"Wie alle Menschen hatte auch er während seines Lebens Vorstellungen und Träume in sich getragen. Manches davon hatte er sich selbst erfüllt, manches war ihm geschenkt worden. Vieles war unerreichbar geblieben oder war ihm, kaum erreicht, wieder aus den Händen gerissen worden. Aber er war immer noch da. Und wenn er in den Tagen nach der ersten Schneeschmelze morgens über die taunasse Wiese vor seiner Hütte ging und sich auf einen der verstreuten Flachfelsen legte, in seinem Rücken den kühlen Stein und im Gesicht die ersten warmen Sonnenstrahlen, dann hatte er das Gefühl, dass vieles doch gar nicht so schlecht gelaufen war."
Protagonist Egger ist physisch und psychisch stark
Darf man sich Andreas Egger wie Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen? Wohl eher nicht. Aber vergeblich ist vieles in seinem für heutige Zeitgenossen unvorstellbar harten Leben. Geboren am Anfang des vorigen Jahrhunderts, wird das uneheliche Kind, nach dem Tod seiner Mutter, von Wien zu einem entfernten Verwandten in die tiefste Provinz geschickt. Der Bauer Kranzstocker schindet ihn nicht nur als Knecht, er schlägt ihn auch zum Krüppel. Trotzdem wird Egger physisch und psychisch stark und wehrt sich, sobald er dazu in der Lage ist. Als Fatalisten kann man ihn, bei aller den Umständen geschuldeter Schicksalsergebenheit, also nicht bezeichnen.
"Dann würd er nicht so kämpfen, so wie er das tut. Er kämpft ja, ums Überleben, für seine Liebe, um sein eigenes persönliches Glück, und das würd ich jedem Menschen unterstellen. So einen Fatalismus, in dieser Form, gibt es gar nicht. Menschen, die sich mit allem abfinden. Vielleicht lassen sie dann irgendwann mal los. Aber der Andreas Egger ist in dem Sinn kein Fatalist, sondern er nimmt das Leben wie es ist, das heißt aber nicht, dass er es kampflos nimmt, sondern er versucht schon sein Glück zu erstrampeln oder sich für seine Dinge einzusetzen, wenn es nicht klappt, nimmt er das auch, er nimmt es mit der ganzen Trauer, mit der Härte, die ihm da widerfährt, aber er nimmts. Und das ist meines Erachtens nicht Fatalismus."
Seethaler ist selbst eher öffentlichkeitsscheu
Andreas Egger baut sich eine Hütte und fristet sein genügsames und einsames Leben als Bergbauer, bis ihn so plötzlich wie unerwartet die Liebe trifft. Marie, die Kellnerin aus dem Gasthaus "Zum goldenen Gamser" und er sind wie geschaffen füreinander. Oft finden sie sich in der so beindruckenden, wie bedrohlichen Gebirgswelt im Schweigen. Nicht von ungefähr ist der wortkarge Finne Kaurismäki der Lieblings-Regisseur des mit dem Grimmepreis ausgezeichneten Drehbuch-Schreibers, zeitweiligen Schauspielers und im Moment hauptberuflichen Schriftstellers Robert Seethaler, der sich selbst als eher öffentlichkeitsscheuen Menschen sieht. Besonders ungern beantwortet er die Frage nach seinen Einfällen.
"Meistens hab ich ja keine Ideen, wo irgendwas herkommt, ich kann immer nur in mich hineinhorchen, wo in mir was auftaucht, nicht außerhalb, sondern wo sitzt die Idee oder die Figur gerade in mir. Klar, autobiografisch ist im Grunde fast nix und trotzdem kann man ja immer nur von sich selbst erzählen. Einfühlen in die Figuren, heißt für mich, ein achtsamer Umgang mit dem, was mit mir selbst passiert, in mir, was taucht in mir auf, wenn ich mich dieser Figur widme, wenn ich da im Eck sitz und über die Figur oder den Menschen oder die Geschichte nachdenk, was taucht in mir auf und da versuch ich möglichst tief oder möglichst innig, nachzufühlen. Das ist alles."
Ein Leben, das aus der Zeit gefallen ist
Aufgetaucht vor dem inneren Auge Seethalers ist Andreas Egger, dessen Leidensfähigkeit unbegrenzt zu sein scheint, obwohl er das Leid nicht sucht. Marie und ihr ungeborenes Kind werden ihm durch eine Lawine genommen. Weil es irgendwie weitergehen muss, arbeitet er schwindelfrei zwischen Himmel und Erde beim Seilbahnbau und ist stolz als kleines Rädchen zum Fortschritt beitragen zu können. Später wird ihm der rücksichtslose Einbruch der Moderne in die Natur, die von ihm nicht romantisiert, aber erlebt wird, auf die Nerven gehen. Geschwätzige Touristen bewandern die früher so gewaltig einsamen Berge, Skifahrer stürzen sich die Pisten hinunter. Trotzdem betätigt sich Egger, so lange sein kaputtes Bein das zulässt, noch eine Weile als Bergführer. Dann ist er froh, dass auch das vorbei ist. Raus aus dem Tal kommt er nur als Seilbahnarbeiter, als Soldat, der viele Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft verbringt und als alter, schon etwas verwirrter Mann, der einmal in den Bus steigt und froh ist, dass ihn der Chauffeur wieder gut in sein Dorf zurückbringt. Ein ganzes Leben, das aus der aus der Zeit gefallen ist?
"Ja, wenn eine Figur aus der Zeit gefallen scheint, dann hat er nicht nur mit mir, sondern mit allen Menschen zu tun. Das macht ja das aus der Zeit fallen aus. Aus der Zeit fallen, heißt ja auch, in allen Zeiten sein. Mich interessiert ja auch nicht der Zeitgeist, sondern das Gegenteil, die archaische Figur oder die archaische Geschichte, die immer möglich sein muss oder immer in gewisser Weise stimmig ist und das ist eben der Andreas Egger hoffentlich."
Verstörende aber auch tröstliche Erscheinung
Anders als der gläubige Johann Sebastian Bach, der sich auf seinen Tod gefreut hat, erwartet Andreas Egger seinen Abschied freudlos aber mit Ruhe. Loslassen hat er gelernt. Am Anfang der Geschichte versucht er den sterbenden Ziegenhirten, Hörnerhannes ins Tal zu bringen. Bevor ihm der von der Schaufel springt, weil er lieber oben am Berg sterben will, sagt er noch, dass der Tod eine "Kalte Frau" sei. Gegen Ende der Geschichte wird der Hörnerhannes gut konserviert aus dem Eis geborgen. Und Andreas Egger erscheint die "Kalte Frau", die ihn an seine Liebe Marie erinnert. Eine verstörende aber auch tröstliche Erscheinung.
"Im Gegensatz zu dieser harten Bergwelt steht eben diese weiche, fast unsichtbare Frau, die sich durch die Berge bewegt, für mich als Symbol des Todes, als nicht nur schreckliches, zwar furchterregend einerseits, aber auch was Weiches Erlösendes."
Im Horizont seiner Figuren
Man kann jede Geschichte nacherzählen, also auch diese, aber man wird DIESER Geschichte nicht damit gerecht. Nacherzählt ist es eine Geschichte unter anderen, gelesen ist es "ein ganzes Leben." Seethaler schreibt mit großer Empathiefähigkeit immer im Horizont seiner Figuren und ihrer Umwelt. Die Atmosphäre ist dicht, die Töne sind stimmig, jedes Wort sitzt.
"Nix war da. Es gibt nichts, was einfach schon so da ist in irgendeiner geheimen Anlage. Ich komm doch aus einer Arbeiterfamilie in Wien und die Sprache wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Ich musste mir das von Anfang an sehr, sehr hart erarbeiten und auch heute ist es noch so, dass ich hier im Eck sitze und mir jedes einzelne Wort zurecht schnitzen oder zurecht raspeln muss. Es ist so, als wär da der große Holzblock meiner Seele, aus denen ich dann die einzelnen Worte, Sätze, kleine Sequenzen richtig rausschnitzen muss, Stück für Stück, das ist harte Arbeit."
Autobiografisch und doch literarisch verwandelt
Seethalers Aufnahmefähigkeit korrespondiert mit seiner Einbildungskraft. Die auch etwas mit seiner eigenen Geschichte zu tun hat. Insofern ist wirklich alles autobiografisch und doch literarisch verwandelt.
"Wenn ich mich irgendwo zur Ruhe setze, tauchen Bilder auf. Und das einzige was ich mach, ist, dass ich versuche, Worte für diese Bilder zu finden. Ich denk mir keine Geschichten aus, finde keine Strukturen, bin dramaturgisch nicht unbedingt auf der Höhe, aber ich sehe Bilder. Und diese Bilder versuch ich möglichst genau aufzuschreiben. Und seit wann das so ist, kann ich nicht genau sagen, ich sehe sehr schlecht, war auf der Sehbehindertenvolkschule in Wien und daher ist das Bilderthema mein Lebensthema."
Robert Seethaler: Ein ganzes Leben (Hanser Berlin), 155 Seiten.