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Jacques Stéphen Alexis: "Der Stern Wermut"
Ein endlich gehobener Schatz postkolonialer Literatur

60 Jahre nach der Ermordung des haitianischen Autors Jacques Stéphen Alexis erscheint das unvollendete Manuskript seines letzten Romans in deutscher Übersetzung. „Der Stern Wermut“ setzt dem rassistischen Imperialismus den magischen Realismus entgegen.

Von Cornelius Wüllenkemper |
Jacques Stéphen Alexis: "Der Stern Wermut"
Jacques Stéphen Alexis: "Der Stern Wermut" (Foto: Rechte vorbehalten; Buchcover: Litradukt Verlag)
Auch sechzig Jahre nach seinem Tod ist die Bewunderung für Jacques Stéphen Alexis in seiner Heimat und auch in Frankreich ungebrochen. James Noël und Néhémy Pierre-Dahomey sind nur zwei der haitianischen Gegenwartsautoren, deren preisgekrönte Romane Bezug auf Alexis’ literarisches Erbe nehmen.

Der 1922 in Haiti geborene Autor hatte in Paris als Neurologe gearbeitet, studiert und sich dort für revolutionäre Ideen begeistert. Zurück in seiner Heimat beklagte er in seinem „Brief an die alten Männer“ die postkolonialen Machtstrukturen und beteiligte sich maßgeblich an einem Aufstand. Haitis Regime fiel, dennoch musste Alexis das Land verlassen. Im Exil veröffentlichte er sein Debüt als Romanautor, „General Sonne“, über das erwachte politische Bewusstsein der haitianischen Arbeiter.

Ein würdiges Leben als Frau führen

Auf dem ersten „Internationalen Kongress der schwarzen Künstler und Autoren“ 1956 in Paris ließ er an seinem politisch-literarischen Anliegen keinen Zweifel.

„Wenn die Führungsriege in Haiti sich oft solidarisch gibt mit einem gewissen rassistischen Imperialismus und unser afrikanisches Kulturerbe ignoriert, dann müssen wir entgegnen, dass die Mehrheit unseres Volkes, und allen voran die Intellektuellen, ihre Eigenschaft als Dunkelhäutige und die Fortdauer des afrikanischen Kulturerbes für sich in Anspruch nehmen.“

Im Mittelpunkt seines vierten, jetzt posthum fragmentarisch veröffentlichten Romans steht die Ex-Prostituierte Églantine. Mit 26 Jahren will sie endlich ein selbstbestimmtes, würdiges Leben als Frau führen. Gemeinsam mit einer Mitstreiterin investiert Églantine in den Salzhandel und chartert ein Segelschiff, das sie zu den Salzquellen im Norden bringen soll.

Eine Sturmflut durchkreuzt den Weg in ein würdiges Leben

Ein tropisches Unwetter, das sich im purpurfarbenen Glanz am Himmel ankündigt, stellt das Unternehmen unter einen schlechten Stern.

„Das ist wohl der Teufel persönlich, der mit den Sternen Kieselwerfen spielt! Ach, Käpten! Samuel, ich schwöre Ihnen, Gott hat dieses Land satt! Die grands nègres treiben’s mit den armen Schluckern so bunt, dass eines Tages entweder der Himmel einstürzt oder aber die Erde in den Fluten versinkt, und zwar mit uns allen zusammen!... Meinen Sie nicht, Käpten Samuel, dass das, was wir hier gerade sehen, ein Vorzeichen ist, ein sicheres Zeichen für den Zorn Gottes?“

Dass die „grands nègres“, das kreolische Wort für Mächtige egal welcher Hautfarbe, den Zorn Gottes heraufbeschworen haben, werden Églantine und die Schiffsmannschaft auf einer apokalyptischen Überfahrt erleben. Alexis schildert die Begegnung mit den Naturgewalten als eine Sturmflut an Bildern, sinnlichen und übersinnlichen Assoziationen und Erregungen.

Alles ist Farbe, Wunder, Zeichen und überbordende Ornamentik

Der Seesturm wird zur grell strahlenden Metapher für ein Volk, das den Launen der Götter, der Natur und den politischen Machthabern hilflos ausgeliefert ist. Bei Alexis ist alles Farbe, Wunder, Zeichen und überbordende Ornamentik.

„Mit leerem Blick beobachtet Églantine diese sich wandelnde, wogende Kulisse. Dann sieht sie verdutzt der kranken Sonne dabei zu, wie sie vor dem gigantischen Wandteppich, auf dem sie die einzige Blume ist, zu glühen beginnt; sie verfolgt jedes einzelne Zucken des Blitzes, und wie dieser Muster in die virtuelle Leinwand stickt. Sie betrachtet das zunehmend aufgewühlte Meer, die wild umherlaufende Mannschaft, sieht die letzten Sterne schwinden, vernimmt den Gesang der Takelage und das tragische Gelächter der Vögel.“

Nicht der argumentative, trockene Realismus berühre die Seele seines Volkes, so betonte Alexis, sondern ein lebendiger Realismus, der sich mit der Magie des Universums verbinde und nicht nur den Geist anrege, sondern auch das Herz und das gesamte Nervensystem.

Eine herausfordernde Übersetzungsarbeit


Diese Form der literarischen Weltbetrachtung als Ausdruck einer eigenständigen postkolonialen Identität ist in „Der Stern Wermut“ in Reinform zu lesen. Das stellt hohe Ansprüche an die Übersetzung, die unter der Romanistin Rike Bolte zu teilweise fragwürdigen Verfremdungen und Auslassungen führt, dem mitreißenden Strom des Textes aber insgesamt gerecht wird. Églantine wird das rettende Ufer erreichen, wo funkelnde Salinen in der Aprilsonne auf eine bessere Zukunft hoffen lassen. Dass der Roman nach rund 100 dichten Seiten unvollendet abbricht, gehört zum bitteren Schicksal seines Autors. Bei seiner Rückkehr aus dem Exil nach Haiti wurde Jacques Stéphen Alexis 1961 von Schergen des Diktators François Duvalier getötet.
Jacques Stéphen Alexis: „Der Stern Wermut“
Aus dem Französischen von Rike Bolte
Litradukt Verlag, Trier.
132 Seiten, 12 Euro.