisch zu schreiben, was die gute Übersetzerin Annette Kopetzki nur andeutungsweise wiedergeben kann, etwa durch Satzwiederholungen und die Anrede "Vossia", eine Abkürzung von "Euer Ehren", mit der die unteren Klassen die Notabeln bedenken.
Die schuldigen Priester werden erst einmal aus dem Verkehr gezogen, für den anstehenden Prozess Meineide verabredet, der Carabiniere unter Beförderung wieder in den Norden versetzt und Teresi durch probate Drohungen zur Auswanderung bis ins ferne Amerika gezwungen, der Anschein von "Ehre und Familie" gerettet.
Camilleri gelingt es, die Heuchelei der komischen der Figuren, die wirken, als seien sie bei einem literarischen Daumier abgekupfert, in einer spannenden Handlung mit zahlreichen Überraschungen zu entlarven, bis aufs Neue das friedliche der Glocken über Palizzolo klingt, Morde und Suizide sind rasch vergessen und die geschändeten Mädchen werden mit gehöriger Mitgift an arme Burschen verheiratet als Dank für deren falsche Aussagen.
Die Suche nach heute lebenden Personen muss vergeblich bleiben, nur Teresi ist eine historische Figur, die sogar ein Buch geschrieben hat, das 1925 einmal in Palermo erschienen ist und 2001 wieder gedruckt wurde, das merkt er im Nachwort an. "Die Sekte der Engel" ist Teil jener seit Jahren mit immer neuen Büchern fortgesetzten Lokalgeschichte Siziliens, die Camilleri neben seinen "Montalbano"-Krimis schreibt. Meist zwei im Jahr. Es ist aber auch der umwerfend komische und trostlose Roman über eine Region, in der sich allenfalls etwas ändert, damit sich nichts ändern muss, wie es schon Tomasi di Lampedusa in seinem "Leoparden" dekretierte. Dass die Italiener diese Bücher so lieben, darf man als eine Art von Genugtuung ansehen: Wir sind nicht wie die! Übrigens: Die "alte" Mafia kommt im Roman nur am Rande vor, der "neuen" von heute gehören viele der guten Hotels - in Mailand.
Andrea Camilleri: Die Sekte der Engel
Roman, Nagel & Kimche, Zürich 2013, 235 Seiten, gebunden, 18,50 €
So stellt Andrea Camilleri, der inzwischen siebenundachtzig Jahre alte sizilianische Schriftsteller und italienische Bestellerautor den Tatort der wüst-komischen Geschichte "Die Sekte der Engel" vor, die sich – wie er aus alten Zeitungen weiß – damals so ähnlich wirklich zugetragen hat, abzüglich all dessen, was er erfindungsreich hinzugedichtet hat. Die Adelsgesellschaft, samt einiger kooptierter sonstiger reicher Bürger und Akademiker muss in ihrem Verein mit Namen "Ehre und Familie" über den Antrag des Anwalts Matteo Teresi entscheiden, ins erlauchte Gremium aufgenommen zu werden – er fällt prompt durch, ist er doch ein Aufrührer, der in einem von ihm herausgegebenen Wochenblättchen Unruhe unters gemeine Volk bringt, dessen geringere Leute er zu verteidigen pflegt.
Doch der Verein hat noch ein anderes Problem: die verrammelten Palazzi zweier Mitglieder, zu denen gerade zwei Ärzte unterwegs sind, was prompt zu dem Gerücht führt, die Cholera sei erneut ausgebrochen. Die Herrschaften spannen die Kutschen an, um auf ihre Landsitze zu fliehen, als kurz darauf ein anderes Gerücht davon wissen will, die "Krankheit", die die herrschaftlichen Familien heimgesucht habe, bestünde darin, dass man ihre halbflüggen Töchter missbraucht habe, was naturgemäß, wäre es denn wahr, Ehre und Familie nachhaltig beschädigen würde.
Das zweite Gerücht entspricht einem Tatbestand. Es sind nicht nur zwei, sondern acht Minderjährige, die das Opfer Testosteron-geschwängerter Mannsbilder geworden sind, die jungen Damen sind alle im zweiten Monat schwanger. Es braucht den ganzen Scharfsinn des Anwalts Teresi und eines Capitano der Carabinieri, um den verzwickten Fall aufzuklären. Der Offizier ist nicht aus Palizzolo, sondern aus dem Savoyen und mit den sizilianischen Bräuchen wenig vertraut. Gerade darum kommt ans Tageslicht, was die andere Großmacht des Städtchens kompromittiert: die Heilige Mutter Kirche! Von den acht Pfarrern hätten sich sieben – einer war schon zu alt, die anderen aber in vollem Saft – an ihren frommen Beichtkindern monatelang unter der ebenso frommen Lüge vergangen, der Heilige Geist persönlich tue ihnen an, was die Kirche eigentlich unter Höllenstrafen verbiete und gesellschaftlicher Ächtung bestrafe, mehr noch, sie hätten bei einer Orgie auch ihre zarten Partnerinnen gewechselt, ausgerechnet in einem aufgelassenen Kloster. Das soll wahr sein? Es ist wahr!
Camilleri nimmt als bewährter "mangiaprete", also Pfaffenfresser, ein Erzählmotiv auf, das schon bei Boccaccio dezent anklang, seine volle Wirkung aber erst im Frankreich des 18. Jahrhunderts entfaltete, als pornografische Erzählungen und Stiche mit übeltuenden Priestern die Aufklärung einläuteten. Aufklärung will auch der Autor, verpackt in eine turbulente Geschichte, die im Original zusätzlichen Reiz durch Camilleris stilistische Hinterlist gewinnt, das Meiste auf sizilianisch zu schreiben, was die gute Übersetzerin Annette Kopetzki nur andeutungsweise wiedergeben kann, etwa durch Satzwiederholungen und die Anrede "Vossia", eine Abkürzung von "Euer Ehren", mit der die unteren Klassen die Notabeln bedenken.
Die schuldigen Priester werden erst einmal aus dem Verkehr gezogen, für den anstehenden Prozess Meineide verabredet, der Carabiniere unter Beförderung wieder in den Norden versetzt und Teresi durch probate Drohungen zur Auswanderung bis ins ferne Amerika gezwungen, der Anschein von "Ehre und Familie" gerettet.
Camilleri gelingt es, die Heuchelei der komischen der Figuren, die wirken, als seien sie bei einem literarischen Daumier abgekupfert, in einer spannenden Handlung mit zahlreichen Überraschungen zu entlarven, bis aufs Neue das friedliche der Glocken über Palizzolo klingt, Morde und Suizide sind rasch vergessen und die geschändeten Mädchen werden mit gehöriger Mitgift an arme Burschen verheiratet als Dank für deren falsche Aussagen.
Die Suche nach heute lebenden Personen muss vergeblich bleiben, nur Teresi ist eine historische Figur, die sogar ein Buch geschrieben hat, das 1925 einmal in Palermo erschienen ist und 2001 wieder gedruckt wurde, das merkt er im Nachwort an. "Die Sekte der Engel" ist Teil jener seit Jahren mit immer neuen Büchern fortgesetzten Lokalgeschichte Siziliens, die Camilleri neben seinen "Montalbano"-Krimis schreibt. Meist zwei im Jahr. Es ist aber auch der umwerfend komische und trostlose Roman über eine Region, in der sich allenfalls etwas ändert, damit sich nichts ändern muss, wie es schon Tomasi di Lampedusa in seinem "Leoparden" dekretierte. Dass die Italiener diese Bücher so lieben, darf man als eine Art von Genugtuung ansehen: Wir sind nicht wie die! Übrigens: Die "alte" Mafia kommt im Roman nur am Rande vor, der "neuen" von heute gehören viele der guten Hotels - in Mailand.
Andrea Camilleri: Die Sekte der Engel
Roman, Nagel & Kimche, Zürich 2013, 235 Seiten, gebunden, 18,50 €