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Ein Europäer aus Lodz

Seinen 85. Geburtstag feierte Karl Dedecius in diesen Tagen. Der Übersetzer und Gründungsdirektor des Deutschen Polen-Instituts zu Darmstadt kann nun zurückblicken auf seine Lebensstationen, die stets eng hineingeflochten waren in die vielfältigen, dabei auch zwiespältigen Beziehungen, die es zwischen Deutschland, Polen und Russland nach dem Ersten Weltkrieg das gesamte 20. Jahrhundert hindurch gegeben hat: "Ein Europäer aus Lodz. Erinnerungen", heißt der lakonisch anmutende Titel der Dedecius-Memoiren, die Martin Sander für uns besprochen hat:

Von Martin Sander |
    Karl Dedecius gilt als Schlüsselfigur im Verhältnis zwischen Polen und Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, und das aus gutem Grund. Immerhin hat er rund einhundert Werke polnischer Autoren ins Deutsche übertragen. Dedecius hat aber nicht nur übersetzt, sondern vor allem ausgewählt und dadurch einen Kanon von Autoren geschaffen, der sich durchsetzte, nicht nur in Deutschland, sondern auch international. Früh erkannte er die Bedeutung von Czesław Miłosz und Wisława Szymborska, die später mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichet wurden. Das Übersetzen verstand der 1921 als Kind deutscher Eltern im polnischen Lodz geborene Dedecius stets auch als gesellschaftliches Engagement, als Dienst an der Völkerverständigung. Unermüdlich forderte er, wie hier bei der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1990:

    "Vorurteile durch Urteile ersetzen. Hüben wie drüben. Die Argumente beider Seiten anhören und ernst nehmen. Der übergeordnete Zweck aber ist, Rückfällen vorzubeugen. Das ist der Heilkunde Sinn und Zweck – auch der der Politik."
    Die Erinnerungen des 85jährigen Karl Dedecius, die nun bei Suhrkamp vorliegen, folgen der Chronologie des eigenen Lebens. Es ist dabei weniger die Dokumentation seiner unbestrittenen Erfolge als Mittler zwischen den Völkern, die dieses Buch zu einer spannenden Lektüre macht. Vielmehr liegt der Reiz vor allem dort, wo uns der Übersetzer im Rückblick erklärt, wie er zu seiner Rolle fand. Von zentraler Bedeutung erweist sich das besondere Klima seiner polnischen Geburtsstadt Lodz, dieser im 19. Jahrhundert unter russischer Vorherrschaft aus dem Boden gestampften Metropole der europäischen Textilindustrie. Lodz lockte Menschen aus aller Herren Länder an, darunter auch die Vorfahren von Karl Dedecius. Vater Gustav arbeitete als polnischer Kommunalbeamter bei der Lodzer "Sitte" und sprach neben Deutsch und Polnisch auch Russisch. Die Familie der Mutter kam ursprünglich aus Schwaben. In diesem Schmelztiegel war zwischen den Weltkriegen kaum etwas von jenen Gegensätzen zu spüren, die das Leben in den deutsch-polnischen Grenzgebieten so nachhaltig vergifteten.

    "Lodz war völlig anders. Lodz war auf Koexistenz und Toleranz aufgebaut, auf Mitarbeit, und das, was es in Schlesien oder in Pommern oder in Westpreußen gab, das gab es bei uns nicht."
    Nicht zuletzt deshalb, weil die deutsche Schule wegen des höheren Schulgelds nicht in Frage kam, besuchte Karl Dedecius das polnische Gymnasium. Dort wurde er mit den Werken des romantischen Nationaldichters Adam Mickiewicz ebenso bekannt wie mit den unkonventionellen Gedichten des Zeitgenossen Julian Tuwim. Die engen freundschaftlichen Beziehungen zu seinen vorwiegend polnischen Mitschülern und Nachbarn wurden erst mit dem deutschen Einmarsch in Lodz auf die Probe gestellt. Es sind die eindrucksvollsten Passagen des Buches, in denen Dedecius den Zusammenbruch einer scheinbar heilen Welt in der Vielvölkerstadt Lodz schildert und dabei bekennt, wie er und viele andere, Deutsche und Polen gleichermaßen, die politische Wirklichkeit ihrer Zeit verkannt hatten:

    Als in meiner Klasse, Mitte der dreißiger Jahre, einmal die Bedrohung Polens durch die Nachbarn diskutiert wurde und ein Klassenkamerad die Gefahr aus Deutschland ansprach, antwortete der Lehrer: Wenn Polen eine Gefahr drohe, dann vom Osten, von Russland, nicht von Deutschland her. Es war die Zeit, da deutsche und polnische Minister gemeinsam zur Jagd in den Urwald von Białowieża fuhren, Göring und der Außenminister Józef Beck zum Beispiel. Die polnischen Zeitungen berichteten ausführlich darüber.
    Karl Dedecius leistete erst polnischen, dann deutschen Arbeitsdienst. 1942 kam er als Soldat nach Stalingrad und geriet dort in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Während der Gefangenschaft begann er, russische Dichter ins Deutsche zu übertragen. Nach seiner Entlassung 1949 ließ er sich zunächst in Erfurt und Weimar nieder und war unter anderem als Oberassistent am deutschen Theaterinstitut tätig. 1952 verließ er mit seiner Familie die DDR aus politischen Gründen und ging in die Bundesrepublik. In beiden Teilen war Deutschland für den gebürtigen Lodzer gleichsam Neuland:

    Meine Familie war noch nie im "Reich" gewesen. Sie war zwar dem Glauben und der Tradition nach "deutsch", doch ihre Staatsangehörigkeit wechselte: Böhmen, Schwaben, Österreich, Preußen, Russland. Könige, Kaiser, Zaren, Präsidenten – das machte den Staat zweitrangig. Ein Paradox für sich, dass ich die "Heimat", die mich in den Krieg schickte, erst nach der Rückkehr aus russischer Gefangenschaft kennen lernen sollte.
    In der Bundesrepublik musste Karl Dedecius allen künstlerischen Neigungen zum Trotz sein Brot als Angestellter der Allianz-Versicherungen verdienen. Sein immenses übersetzerisches Werk, für das er zunächst mühsam die Aufmerksamkeit der Verlage erringen musste, entstand an Abenden und Wochenenden. Erst Ende der siebziger Jahre gelang es ihm, dank politischer Hilfe, in Darmstadt das Deutsche Poleninstitut zur Förderung der wechselseitigen Kulturbeziehungen ins Leben zu rufen.
    Wie Dedecius aus seinen Jahren als Leiter dieses Instituts berichtet, seine Aktivitäten für die deutsch-polnische Verständigung präsentiert, seine politischen und literarischen Freundschaften in Erinnerung ruft, das alles zählt allerdings nicht zu den besten Seiten dieses Buchs. Hier weicht die kritische Distanz zu häufig einer hagiographischen Selbstbetrachtung. Das mag verzeihlich sein angesichts der unbestrittenen Leistungen dieses großen Mittlers polnischer Kultur – und bleibt doch ein Manko in einem insgesamt lesenswerten Buch.

    Martin Sander rezensierte: Karl Dedecius: "Ein Europäer aus Lodz. Erinnerungen". Erschienen sind die 384 Seiten langen Memoiren bei Suhrkamp in Frankfurt am Main. Sie kosten 22 Euro 80.