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Ein Greis vor Gericht

Es geht um Beihilfe zum 28.000-fachen Mord. Und es geht um Verantwortung. Verantwortung für Verbrechen, die bis heute nachwirken. In Kürze wird im Münchner Prozess gegen den ukrainischen KZ-Aufseher und SS-Helfer John Demjanjuk das Urteil erwartet.

Von Rainer Volk |
    München, Justizzentrum vor einigen Monaten. Nach ein paar Sekunden bereits wird es vor dem Gerichtssaal, in dem gegen John Demjanjuk verhandelt wird, ruhig. Das gute Dutzend Neugieriger und die Handvoll Journalisten, die auf den Zuhörerbänken sitzen, zerstreuen sich binnen Kurzem. Kein Vergleich mehr zu dem Gedränge beim Auftakt dieses Prozesses Ende November 2009.

    Anfangs war dieses Verfahren gegen den mutmaßlichen SS-Hilfswilligen ein Weltereignis, mit 300 akkreditierten Journalisten und Kameraleuten. Auch weil der in der Ukraine geborene Demjanjuk bereits in den 80er-Jahren in Israel wegen angeblicher Beteiligung an Gräueltaten in Treblinka zum Tode verurteilt und erst in zweiter Instanz freigesprochen worden war. Nun, in München, geht es um Beihilfe zum Mord in knapp 28-tausend Fällen in Sobibor, einem anderen rein zur Massenvernichtung errichteten Lager im heutigen Ostpolen.

    Dieser erste Prozesstag ist ein Spektakel – hektisch, anstrengend, aber juristisch ohne Ertrag. Denn schon nach fünf Minuten verliest die Verteidigung den ersten Befangenheitsantrag gegen das Landgericht. Der Kollege Tim Aßmann, der beschlossen hat, für die Prozessdauer ein Tagebuch zu führen, hält die Begründung fest:

    "Zahlreiche deutsche Sobibor-Täter seien in Prozessen freigesprochen worden; Trawniki seien gleichzusetzen mit Juden, die im Arbeitseinsatz im KZ tätig waren. Es gebe deutsche Ermittlungen gegen Demjanjuk seit 1983, sie seien 2003 eingestellt worden ohne hinreichenden Tatverdacht. Zitat Ulrich Busch: 'Wer die Vergangenheit bewältigen will, muss die Verantwortung der eigenen Landsleute aufklären'."

    "Trawniki" ist einer der Begriffe, die von nun an bei jedem Prozesstermin auftauchen. Er bezeichnet die fremdländischen Hilfswilligen der SS in den KZ, fast ausschließlich kriegsgefangene Soldaten der Sowjetarmee. Trawniki – nach einem Ort bei Lublin, in dem die Truppe ihr Ausbildungslager hatte. Der Anwalt von Demjanjuk, Ulrich Busch, sagt von Tag Eins an, falls sein Mandant Trawniki gewesen sei, sei er als Opfer und nicht als Täter anzusehen:

    "Wenn man Trawniki wurde, wurde man das ausschließlich deshalb, weil man sonst dem Hungertod in Kriegsgefangenenlagern ausgeliefert gewesen wäre. Man hatte also überhaupt keine Wahl Trawniki zu werden oder nicht, es ging schlicht um die Wahl - weiterleben oder Tod."

    Der Jurist aus Ratingen am Niederrhein, der wegen der ukrainischen Wurzeln seiner Frau das Mandat übertragen bekam, fährt indes mehrgleisig. So sagt er ebenfalls, John Demjanjuk sei den ganzen Krieg über nie in Sobibor gewesen, habe auch nie als Trawniki gedient.

    Dieses Spiel verwirrt manche Zuhörer, beherrscht jedoch nicht das Geschehen im Gerichtssaal. Vielmehr gibt es gleich zu Beginn Tage, an denen jedem Zuhörer klar wird, dass es im Demjanjuk-Prozess nicht um längst vergangene Taten geht, sondern um Gräuel, die bis heute nachwirken. Vor allem als die Nebenkläger – fast alle sind Nachkommen von in Sobibor ermordeten niederländischen Juden – vor Gericht auftreten, herrscht Stille im Saal, gibt es Tränen im Publikum. Etwa als der 70-jährige Rudolf Cortissos aus einem Brief zitiert, den seine ahnungslose Mutter aus dem nach Sobibor fahrenden Zug schmuggeln konnte:

    "Wir sind fertig, um mit 2500 Leuten im Zug Richtung Osten zu gehen. Und ich hoffe, Lou – das ist mein Vater – und das Kind – das war ich – schnell wieder zu sehen. Vergesse nicht, meine Schwester zu gratulieren zum Geburtstag. Und - auf Wiedersehen, bis bald."

    "4. Verhandlungstag, Montag, 21.Dezember 2009. Nach der Mittagspause wird ein Krankenbett im Gerichtssaal zusammengebaut und aufgestellt. Demjanjuk hatte über Rückenschmerzen geklagt. Er wirkt abwesend. Ob er schläft, ist nicht feststellbar, weil er die Mütze tief ins Gesicht gezogen hat. Die Prozessbeteiligten kümmern sich aber auch nicht weiter darum. Die Dolmetscherin übersetzt stoisch."

    Der Gesundheitszustand von John Demjanjuk – er ist bei Prozessbeginn 89 Jahre alt – ist ein Dauerthema in diesem Prozess. Stets sitzt ein Arzt mit im Saal, um seine Verhandlungsfähigkeit einschätzen zu können. Scheinbar teilnahmslos liegt der Greis in einem Bett neben dem Richtertisch, meist eine Baseballmütze tief im Gesicht. Manche Nebenkläger werten dies als Missachtung; das Gericht verbietet dem Angeklagten aber nur, dem Publikum den Rücken zuzudrehen. Überhaupt sind die Richter zunächst milde. Der Vorsitzende der Kammer, Ralph Alt, ist ein bedächtiger, hagerer Mann Anfang 60, der als Hobby Schachspielen angibt. Er gewährt Verteidiger Busch anfangs viel Freiraum, lässt ihn ausschweifend fragen und seine Verfahrensanträge umfassend begründen. So sind es in den ersten Monaten dieses Prozesses andere, die dem Anwalt Paroli bieten – zum Beispiel Thomas Walther.

    Der ehemalige Ermittler der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg hat das Verfahren gegen Demjanjuk ins Rollen gebracht und sich auch eine Rechtstheorie zurechtgelegt, nach der eine Bestrafung des Angeklagten möglich wäre:

    "Dieser Gedanke war noch gar nicht gedacht. Die industrielle Tötung von Menschen in einer Tötungsfabrik, da ist die Fabrik, die Tötungsfabrik als solche bereits die Tat an sich. In dem Moment, in dem ich in dieser Fabrik meine Arbeit tue, nehme ich teil an der Produktion des Endproduktes Asche - Asche aus Mensch – und das ist dann die Tat."

    Thomas Walther lässt Busch souverän abblitzen, als er als Zeuge aufgerufen und von diesem in die Mangel genommen wird. Alle Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Ermittlungen weist er zurück, ebenso Fragen, weshalb er das wichtigste Beweisstück der Anklage, den Trawniki-Dienstausweis von Demjanjuk, nicht im Vorermittlungsstadium auf seine Echtheit hat prüfen lassen:

    "Der Dienstausweis ist einer der in der Rechtsgeschichte sicherlich am häufigsten in dieser Welt untersuchte Gegenstände überhaupt. Und für mich war es ausreichend, dass die Ergebnisse, die mir zur Kenntnis gelangt sind, die Echtheit bestätigten. Gutachten dazu zu erstatten und in Auftrag zu geben, das ist dann Sache der Ermittlungsbehörde – der Staatsanwaltschaft."

    Andere Zeugen und Sachverständige, die in den Wochen danach in München auftreten, werden von Verteidiger Busch ähnlich ausschweifend befragt wie Walther – vor allem der Experte des bayerischen Landeskriminalamts, der im März 2010 die Echtheit des Ausweises bestätigt. Seine Begründung: Das Dokument enthalte so viele Besonderheiten, dass es in seiner Gesamtheit kaum gefälscht sein könne. Bei diesen langen Kreuzverhören ist zu merken: Der Verteidiger ist keineswegs auf sich allein gestellt. Auf Nachfrage gibt Ulrich Busch das auch zu:

    "In Amerika besteht ein Team von insgesamt vier Personen: Das ist der Sohn, der Schwiegersohn und beide Verteidiger von Herrn Demjanjuk in Amerika. Sie wissen natürlich sehr viel durch die amerikanischen Verfahren. Es hat ja in Amerika 30 bis 40 Prozessverfahren gegeben. Das heißt: Die sind voll "im Stoff"."

    Die alten Gutachten aus den USA und aus Israel will Busch am liebsten alle zu den Münchner Prozessakten nehmen lassen, um die Expertenmeinungen gegeneinanderstellen zu können; nach dem Motto: "Im Zweifel für den Angeklagten". Doch vor Gericht scheitert er mit seinem Ansinnen, weshalb seine Fragen von Woche zu Woche gewundener und länger werden. Das zehrt zunehmend an den Nerven der anderen Prozessbeteiligten. So sagt der Kölner Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler, der die Mehrzahl der niederländischen Nebenkläger vertritt nach dem Dienstausweis-Gutachten:

    "Wenn die Verteidigung auf diese unkonzentrierte Art und Weise immer wieder dieselben Themen zum falschen Zeitpunkt immer wieder thematisiert, wie sie es in diesen Monaten getan hat, wird dieser Prozess so lange dauern, bis Herr Demjanjuk wahrscheinlich nicht mehr leben wird. Das ist meine pessimistische Prognose im Augenblick."

    Zumindest muss das Gericht zum ersten Mal weitere Prozesstermine ansetzen – erst bis zum Sommer 2010, dann bis in den Herbst. Ob Ulrich Busch das als Erfolg für seinen Mandanten ansieht, verrät er nicht. Offen freuen kann er sich auf jeden Fall Ende April über den Auftritt eines ehemaligen Richters in München: Der 65-jährige Hans-Robert Richthof war in den 80er-Jahren in Hagen beteiligt an einem Verfahren gegen deutsche KZ-Schergen in Sobibor. Über seine Aussage
    hält der Kollege Aßmann im Prozess-Tagebuch fest:

    "Das Thema "Ukrainer" hatte laut Richthof zwei Aspekte:
    1. Demjanjuk war bekannt, weil seit 1981 sein Auslieferungsverfahren aus den USA nach Israel lief; aus den Unterlagen ergab sich: Er spielte in Sobibor keine "besondere Rolle" –
    2. Die Trawniki waren in der Lagerhierarchie zwischen Lagerpolizei und deutschen Bewachern; es gab bei den Trawniki Einzelfälle von Exzess-Morden, sonst hatten sie Bewachungsaufgaben."


    Auf dem Flur vor dem Gerichtssaal ist der Ex-Richter hinterher leutselig. Er gibt er den Reportern Interviews und beantwortet Fragen der Beobachter:

    "In dem Hagener Verfahren ´82 folgende ist eigentlich jeder, der namentlich überhaupt in irgendwelchen Aufzeichnungen und Urkunden benannt worden war, auch versucht worden zu vernehmen. Und da sind Ukrainer, bis auf die, die wir auch tatsächlich in der Ukraine, in Donezk vernommen haben, sind weitere Namen nicht bekannt gewesen.

    Der Name Demjanjuk, haben wir heute gehört, war absolut damals marginal in dem Verfahren? - Ja. - Und damals – ich will nicht sagen – gab’s keinerlei Gewissensbisse. Aber dass Sie damals gesagt hätten, das hätten wir damals machen müssen – Nachträglich gibt’s das heute nicht mehr? - Nachträglich würde ich sagen: Wenn ein Ermittlungsverfahren 1963 folgende sich auch auf diese Ukrainer erstreckt hätte, und nicht andere Erkenntnisse dazu gekommen wären – als den mir bekannten - dann glaube ich eher, dass er eher in den Kreis derjenigen gehört hätte, die – zur Verwunderung mancher heute – freigesprochen worden sind."

    Danach beginnt eine Phase in diesem Verfahren, in der fast ausschließlich Dokumente als Beweise eingeführt werden – im Juristendeutsch "Urkunden". Manche nennen das "Lesestunden". Der Vorsitzende oder sein Beisitzer zitieren aus SS-Papieren, Befehlen und Aktenvermerken, aus Befragungen von KZ-Schergen durch die deutsche Nachkriegsjustiz oder aus russischen Verhörprotokollen ehemaliger Kameraden von Demjanjuk. Die junge Ukrainisch-Übersetzerin, die stets neben dem Angeklagten sitzt, ist dem Tempo kaum gewachsen. Wer im falschen Augenblick den Saal betritt, hört nur ihre halblaute Stimme, der Rest des Saales schweigt. Es sind Wochen, in denen sich der Sinn dieses Prozesses kaum mehr erschließt, in denen er als Vergeudung von Zeit und Ressourcen erscheint.

    Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz, der auch von diesen Sitzungen kaum eine versäumt, besänftigt:

    "Wir müssen Straftaten verfolgen, solange sie verfolgbar sind. Und da Mord nicht verjährt, müssen wir was tun. Ich wär’ ein schlechter Jurist, wenn ich nicht diese Meinung hätte. Man muss allerdings auch immer berücksichtigen, dass es nicht darum geht, Geschichte aufzuarbeiten. Ich bin Staatsanwalt, wir wollen Menschen verfolgen, die eben Schuld auf sich geladen haben. Und nur darum geht es, nicht um Geschichtsaufarbeitung."

    Trotzdem: Plötzlich ist es bereits November 2010 – seit dem Prozessauftakt ist ein Jahr vergangen. Und von einem Ende – zumindest der Beweisaufnahme – redet noch niemand. Ulrich Busch sieht sich in seiner anfänglichen Prognose eines sehr komplizierten Verfahrens bestätigt:

    "Dieser Prozess ist ein außerordentlich schwieriger Indizienprozess, der mindestens – von der Prozessdauer her - mit zwei Jahren berechnet werden muss. Von Prozessverzögerung kann überhaupt keine Rede sein, denn das Gericht hat bisher überhaupt noch keinen Beweis in einem Jahr gefunden, der gegen Demjanjuk spricht. Auch wenn es seine Überzeugung zum Ausdruck bringt, dass es von seiner Schuld ausgeht."

    Das öffentliche Interesse an diesem Prozess ist inzwischen gleich Null, der Flur vor dem Saal ruhig. Drinnen allerdings erhitzen sich die Gemüter immer öfter: Einige der Nebenkläger-Anwälte und auch das Gericht liefern sich mit Ulrich Busch regelrechte Brüllduelle. Die Beobachter im Saal bekommen mehr und mehr den Eindruck: Die Richter und Nebenkläger haben die zum Ritual gewordenen langatmigen Anträge und Einlassungen der Verteidigung gründlich satt und sehnen ein Ende der Beweisaufnahme herbei. Bei einer der Sitzungen im Januar hält der Kollege Tim Aßmann in seinem Tagebuch fest:

    "Richter Alt beginnt mit der Verlesung von 39 Entscheidungen zu Anträgen der Verteidigung, die zwischen dem Dezember 2009 und dem Januar 2011 gestellt wurden. Es geht überwiegend um Zeugen und Gutachten sowie Ermittlungsprotokolle und Abschriften von Entscheidungen. Die Kammer lehnt alle Anträge mit ähnlichen Begründungen ab: 'Beweiserkenntnis nicht erkennbar’, ins Blaue hinein formuliert, ’Antrag beruht auf nicht begründeten Schlussfolgerungen’."

    Sollten Busch und sein Mandant eine Verzögerungsstrategie verfolgt haben, in der Hoffnung, das Gericht werde das Verfahren wegen der wackligen Gesundheit Demjanjuks einstellen, so haben sie diesen Gedanken inzwischen verworfen. Ihr Sinn für Melodramatik aber ist intakt. So taucht am 9.Februar plötzlich eine Frau mittleren Alters mit einem halbwüchsigen Jungen im Saal auf. Sie hat eine weiße Rose dabei. In einer Prozesspause dürfen beide an das Bett Demjanjuks; Tränen fließen – es sind die aus den USA angereiste Tochter samt Enkel. Ulrich Busch, der zuvor stets berichtet hat, die Familie sei durch die vielen Prozesse pleite und könne sich eine München-Reise nicht leisten, rudert zurück:

    "Man muss eben sagen: Wo ein Wille ist, da muss letztlich auch ein Weg sein. Und da muss man das nötige Gottvertrauen haben, dass es doch klappt. Und hier hat es geklappt und ich freu’ mich sehr für meinen Mandanten, dass er seine Tochter heute in die Arme schließen konnte."

    Die Juristen im Saal beeindruckt die Szene indes nicht. Auch die Androhung eines Hungerstreiks ändert beim Vorsitzenden Richter Alt und seinen beiden Beisitzern nichts mehr an der Entschlossenheit, von der Beweisaufnahme zu den Plädoyers überzugehen. Am 1. März ordnet die Kammer nach einem mehrtägigen Beweisantrag-Monolog des Verteidigers an, dieser müsse seine Schriftsätze von nun an schriftlich einreichen. Es bestehe der Verdacht der Prozessverzögerung. Als die Papiere am Richtertisch gezählt werden, kommt die Kammer auf eine Zahl von etwa 500! In einem Gewaltakt ordnen die Richter das Chaos binnen weniger Tage und finden viele Dopplungen, Wiederholungen und bereits erledigte Anträge. Für Ulrich Busch ein Desaster. – So kann am 22. März Staatsanwalt Lutz als Erster sein Schlussplädoyer halten. Er sagt, an der Anwesenheit Demjanjuks in Sobibor gebe es keinen vernünftigen Zweifel.

    Dieser habe bereitwillig an der Ermordung von Juden in dem Vernichtungslager teilgenommen und die Qualen der Opfer gekannt. Mildernd ist für Lutz nur das hohe Alter von Demjanjuk und dass seit der Tat viele Jahre vergangen sind. So fordert er nicht 15 Jahre Gefängnis, sondern spricht sich für sechs Jahre Freiheitsentzug aus. Die Sprecherin der Münchner Staatsanwaltschaft, Barbara Stockinger:

    "Er hat sich sicherlich nicht freiwillig gemeldet für diese Tat. Er hat aber dann mitgemacht und hat nichts getan auszukommen. Wir sind der Ansicht, dass diese sechs Jahre ausreichend sind, aber auch sein müssen, um das Unrecht, das damals geschehen ist, zu sühnen."

    Die Tage vor der Urteilsverkündung zeigen die weitgehende Isolierung von Verteidiger Busch. Zwar sieht auch er in seinem Schlussvortrag eine historische Dimension des Verfahrens – aber in einem ganz anderen Sinn:

    "Ich habe in meinem Plädoyer gesagt, dass dieser Prozess einen politischen Zweck verfolgt. Wir haben im vorigen Jahr die große Veröffentlichung im "Spiegel" gehabt über die Verantwortung der europäischen Nationen am Holocaust – neben Deutschland. Und dies ist ein Teil dieser Kampagne und dieser neuen Geschichtsschreibung. Aus deutscher Alleinschuld wird eine europäische Gesamtschuld."

    Bei den Nachkommen der Opfer, die ebenfalls kurz vor Prozessende das Wort ergreifen dürfen, fehlt dagegen jeder Ingrimm – die meisten betonen, dass es ihnen nicht auf eine Verurteilung eines Greises ankommt. Stattdessen betonen Menschen wie Robert Fransman, der in Sobibor seine Eltern, Onkel und Tanten verlor und fast alle Prozesstage in München im Saal gesessen hat, sie hätten sich in den 18 Monaten des Verfahrens zumindest einige Anteil nehmende Sätze von John Demjanjuk erhofft:

    "Es gibt auf Holländisch ein Sprichwort: Wer schweigt bejaht. Und – ja, er hat geschwiegen und schweigt noch. Er liegt da und hat sich bis heute beschlossen, nichts zu sagen. Ich bin absolut davon, dass er da war und ich bin auch der Meinung, dass wer da war – von der Täterseite – schuldig ist."

    Ähnlich äußert sich auch Jules Schelvis, einer von ganz wenigen Überlebenden von Sobibor, ein zart wirkender Greis, Jahrgang 1921. Er hat sein Leben der Erforschung der Umstände in dem Lager gewidmet und sieht sich durch den quälend langen Strafprozess nun seinem Ziel etwas näher:

    "Es ist mir egal, ob er verurteilt wird – mit Strafe oder ohne Strafe. Das Allerwichtigste von diesem Prozess ist, dass Sobibor, das vor 10 Jahren im Dunkeln geblieben ist, dass es jetzt in der ganzen Welt bekannt geworden ist, dass es als Lager existierte. Da ist der große Gewinn dieses Prozesses."