Die Vorstellung ist schon erstaunlich: In Pantoffeln durch den Terror – wie soll das zusammenpassen? Pantoffel, die womöglich braun und schwarz karierten Symbole spießerhafter Weltfremdheit und Gemütlichkeit, - und dagegen die blutigen Jahre der Französischen Revolution.
Gestern, am 3. Juni, wurde ein Dekret erlassen, dass es nur noch eine Art von Todesstrafe geben wird: Man wird alle köpfen, ob arm oder reich und bei allen Verbrechen, auf die die Todesstrafe steht.
Von 1791 bis 1796 führte der brave Pantoffelbürger Célestin Guittard ein Tagebuch, während in Paris die Revolution die Straßen eroberte.
Heute, am 4., wurde ein Dekret erlassen, dass der König nicht mehr das Recht hat, bei Schuldigen Gnade walten zu lassen: Folglich werden der Fürst, der Adelige, der Reiche, der Arme dazu verurteilt, den Kopf abgeschlagen zu bekommen.
Welch ein Fortschritt im Verhältnis der Klassen zueinander! Früher wurden die einfachen Schichten ehrlos durch den Strang zu Tode befördert, während der Adel das Privileg hatte, enthauptet zu werden. Nun macht die Durchtrennung des Halses alle Delinquenten gleich. Wirklichkeit gewordene Egalité. Célestin Guittard hat diese neue Maßnahme der Regierung mit angemessener Billigung in sein Tagebuch notiert. Offenbar war er ein ganz normaler Bürger von Paris. Als das Tagebuch einsetzt, ist er ein nicht unvermögender Witwer von 67 Jahren, der von seinen Renteneinkünften lebt. Ihn treibt nichts mehr um, er hat Einkommen und Unterkunft, und also vertreibt er sich die Zeit mit seinem Tagebuch. Er schreibt über Öffentliches:
Heute erließ die Nationalversammlung ein Dekret, dass alle Zollschranken in allen Städten des Königreichs und in Paris abgeschafft hat. So werden die Generalsteuerpächter, die Zollwärter und Wachen im gesamten Königreich abgeschafft; endlich ist Frankreich jetzt frei und von allen Hemmnissen befreit. Was für ein Schlag gegen alle, die das Volk auspressen!
Und er schreibt über Privates:
Ich bin heute nicht ausgegangen. Ich habe mir die Füße gewaschen. Ich werde immer mehr von allerlei Zipperlein geplagt. Ich bin mit so großen Schwierigkeiten auf die Welt gekommen und werde auch so enden.
Er notiert die gelegentlichen Besuche seiner Geliebten gewissenhaft, aber in verschämten lateinischen Abkürzungen, und hält an jedem Tag das Wetter fest, so auch im Juli 1791:
17., Sonntag - Therm(ometer) 24. Ostwind, es gab ein Gewitter, donnerte und regnete und war danach schön.... Heute Morgen wurde an allen Kreuzungen das Kriegsrecht ausgerufen, und am Abend waren viele Menschen auf dem Marsfeld versammelt. Zwischen halb 8 und 8 Uhr erscheinen Infanterie- und Kavallerietruppen auf dem Marsfeld, im Laufschritt, schießen zuerst in die Luft als Signal für die Öffentlichkeit, sich zurückzuziehen. Da ich vom Marsfeld weggegangen war, als die Truppen eintrafen, und mich unter den Bäumen befand, die das Marsfeld umstehen, hörte ich plötzlich hinter mir eine Salve, und weiter unten kamen weitere Truppen. Aber danach wurde Ernst gemacht und ganze drei Minuten geschossen, und ich erfuhr von Leuten, dass viele Menschen tot oder verletzt seien.
Wir wissen nicht, was der Citoyen Guittard in seinen aktiven Jahren gemacht hat, aber es scheint, als habe er eine kaufmännische Tätigkeit ausgeübt. Dafür sprechen seine recht komfortable Rente, seine wirtschaftlichen Interessen auf der Karibikinsel Haiti, und vor allem die Art, wie er Tagebuch führt. Guittard sieht die Vorteile, die die Revolution Frankreich bringt. Als 1791 eine neue Verfassung erlassen wird, notiert er:
Alle Menschen sind voller Freude, denn das wird die Dinge beträchtlich verändern. Der 14. September ist einer der schönsten Tage für Frankreich und für den König: Das ist das Grab für alle Aristokraten. Kein Adel mehr, keine Parlamentsgerichtshöfe mehr, weder Mönche noch Nonnen noch Generalsteuerpächter.
Jedoch - er ist ein skeptischer Bürger, den zu viel Bewegung beunruhigt. Am Ende des Eintrags schreibt er nachdenklich:
Aber die Zeit ist ein großer Lehrmeister, der uns lehren wird, ob alles ehrlich gemeint ist und es wirklich allen gefällt.
Da befindet er sich noch im Jahr 1791 und hat nicht den Schatten einer Ahnung, was in Paris noch geschehen wird. Guittard versieht seine regelmäßigen Eintragungen hin und wieder mit Karikaturen, in denen er beispielsweise die Abfolge einer revolutionären Parade mit Strichmännchen und skizzierten Wagen dargestellt. Im Oktober 1793 zeichnet er nebeneinander sechs tischähnliche Gegenstände, auf denen Menschen liegen – die Guillotine ist in den Revolutionsalltag eingetreten.
Ein Jahr später, im Juli 1794, zeichnet er eine Guillotine auf einem erhöhten Schafott, und darunter eine lange Schlange von Strichmännchen, die vor dem, was der Henker Sanson das "Rasiermesser der Nation" nannte, anstehen. Der Terror der Revolution tobt. Wie darauf reagieren? Guittard behilft sich, indem er sprachlos seine Skizzen zeichnet und buchhalterische Listen führt, mit Zahlen und auch Namen, die wir uns hier ersparen:
Heute, am Nachmittag von Donnerstag, dem 24. April, wurden 35 Personen geköpft, darunter 14 Frauen - Heute wurden 7 Personen geköpft... Heute wurden 13 Personen von Rang geköpft,... - Heute am 8. Mai, wurden 28 Generalsteuerpächter geköpft...und sie wurden um viertel nach sechs hingerichtet. Das hat lediglich 24 Minuten gedauert. Ich habe gesehen, wie sie hingerichtet wurden. Sie waren auf 4 Wagen aufgeteilt, nicht traurig, außer einigen.
Auch Guittard bekommt es mit der Angst zu tun, erkundigt sich, ob etwas gegen ihn vorliege. Es liegt nichts vor. Guittard versucht unauffällig zu leben, pflegt seinen kränkelnden Körper, genießt seine gelegentliche Geliebte, schreibt die Verluste auf Haiti ab und schreibt und schreibt. 150 Jahre war das Tagebuch des Célestin Guittard vergessen, dann fand es Raymond Aubert im Archiv der Familie seiner Frau. Zum Glück erkannte der Geschäftsmann, Jurist und hochdekorierte Artillerie-Offizier die Bedeutung seines Fundes. 1974 erschien es in Frankreich.
Dass es nun auch bei uns veröffentlich wird, ist fantastisch. In Guittards Notizen eines am Rande stehenden Beobachters erscheinen uns die Ereignisse, die Weltgeschichte machten, als Geschehnisse auf Gassen und Plätzen, so, wie Millionen Menschen in Frankreich sie erlebt haben mit ihren Ängsten und Erwartungen.
Guittard ist ein Wendebürger. Er hat Hoffnungen, ist aber nicht engagiert. Wir sehen, wie er zunächst die Revolution begrüßt, wie er die revolutionären Maßnahmen billigt und wie er gelegentlich Unsicherheiten zeigt gegenüber den Zeitläufen und vor allem gegenüber dem Volk, wenn es unruhig wird. Die Vernunft ist sein Maßstab, sie gibt ihm das Vertrauen auf eine zukünftige Ordnung und Ruhe. Aber je weiter die Revolution voranschreitet, desto hysterischer und unvernünftiger wird die Welt. Doch Guittard hält stand – er verlässt Paris nicht, lässt Razzien und Hungersnöte über sich ergehen und die Angst vor Kriegen. Und er sieht, wie die Hoffnungen von 1789 allmählich untergehen. Und der Schrecken nimmt kein Ende – Mai 1796:
Gestern, am 10. Mai wurde eine große Verschwörung aufgedeckt, sie war gegen die Nationalversammlung gerichtet. Sie hatten vor, alle Mitglieder der obersten Behörden und den Generalstab der Nationalgarde umzubringen; dann die Verfassung von 1793 zu verkünden und danach die Geschäfte und die Werkstätten zu plündern und alle Welt umzubringen.
Und alle Welt umzubringen. Vier Tage später endet das Tagebuch des Célestin Guittard. Vielleicht hat er geahnt, dass es ihn überdauern wird, dass man es Jahrhunderte später gefesselt lesen wird.
Paul Stänner war das über eine der außergewöhnlichsten Neuerscheinungen der letzten Monate. "In Pantoffeln durch den Terror. Das Revolutionstagebuch des Pariser Bürgers Célestin Guittard". Dieses Buch mit 427 Seiten kostet 32 Euro und hat in der "Anderen Bibliothek" des Eichborn-Verlags ein passendes Zuhause gefunden (ISBN: 978 - 3821862224).
Gestern, am 3. Juni, wurde ein Dekret erlassen, dass es nur noch eine Art von Todesstrafe geben wird: Man wird alle köpfen, ob arm oder reich und bei allen Verbrechen, auf die die Todesstrafe steht.
Von 1791 bis 1796 führte der brave Pantoffelbürger Célestin Guittard ein Tagebuch, während in Paris die Revolution die Straßen eroberte.
Heute, am 4., wurde ein Dekret erlassen, dass der König nicht mehr das Recht hat, bei Schuldigen Gnade walten zu lassen: Folglich werden der Fürst, der Adelige, der Reiche, der Arme dazu verurteilt, den Kopf abgeschlagen zu bekommen.
Welch ein Fortschritt im Verhältnis der Klassen zueinander! Früher wurden die einfachen Schichten ehrlos durch den Strang zu Tode befördert, während der Adel das Privileg hatte, enthauptet zu werden. Nun macht die Durchtrennung des Halses alle Delinquenten gleich. Wirklichkeit gewordene Egalité. Célestin Guittard hat diese neue Maßnahme der Regierung mit angemessener Billigung in sein Tagebuch notiert. Offenbar war er ein ganz normaler Bürger von Paris. Als das Tagebuch einsetzt, ist er ein nicht unvermögender Witwer von 67 Jahren, der von seinen Renteneinkünften lebt. Ihn treibt nichts mehr um, er hat Einkommen und Unterkunft, und also vertreibt er sich die Zeit mit seinem Tagebuch. Er schreibt über Öffentliches:
Heute erließ die Nationalversammlung ein Dekret, dass alle Zollschranken in allen Städten des Königreichs und in Paris abgeschafft hat. So werden die Generalsteuerpächter, die Zollwärter und Wachen im gesamten Königreich abgeschafft; endlich ist Frankreich jetzt frei und von allen Hemmnissen befreit. Was für ein Schlag gegen alle, die das Volk auspressen!
Und er schreibt über Privates:
Ich bin heute nicht ausgegangen. Ich habe mir die Füße gewaschen. Ich werde immer mehr von allerlei Zipperlein geplagt. Ich bin mit so großen Schwierigkeiten auf die Welt gekommen und werde auch so enden.
Er notiert die gelegentlichen Besuche seiner Geliebten gewissenhaft, aber in verschämten lateinischen Abkürzungen, und hält an jedem Tag das Wetter fest, so auch im Juli 1791:
17., Sonntag - Therm(ometer) 24. Ostwind, es gab ein Gewitter, donnerte und regnete und war danach schön.... Heute Morgen wurde an allen Kreuzungen das Kriegsrecht ausgerufen, und am Abend waren viele Menschen auf dem Marsfeld versammelt. Zwischen halb 8 und 8 Uhr erscheinen Infanterie- und Kavallerietruppen auf dem Marsfeld, im Laufschritt, schießen zuerst in die Luft als Signal für die Öffentlichkeit, sich zurückzuziehen. Da ich vom Marsfeld weggegangen war, als die Truppen eintrafen, und mich unter den Bäumen befand, die das Marsfeld umstehen, hörte ich plötzlich hinter mir eine Salve, und weiter unten kamen weitere Truppen. Aber danach wurde Ernst gemacht und ganze drei Minuten geschossen, und ich erfuhr von Leuten, dass viele Menschen tot oder verletzt seien.
Wir wissen nicht, was der Citoyen Guittard in seinen aktiven Jahren gemacht hat, aber es scheint, als habe er eine kaufmännische Tätigkeit ausgeübt. Dafür sprechen seine recht komfortable Rente, seine wirtschaftlichen Interessen auf der Karibikinsel Haiti, und vor allem die Art, wie er Tagebuch führt. Guittard sieht die Vorteile, die die Revolution Frankreich bringt. Als 1791 eine neue Verfassung erlassen wird, notiert er:
Alle Menschen sind voller Freude, denn das wird die Dinge beträchtlich verändern. Der 14. September ist einer der schönsten Tage für Frankreich und für den König: Das ist das Grab für alle Aristokraten. Kein Adel mehr, keine Parlamentsgerichtshöfe mehr, weder Mönche noch Nonnen noch Generalsteuerpächter.
Jedoch - er ist ein skeptischer Bürger, den zu viel Bewegung beunruhigt. Am Ende des Eintrags schreibt er nachdenklich:
Aber die Zeit ist ein großer Lehrmeister, der uns lehren wird, ob alles ehrlich gemeint ist und es wirklich allen gefällt.
Da befindet er sich noch im Jahr 1791 und hat nicht den Schatten einer Ahnung, was in Paris noch geschehen wird. Guittard versieht seine regelmäßigen Eintragungen hin und wieder mit Karikaturen, in denen er beispielsweise die Abfolge einer revolutionären Parade mit Strichmännchen und skizzierten Wagen dargestellt. Im Oktober 1793 zeichnet er nebeneinander sechs tischähnliche Gegenstände, auf denen Menschen liegen – die Guillotine ist in den Revolutionsalltag eingetreten.
Ein Jahr später, im Juli 1794, zeichnet er eine Guillotine auf einem erhöhten Schafott, und darunter eine lange Schlange von Strichmännchen, die vor dem, was der Henker Sanson das "Rasiermesser der Nation" nannte, anstehen. Der Terror der Revolution tobt. Wie darauf reagieren? Guittard behilft sich, indem er sprachlos seine Skizzen zeichnet und buchhalterische Listen führt, mit Zahlen und auch Namen, die wir uns hier ersparen:
Heute, am Nachmittag von Donnerstag, dem 24. April, wurden 35 Personen geköpft, darunter 14 Frauen - Heute wurden 7 Personen geköpft... Heute wurden 13 Personen von Rang geköpft,... - Heute am 8. Mai, wurden 28 Generalsteuerpächter geköpft...und sie wurden um viertel nach sechs hingerichtet. Das hat lediglich 24 Minuten gedauert. Ich habe gesehen, wie sie hingerichtet wurden. Sie waren auf 4 Wagen aufgeteilt, nicht traurig, außer einigen.
Auch Guittard bekommt es mit der Angst zu tun, erkundigt sich, ob etwas gegen ihn vorliege. Es liegt nichts vor. Guittard versucht unauffällig zu leben, pflegt seinen kränkelnden Körper, genießt seine gelegentliche Geliebte, schreibt die Verluste auf Haiti ab und schreibt und schreibt. 150 Jahre war das Tagebuch des Célestin Guittard vergessen, dann fand es Raymond Aubert im Archiv der Familie seiner Frau. Zum Glück erkannte der Geschäftsmann, Jurist und hochdekorierte Artillerie-Offizier die Bedeutung seines Fundes. 1974 erschien es in Frankreich.
Dass es nun auch bei uns veröffentlich wird, ist fantastisch. In Guittards Notizen eines am Rande stehenden Beobachters erscheinen uns die Ereignisse, die Weltgeschichte machten, als Geschehnisse auf Gassen und Plätzen, so, wie Millionen Menschen in Frankreich sie erlebt haben mit ihren Ängsten und Erwartungen.
Guittard ist ein Wendebürger. Er hat Hoffnungen, ist aber nicht engagiert. Wir sehen, wie er zunächst die Revolution begrüßt, wie er die revolutionären Maßnahmen billigt und wie er gelegentlich Unsicherheiten zeigt gegenüber den Zeitläufen und vor allem gegenüber dem Volk, wenn es unruhig wird. Die Vernunft ist sein Maßstab, sie gibt ihm das Vertrauen auf eine zukünftige Ordnung und Ruhe. Aber je weiter die Revolution voranschreitet, desto hysterischer und unvernünftiger wird die Welt. Doch Guittard hält stand – er verlässt Paris nicht, lässt Razzien und Hungersnöte über sich ergehen und die Angst vor Kriegen. Und er sieht, wie die Hoffnungen von 1789 allmählich untergehen. Und der Schrecken nimmt kein Ende – Mai 1796:
Gestern, am 10. Mai wurde eine große Verschwörung aufgedeckt, sie war gegen die Nationalversammlung gerichtet. Sie hatten vor, alle Mitglieder der obersten Behörden und den Generalstab der Nationalgarde umzubringen; dann die Verfassung von 1793 zu verkünden und danach die Geschäfte und die Werkstätten zu plündern und alle Welt umzubringen.
Und alle Welt umzubringen. Vier Tage später endet das Tagebuch des Célestin Guittard. Vielleicht hat er geahnt, dass es ihn überdauern wird, dass man es Jahrhunderte später gefesselt lesen wird.
Paul Stänner war das über eine der außergewöhnlichsten Neuerscheinungen der letzten Monate. "In Pantoffeln durch den Terror. Das Revolutionstagebuch des Pariser Bürgers Célestin Guittard". Dieses Buch mit 427 Seiten kostet 32 Euro und hat in der "Anderen Bibliothek" des Eichborn-Verlags ein passendes Zuhause gefunden (ISBN: 978 - 3821862224).