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Ein gepflegter Mann mit Vergangenheit

Für seinen Jahrhundertroman "Waltenberg" ist Hédi Kaddour 2010 bei uns hochgelobt worden. Jetzt liegt sein zweiter Roman "Savoir-vivre" vor, der das Geheimnis eines englischen Kriegsveteranen im London des Jahres 1930 lüftet.

Von Christoph Vormweg |
    128 Kapitel auf gut 200 Seiten. Das erstaunt bei einem Schriftsteller, der zuvor mit einem Mammutroman auf sich aufmerksam gemacht hat. Doch hat das Kleinteilige System. "Savoir-vivre" - gemeint ist das Regelwerk des guten Benehmens – war als eine Art Feuilletonroman geplant. Hédi Kaddour wollte die Geschichte von William Strether, einem englischen Helden des Ersten Weltkriegs, in sein Tagebuch des Jahres 2008 einflechten. Doch das hätte das Projekt vom Umfang her gesprengt. So erschien das Tagebuch getrennt aber gleichzeitig mit dem Roman bei Gallimard. Grundlage von "Savoir-vivre" ist eine wahre Begebenheit, die 1930 in England publik wurde.

    "Gefunden habe ich die Meldung in der britischen Presse, als ich an meinem Roman 'Waltenberg' arbeitete: 2001 oder 2002 während meiner Recherchen in der British Library. Ich habe versucht, die Geschichte in 'Waltenberg' einzubauen. Aber sie hatte zu viel Eigengewicht, sie nahm zu viel Platz ein. Deshalb habe ich sie zurückgezogen und zur Seite gelegt. Aber ich habe nie daran gedacht, sie aufzugeben. Das lag vor allem an der Wucht dieser Geschichte. Wenn Sie sich bei einer Zeitungsmeldung sagen können: 'das ist nicht möglich' und gleichzeitig: 'so was kann man nicht erfinden', wenn also zwei so widersprüchliche Aspekte zusammentreffen, dann sind Sie sicher, dass Sie – wie ein Goldgräber – einen Klumpen Gold in der Hand halten."

    Nun kommt "der Klumpen Gold" also "solo" daher. Was ihm mehr als gerecht wird. Nicht nur die ungewöhnliche Geschichte des William Strether verdient die volle Lesekonzentration, sondern auch Hédi Kaddours kunstvolle, stilistisch versierte Umsetzung des Stoffs. Wir schreiben das Jahr 1930. Max, der französische Journalist, den wir bereits aus dem Roman "Waltenberg" kennen, ist in London auf der Suche nach einer "starken Geschichte". Regelmäßig trifft er seine alte Liebe, die amerikanische Sängerin Lena Hellström. Doch mehr als plaudern und flanieren ist nicht drin. Denn die erotomanische 35-Jährige hat eine Affäre mit einem 20-jährigen Pianisten, mit dem sie gerade Schumann-Lieder probt. Auf einem ihrer Spaziergänge treffen sie auf ein Defilee englischer Veteranen des Ersten Weltkriegs. Beim Anblick von Oberst William Strether, der bei der berüchtigten Schlacht von Mons dabei war, spürt Max sofort: "Der hat was!" Also nimmt er Kontakt auf. Der hochdekorierte Offizier arbeitet, weil ihn die Armee nicht mehr braucht, als "Maître d'hôtel" im Regent's, einem Luxusrestaurant. Er ist die ideale Verkörperung des "Savoir-vivre". Mit anderen Worten: Er ist unnahbar, er beherrscht die gepflegte Konversation aus dem Effeff. Also zieht Max - trotz seiner manischen Eifersucht - Lena zu den abendlichen Gesprächen hinzu, um William Strether aufzutauen.

    "Da ist 'savoir-vivre' einmal im Sinne des Etiketts, im Sinne des sozialen Verhaltenskodex, der übrigens sehr rigide sein kann und im Grunde von den Engländern erfunden wurde. Zugleich aber erzähle ich eine Geschichte, die sich jenseits des 'savoir-vivre' bewegt. Denn für viele Leute ging es im England der 1920er-Jahre ums nackte Überleben. Es ging darum, wie man sich sein Leben neu erfindet. Denn das Land steckte in einer Krise, und manche sozialen Gruppen hatten mehr Schwierigkeiten als andere."

    Trotz seiner guten Stellung als "Maître d'hôtel" öffnet sich über Strether der Blick auf das ganze Ausmaß der sozialen Schieflagen während der Weltwirtschaftskrise. Gerade deshalb, weil er – wie Max herausfindet - mit rechtsextremen Ideen sympathisiert. In einer der faschistischen Gruppierungen, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in England Zulauf haben, wird er als Kriegsheld zur willkommenen Identifikationsfigur für frustrierte, orientierungslose Jugendliche. Max hat also seine "starke Geschichte". Über Strether will er das Massenphänomen des aufkommenden Faschismus individuell durchschaubar machen. Was er nicht ahnt: Seine "starke Geschichte" nimmt Ausmaße an, die sogar seinen journalistischen Sachverstand in Frage stellen.
    Wie schon in seinem Roman "Waltenberg" besticht Hédi Kaddour in "Savoir-vivre" mit einer komplex verwobenen, erzählerisch höchst dynamischen Romankomposition. Er versteht es, den Leser von der ersten Seite an zu fesseln: mit psychologischem Feingefühl genauso wie mit stilistischen Finessen und verdecktem ironischen Augenzwinkern. Souverän wechselt er zwischen elegant aufgefächerten Perioden und knappen, lakonischen Beschreibungen, zwischen personaler Erzählperspektive und innerem Monolog. Doch verliert der pensionierte Literaturprofessor der französischen Elitehochschule "École normale supérieure" bei allen stilistischen Spitzfindigkeiten nie das Wesentliche aus dem Blick: den Leser.

    "Ich erzähle gern Geschichten. Meinen Studenten im Fach Journalismus und in der Schreibwerkstatt sage ich immer: Wir füllen die Seiten mit geschriebener Sprache. Doch sollten wir uns immer vorstellen, wir wären in einem Café unter Freunden und wollten unbedingt eine Geschichte erzählen, die die anderen fesselt. Denn wenn wir unsere Zuhörer nicht zu interessieren vermögen, wird ein anderer dazwischen gehen und anfangen, seine eigene Geschichte zu erzählen, die interessanter ist. Das heißt, man muss wirklich in der Lage sein, das Interesse an dem, was man schreibt, zu produzieren. Denn kein Publikum ist gefangen. Man muss es immer suchen: mit Qualität und mit dem, was die Engländer 'grip' - also Haftung - nennen. Das darf man nie vergessen."
    Eine ganze, wirklich eine ganze Dimension von "Savoir-vivre" - mehr als die Hälfte des Romans - muss an dieser Stelle verschwiegen werden. Denn wer die zutiefst überraschende Kehrwendung des Plots verrät, zerstört den Lesegenuss an diesem kleinen, feinen, höchst abgründigen Meisterwerk mit all seinen schwelenden erotischen Spannungen. Das erlaubt mir, zum Schluss auf eine ungewöhnliche Zusammenarbeit zu verweisen, ohne die fremdsprachige Literatur nicht ankommt: die Zusammenarbeit zwischen Hédi Kaddour und seiner Übersetzerin Grete Osterwald. Für ihre Übertragung seines Mammutromans "Waltenberg" ist sie nicht von ungefähr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden. Doch gebührt ein Teil des Danks auch dem Eichborn Verlag, der eigens Arbeitstreffen finanzierte:

    "Ich arbeite sehr gerne mit ihr, weil sie nicht nur Übersetzerin ist, sondern auch Lektorin und Revisorin. Sie hat einen bemerkenswerten Sinn für den Rhythmus und vertritt zugleich die hohen Ansprüche der traditionellen deutschen Philologie. Für 'Waltenberg' wie für 'Savoir-vivre' haben wir uns mehrmals für eine Woche getroffen und zusammengearbeitet. Wir setzen uns dann an einen Tisch wie diesen - Grete mit dem deutschen Text und ich, ihr gegenüber, mit dem deutschen und dem französischen Text. Und dann lesen wir uns die ganze Übersetzung laut vor. Wir korrigieren mit Augen und Ohren. Das sind absolut köstliche Stunden. Ich liebe diese Arbeit - und Grete verabscheut sie, glaube ich, auch nicht. Sie weiß, dass ich ein fundamentales Prinzip befolge: Der Übersetzer hat den 'Final Cut', das letzte Wort."

    Hédi Kaddour: "Savoir-vivre". Roman.
    Aus dem Französischen von Grete Osterwald.
    Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2011.
    219 Seiten, 18,95 Euro.