Ute Wegmann: Heute mit einem Gast aus Großbritannien: David Almond, der Preisträger der Hans-Christian-Andersen-Medaille im Jahr 2010. Diese Medaille ist neben dem Astrid-Lindgren-Memorial Award die höchste Anerkennung, die man als Kinder- und Jugendbuchautor bekommen kann. Ich begrüße sehr herzlich im Kölner Studio den Schriftsteller David Almond.
David Almond, gehören Sie zu den Schriftstellern, die lieber allein zuhause sitzen und schreiben oder wie wichtig ist für Sie der Dialog mit den jungen Lesern?
David Almond: Ich bin gern unterwegs. Ich sitze zwar auch gern an meinem Schreibtisch und liebe es, Bücher zu schreiben, aber es ist genauso wunderbar, herumzureisen und die Leser zu treffen. Das ist das Schöne am Schreiben, dass man eine Leserschaft hat, die man treffen kann.
Wegmann: David Almond wurde im Jahr 1998 bekannt mit dem Roman "Skellig". Der deutsche Titel lautet "Zeit des Mondes", er gewann zwei große Preise: die Carnegie Medal und den Whitbread Children's Award. Es folgten die Romane: "Kit's Wilderness" ("Zwischen gestern und morgen"), "The Fire-Eaters" ("Feuerschlucker"), "Clay" ("Lehmann oder die Versuchung"), "My Dad's a Birdman" ("Mein Papa kann fliegen") und gerade erschienen "My Name Is Mina" ("Mina").
Psychologische Dichte und Realitätsnähe prägen seine Romane. Dabei verzichtet David Almond nicht auf Mystisches oder Übersinnliches. Der Aspekt des Geheimnisvolles, und sei es nur in der Fantasie seiner Figuren, gehört zu jeder Geschichte.
Betrachtet man Ihr Werk, stößt man auf wiederkehrende Motive und Themen: Liebe und Hoffnung, Tod eines geliebten Menschen und Trauer ,Freundschaft - im Besonderen zwischen Jungen und Mädchen. Es tauchen oft Kinder auf, die schreiben, und Wesen, die Kraft der Fantasie anderer zum Leben erweckt werden. Aber das wichtigste Thema scheint mir die Freiheit zu sein.
Was bedeutet Freiheit für Sie persönlich?
Almond: Ich denke, Freiheit hat mehrere Bedeutungen. In meinen Büchern bedeutet Freiheit, dass Kinder die Möglichkeit haben, sich frei zu entfalten. Das heißt nicht, dass sie eine Art Freifahrschein haben, alles zu tun, was sie wollen, aber dass sie eigenständig werden können. In Freiheit aufzuwachsen ist so wichtig. Und offensichtlich hat das eine Menge damit zu tun, wie die Welt heute ist. Viele Menschen haben diese Freiheit nicht und sie fordern sie jetzt ein.
Ich glaube, dass ein Schriftsteller, der für junge Menschen schreibt, auch die Verantwortung hat, zu unabhängigem Denken zu ermutigen. Kinder zu ermutigen, sich selber zu erleben, und zwar nicht, indem sie kontrolliert sind und gezwungen werden, eine bestimmte Rolle zu spielen, sondern indem sie die Möglichkeit haben, zu experimentieren, zu spielen und sich auf diese Weise zu der Person zu entwickeln, die sie sein können.
Wegmann: England blickt auf eine lange Tradition herausragender Kinder- und Jugendbuchautoren. Auf literarisch hohem Niveau, spannend und psychologisch einfühlsam erzählt und heiter, mit gutem Witz das bescheinigt man dem englischen Kinderroman. Dazu gehört zweifelsohne auch Ihr Werk.
Sie geben Ihren Figuren Lieblingsbücher und -autoren: William Blake, Helen Oxenbury, Maurice Sendak: Sind das die Autoren, die Sie geprägt haben?
Almond: Diese Autoren, ganz besonders William Blake, hatten großen Einfluss auf mich. Als ich "Zeit des Mondes" schrieb, wusste ich noch nicht, dass Blake mein Schreiben so sehr bestimmen würde. Aber als ich anfing zu schreiben und "Mina" in mein Buch sprang, brachte sie Blake mit. So musste ich Blake einen Platz einräumen. Blake hat einen immensen Einfluss auf mich, die Art und Weise, wie ich denke und wie ich schreibe. Ich glaube sowieso, dass man als Autor sehr stark durch alle Schriftsteller beeinflusst ist, die man gern gelesen hat und verehrte.
Damit komme ich zu einer wichtigen Aufgabe eines Schriftstellers: Denn seitdem ich für junge Leute schreibe, stelle ich fest, dass ich eine Zuhörerschaft von Autoren vor mir habe. Alle jungen Menschen schreiben, ob sie wollen oder nicht. Falls ich also überhaupt ein Ziel habe, dann ist es das Ziel, Kinder zu ermuntern, sich selber als Schriftsteller zu sehen.
Maurice Sendak oder William Blake werden in "Mina" namentlich erwähnt, weil es mir sehr wichtig erscheint, Folgendes zu sagen: Guckt mal, das hier ist ein besonderes Buch, aber rundherum gibt es eine Vielzahl fantastischer Schriftsteller, die ihr lesen solltet, die Bestandteil eures Lebens werden sollten. Denn wir alle wissen es: Die literarische Kultur ist wirklich wichtig, und Bücher sind so wichtig und Geschichten sind so wichtig. Deshalb sollte jedes einzelne Buch auf irgendeine Weise die gesamte Literatur lebendig halten. Als ich diese Autoren nannte, dachte ich an die Kinder, an meine Leser und ich wollte damit sagen: Ja, lest mein Buch, aber lest auch diese anderen Bücher. Erforscht die ganze Welt der Literatur. Sie wartet auf euch.
Wegmann: William Blake: Gelebt hat der englische Dichter, Naturmystiker, Maler und Erfinder der Reliefradierung in London zwischen 1757 und 1827. Man sagte, er verfüge über das Zweite Gesicht. Immer wieder finden wir in Ihren Romanen Figuren, die etwas Mystisches oder Übermenschliches verkörpern: In "Zeit des Mondes" findet ein Junge ein vogelähnliches Wesen in der Garage des neuen Hauses. Dieses Wesen versteckt er gemeinsam mit dem Nachbarmädchen Mina. Ein Wesen, das wohl später die kleine kranke Schwester vor dem Tod retten wird. Ein Schutzengel? Glauben Sie an Gott und Engel?
Almond: Nein, eigentlich nicht. Ich wurde katholisch erzogen, also wurde ich auch erzogen, an Gott zu glauben und an solche Sachen wie Schutzengel. Schutzengel, die auf meiner Schulter sitzen und auf mich aufpassen. Ich glaube nicht an so was. Auch nicht an andere Welten oder Wesen aus anderen Welten. Ich glaube, dass alles in dieser Welt und in diesem Universum existiert. Und der Sinn dieses Universums für uns, das sind wir selber. Wir haben eine große Vorstellungskraft, uns in dieser Welt etwas zu konstruieren, etwas zu erschaffen, was uns hilft, egal ob es real ist oder nicht. Diese Dinge haben einen großen Einfluss auf unser Leben. Deshalb glaube ich an erfundene Engel. Das haben die Menschen immer schon gemacht, sich eine Menge eingebildet, Wesen erfunden, Kreaturen, die unsere Geschichte beeinflusst haben. Deshalb können wir auch nicht sagen, sie seien nicht wichtig. In "Zeit des Mondes" haben Michael und Mina Skellig vielleicht erfunden. Er hatte einen großen Einfluss auf ihr Leben. Vielleicht haben sie aber auch nur etwas entdeckt, was vorher schon da war. Das ist eine der Ideen der Kunst, eine Absicht des Schreibens, dass man etwas erfindet, etwas Neues schafft, dass dann in der Welt existiert. So wie dieses Wesen Skellig, das wie ein Kunstwerk Einfluss auf seine Umwelt nimmt.
Wegmann: Gott spielen, menschenähnliche Wesen erschaffen, Wesen und Menschen instrumentalisieren, nicht immer zum Guten - darum geht es in dem Roman "Lehmann oder die Versuchung". Davie und seine Freunde werden von anderen Jungs bedroht, einer von ihnen sticht durch seine Bösartigkeit hervor. Ein neuer Junge taucht im Dorf auf, man sagt ihm künstlerische Fähigkeit nach - er gestaltet lebensechte Figuren aus Ton. Der Neue beginnt Davie in seine Dienste zustellen. Er verspricht, mit ihm gemeinsam eine Lehmfigur zum Leben zu erwecken, die seinen Widersacher besiegen kann. Es beginnt ein bedrohliches Spiel.
Beziehen Sie sich in dieser Geschichte auf die Golem-Legende, die Erschaffung einer Lehmfigur durch den Rabbi Löw, die den Juden zur Seite stehen sollte?
Almond: Das Buch ist extrem beeinflusst von der Golem-Legende. Ich habe eine Menge darüber gelesen, bevor ich Lehmann oder die Versuchung geschrieben habe. In einer ersten Fassung erzählt der Lehrer die Geschichte von Rabbi Löw und dem Golem, aber ich habe das wieder herausgenommen. Es erschien mir zu konstruiert. Ich wollte unbedingt ein Buch schreiben, das diese Legende enthält, aber auch die Genesis reflektiert, als Gott den Menschen Leben einhauchte. Ich wollte die Geschichte in eine normale Stadt verlegen. Jetzt ereignet sich alles in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, mit völlig normalen Jugendlichen. Und einer sagt; Wir können das, was dieser Rabbi kann. Wir können ein Wesen aus Lehm erschaffen, wir können ihm Leben einhauchen, sodass es aufsteht und sich bewegt. Es war ein bisschen so, als ob man sagt, wir können vielleicht auch mal so sein wie Gott. Wir können ein Wesen zum Leben erwecken. Aber wenn wir das tun, haben wir immense Verantwortung. Denn es ist auch eine sehr gefährliche Angelegenheit.
Wegmann: Dieses Motiv, Dingen Leben einzuhauchen, taucht in Ihren Romanen immer wieder auf. Auch in dem Kinderbuch "Mina". Dort ist von einer Romanfigur die Rede, einem Jungen, der Federn, Knochen von Tieren und Stöcke sammelt, um sie zu lebendig aussehenden Figuren zusammengebastelt, zum Leben zu erwecken. (S. 201)
In "Mina" findet man ebenfalls Anspielungen auf William Blake. Denn genau wie William Blake, der in der Schule aneckte, wird auch Mina nach einer erneuten Auseinandersetzung mit ihrer Lehrerin von ihrer Mutter unterrichtet. So sitzt sie oft wie ein Vogel im Baum und beobachtet das Leben, schreibt Texte, über Dinge, die ihr passiert sind, erfindet Außergewöhnliche Tätigkeiten. All das dient dazu, die Ängste zu überwinden und so beginnt sie, das Leben zu lieben und den Tod des Vaters zu überwinden.
Vom ersten Satz an lieben wir Ihre kleine Hauptfigur und tauchen in ihre kindliche und tief-philosophische Welt ein. Dabei erlebt sie gar keine spektakuläre Geschichte, im Gegenteil: Es ist die Geschichte eines Alltags eines sehr besonderen Mädchens. Was ist das Geheimnis Ihrer Romananfänge?
Almond: Ich habe Mina entdeckt, als ich "Zeit des Mondes" schrieb. Sie sprang einfach in die Geschichte. Ich bin noch nie so jemanden wie "Mina" begegnet. Und sie war von Anfang so wichtig. Sie war diejenige, die die Geschichte vorantrieb. Ohne sie gäbe es das Buch gar nicht. Und zehn Jahre später fing ich wieder an, mich mit Mina zu beschäftigen. Ich hatte vor, ihre Notizhefte zu schreiben, ihre täglichen Aufzeichnungen und dann wollte ich sehen, was passiert. Sobald ich mit der ersten Seite begonnen hatte, kam es mir vor, als ob Mina in meinem Kopf gewartet hätte und sagen würde: Warum hat das denn so lange gedauert? Und es war wirklich so, als ob Mina in mir drin wäre. Als ich das bemerkte, habe ich mir "Zeit des Mondes" noch mal angeschaut und ich fand das, von dem ich glaubte, dass es der interessanteste Satz zu Mina sei: "Ich liebe die Nacht. Nachts, wenn die anderen schlafen, scheint alles möglich zu sein." Und ich dachte, das ist ein guter Anfang. Und es war, als ob Mina mich bestärken würde: Okay, lass uns hier anfangen.
Wegmann: Warum hat das zehn Jahre gedauert?
Almond: Ich hatte andere Dinge zu tun. Es ist wundervoll, ihr Leben zu erkunden, ihre Experimente, die Art und Weise wie sie mit Sprache spielt. Ich denke, ich habe zehn Jahre gebraucht, um Mina zu begreifen. Ich brauchte zehn Jahre Vorbereitung, um dieses Buch zu schreiben.
Wegmann: Es gibt ein Zitat in dem Roman: "Vogelfänger sind Menschen, die den Geist einfangen, die Seele in Käfige sperren." Der Roman könnte in gewisser Weise auch politisch gelesen werden, denn
"Mina" ist der Inbegriff von Freiheit: Sie sagt und tut, was sie denkt und was sie möchte. Mina ist ein Plädoyer für Freiheit. Oder beschränkt sich Freiheit auf die Toleranz gegenüber Menschen, die anders sind als die Masse?
Almond: Ich glaube ja. Einige Leute betrachten Mina als Außenseiterin. Einige glaubten, sie brauche psychologische Hilfe, man solle sie psychologischen Tests unterziehen, sie leide an einer bestimmten Krankheit. Sie brauche medizinische Hilfe. In Wahrheit ist ihr Problem das Erwachsenwerden, das Menschsein, einen Weg zu finden, sie selbst zu sein. Und womöglich ist ein weiteres Problem ihre Trauer. Sie trauert um ihren toten Vater. Diese Probleme hat sie und sie erscheinen mir alle sehr menschlich. Es sind normale, aber sehr einflussreiche Probleme. Im Laufe der Geschichte und durch ihr eigenes Schreiben überwindet sie die Schwierigkeiten.
Damit ihr das gelingt, beschreitet sie den Weg der Kunst. Sie spielt herum. Sie spielt mit Sprache, sie sitzt in Bäumen, denkt über William Blake nach, beobachtet Fliegen, schaut in die Sterne.
Ich denke, dass es sehr gefährlich ist, wenn wir jedes außergewöhnliche, unübliche Verhalten als Krankheit betrachten, als eine Art Problem. Denn es ist doch Teil unseres Menschseins, mal in Schwierigkeiten zu sein oder auch mal eine Zeit lang sonderbar zu sein.
Wegmann: Es ist also wichtig, über Toleranz zu sprechen?
Almond: Unbedingt. Es ist absolut wichtig. Einige Leute in dem Buch bezeichnen Mina als verrückt. Sie muss damit zurechtkommen. Und sie muss sich zuerst selber akzeptieren, und dann akzeptieren sie auch die anderen. Die Geschichte beschreibt den Prozess des Erwachsenwerdens.
Wegmann: Ist Mina auch eine Hommage an William Blake?
Almond: In mehrfacher Hinsicht ist es eine Hommage an William Blake. Ich wollte diese Art Buch seit zwanzig Jahren machen. Eine Geschichte, die mit Sprache spielt, die großzügig mit Seitenlayouts umgeht, die Gedichte, Kurzgeschichten, Lieder und leere Seiten beinhalten.
Wegmann: In "Mina" vereinen sich viele Ihrer Themen und Motive. In "Zwischen gestern und morgen" heißt es: Lass die Dunkelheit in den Büchern, das ist der richtige Ort für sie." Mina zum Beispiel formuliert ihre schrecklichen Erlebnisse in auktorial erzählten Geschichten. In "Feuerschlucker" lesen wir das Hohelied auf die Liebe zum Leben. Auch Mina verkörpert die Lust am Leben. "Lehmann oder die Versuchung" ist eine Auseinandersetzung mit dem Tod. In "Mein Papa kann fliegen" finden wir Minas Liebe zu den Vögeln.
An sich selbst zu glauben und mutig zu sein, ist wichtiger, als zu gewinnen. Tapfer zu sein, ist das Größte, was Mina schaffen will. Tapfer war sie von Beginn an, weil sie sich nicht hat verbiegen lassen, weil sie gemacht hat, was sie wollte.
Meinen Sie mit Tapferkeit vor allem, den Mut, eine Beziehung einzugehen, Freunde zu finden?
Almond: Ich glaube, sie ist sehr mutig. Sie ist intellektuell und auf der Ebene ihrer Vorstellungskraft sehr stark und auch emotional. Aber der mutigste Schritt zum Schluss ist tatsächlich der Schritt, sich einer anderen Person zuzuwenden. Und bevor sie sich traut, Michael anzusprechen, muss sich selbst aufbauen, sich immer wieder auffordern, stark zu sein: Sei mutig! Sei mutig! Und so gelang ihr der Schritt über sich selbst hinaus zu anderen Menschen. Die Geschichte handelt also von Minas Erfahrungen und bewegt sich auf den Punkt hin, dass sie fähig ist, anderen Menschen zu begegnen und aufhört, nur mit sich selber beschäftigt zu sein.
Wegmann: Die Kinder, die Sie beschreiben, stehen oft in ungewöhnlichen Familiensituationen. In "Mein Vater kann fliegen" und in "Mina" müssen die Kinder den Tod eines Elternteils verwinden. Sie tabuisieren den Tod weder in ihren Jugendromanen noch im Kinderbuch. Wie wichtig ist für Sie das Thema Tod?
Almond: Zu meinem eigenen Erstaunen wurde das Thema Tod immer präsenter. Als Schriftsteller suchst du dir ja nicht wirklich aus, worüber du schreibst. Themen kommen und finden dich. In allen Büchern nach "Zeit des Mondes" sind die Hauptfiguren mit jemandem sehr verbunden, der schon tot ist. Jemand, der einfach nicht mehr da ist. Ich glaube, das hat was mit meiner eigenen Erfahrung zu tun. Als ich klein war, habe ich Menschen verloren, die mir sehr nah standen.
Als Schriftsteller denkst du nicht darüber nach, etwas durch eine fiktive Geschichte zu verarbeiten. Aber wenn dich etwas antreibt, so zu schreiben, wie ich es tue, dann muss dich etwas bewegen, was heraus will.
Ja, Tod eines Elternteils, Tod der Schwester, das waren wichtige Momente in meinem Leben. Und ich finde sie immer wieder, sehe sie in meinen Geschichten auftauchen. Das bedeutet nicht, dass ich der Meinung bin, Kinder müssten mit dem Thema Tod konfrontiert werden. Es handelt sich um eine Tatsache, dass der Tod in der Welt ist.
Wir leben in einer bewundernswerten, freudvollen, wundervollen, erstaunlichen Welt, aber es ist eine Welt, in der der Tod seinen Platz hat. Und wir müssen einen Weg finden, das zu akzeptieren und unser Leben so erfüllt wie möglich leben, mit dem Wissen: Der Tod ist auch da.
Wegmann: Es gibt keinen Zweifel, nach der Studie ihrer Romane weiß man, dass Sie ein großer Vogelfreund sind. Die Tiere tauchen - mehr oder weniger wichtig - in jeder Geschichte auf. Welche Bedeutung haben sie?
Almond: Vögel erstaunen mich ebenfalls. Ich stelle fest, dass ich ständig über Vögel schreibe. Zu meiner eigenen Verwunderung. Es hat etwas mit meiner Kindheit zu tun. Ich bin am Stadtrand aufgewachsen, in einem Vorort von Newcastle upon Tyne. Es gab dort Felder und viele Hecken mit Vögeln. Und ich erinnere mich an das Gefühl, wenn ich das Haus verließ, und den Hügel hinauf ging zum Feld, wo wir damals spielten, wie die Vögel aus dem Gras und den Hecken aufstiegen und der Himmel erfüllt war von Vogelgezwitscher. Das ist eine der stärksten Erinnerungen an meine Kindheit: den Hügel hinaufsteigend mit dem Himmel voller Vögel. Und viele Jahre später, als ich zu schreiben begann, da kamen die Vögel zurück. Und Vögel sind so etwas erstaunlich Kraftvolles.
Wenn wir im Universum eine andere Welt entdecken würden und wir würden feststellen: In dieser Welt gibt es Lebewesen aus Knochen und Federn und sie springen hoch und fliegen durch die Luft. Wäre das nicht verblüffend? Und wir haben diese Lebewesen in unserer Welt. .... Für mich sind Vögel die perfekten Lebewesen.
Wegmann: Sprechen wir über kurz über die Form: Sie wählen überwiegend Ich-Erzähler. Dabei gelingt es Ihnen, sich ebenso in eine Kinderseele hinein zu versetzen, wie in die Seele eines gemobbten Jugendlichen.
Ist es einfacher, in der ersten Person zu schreiben?
Almond: Es scheint so, weil ich die meisten meiner Bücher so geschrieben habe. Es führt zu einer Art Kontrolle des Buches, weil man alles nur aus einer Perspektive sieht. Die Gefahr ist, dass man nur die Sicht der Person erfasst, die die Geschichte erzählt. Diese Schreibweise der Geschichte ermöglicht aber auch eine organische Entwickelung, so wie sich auch ein Mensch entwickelt. Deshalb ist es schwer zu beschreiben, was man macht, wenn man aus der 1. Person heraus schreibt, weil man wie die Person ist. Und im Leben weiß man ja auch nicht, was passiert. Man kann sein Leben planen, aber es kann auch schief gehen oder eben nicht nach Plan verlaufen. Diese Form gibt einem die Möglichkeit, sich auszuprobieren.
Ich habe aber auch Bücher in der dritten Person geschrieben: "Mein Papa kann fliegen" zum Beispiel. Das war spannend. Weil ich mehr Distanz hatte, war ich irgendwie lustiger. Die Form ließ eine andere Art von Humor zu. Das ist interessant und ich liebe es, in verschiedenen Formen zu schreiben. Kinder akzeptieren ohnehin alle Formen. Und alle Formen sind in der Kinderliteratur vertreten. Das ist fantastisch.
Wegmann: Sie zitieren Picasso in ihrem Roman: "Picasso meinte, es würde Jahre dauern, bis man gelernt hätte wie ein Meister zu malen und ein Leben lang, bis man gelernt hätte, wie ein Kind zu malen." Kann man das auf das Schreiben übertragen? Braucht man ein ganzes Leben, um für Kinder in ihren Worten zu schreiben?
Almond: Ich denke ja...Ich mag dieses Zitat, denn ich glaube, dass es stimmt. Wenn wir erwachsen sind und werden Schriftsteller, denken wir, wir wären sehr schlau und sehr intelligent. Aber auf dem Weg zur intelligenten Person verlieren wir einiges an Spontaneität und die Begeisterungsfähigkeit eines Kindes. Jedes Mal, wenn ich ein neues Buch beginne, versuche ich wieder sehr, sehr jung zu sein und ich tue so, als ob ich das Schreiben gerade für mich entdeckt hätte. Schaut man sich jüngere Kinder an, wie sie die ersten Geschichten schreiben, das sollte eine Lektion für uns sein.
Ich glaube, wir können eine Menge von ihnen lernen. Als ich "Mina" schrieb und Picasso zitierte, dachte ich : Ja, ich werde das hier versuchen. Und das bedeutete: Ich habe versucht, wie "Mina" zu schreiben. Und nicht Mina hat versucht, wie ich zu schreiben. Ich möchte wie Mina schreiben.
Wegmann: Herzlichen Dank für das Gespräch, David Almond. Der englische Schriftsteller und Gewinner der Hans-Christian-Andersen-Medaille war heute Gast im Büchermarkt.
Bibliografie
"Zeit des Mondes". Aus dem Englischen von Johanna und Martin Walser, 184 Seiten, Ravensburger Buchverlag
"Zwischen Gestern und Morgen". Aus dem Englischen von Mechthild Testroet, 191 Seiten, Ravensburger Buchverlag
"Feuerschlucker". Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther, 203 Seiten, Hanser Verlag
"Lehmann oder die Versuchung". Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther, 237 Seiten, Hanser Verlag
"Klick! Zehn Autoren schreiben einen Roman". Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann, Reihe Hanser
"Mein Papa kann fliegen". Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther, Illus von Polly Dunbar, 121 Seiten, Hanser Verlag
"Mina". Aus dem Englischen von Alexandra Ernst, 255 Seiten, Ravensburger Buchverlag
David Almond, gehören Sie zu den Schriftstellern, die lieber allein zuhause sitzen und schreiben oder wie wichtig ist für Sie der Dialog mit den jungen Lesern?
David Almond: Ich bin gern unterwegs. Ich sitze zwar auch gern an meinem Schreibtisch und liebe es, Bücher zu schreiben, aber es ist genauso wunderbar, herumzureisen und die Leser zu treffen. Das ist das Schöne am Schreiben, dass man eine Leserschaft hat, die man treffen kann.
Wegmann: David Almond wurde im Jahr 1998 bekannt mit dem Roman "Skellig". Der deutsche Titel lautet "Zeit des Mondes", er gewann zwei große Preise: die Carnegie Medal und den Whitbread Children's Award. Es folgten die Romane: "Kit's Wilderness" ("Zwischen gestern und morgen"), "The Fire-Eaters" ("Feuerschlucker"), "Clay" ("Lehmann oder die Versuchung"), "My Dad's a Birdman" ("Mein Papa kann fliegen") und gerade erschienen "My Name Is Mina" ("Mina").
Psychologische Dichte und Realitätsnähe prägen seine Romane. Dabei verzichtet David Almond nicht auf Mystisches oder Übersinnliches. Der Aspekt des Geheimnisvolles, und sei es nur in der Fantasie seiner Figuren, gehört zu jeder Geschichte.
Betrachtet man Ihr Werk, stößt man auf wiederkehrende Motive und Themen: Liebe und Hoffnung, Tod eines geliebten Menschen und Trauer ,Freundschaft - im Besonderen zwischen Jungen und Mädchen. Es tauchen oft Kinder auf, die schreiben, und Wesen, die Kraft der Fantasie anderer zum Leben erweckt werden. Aber das wichtigste Thema scheint mir die Freiheit zu sein.
Was bedeutet Freiheit für Sie persönlich?
Almond: Ich denke, Freiheit hat mehrere Bedeutungen. In meinen Büchern bedeutet Freiheit, dass Kinder die Möglichkeit haben, sich frei zu entfalten. Das heißt nicht, dass sie eine Art Freifahrschein haben, alles zu tun, was sie wollen, aber dass sie eigenständig werden können. In Freiheit aufzuwachsen ist so wichtig. Und offensichtlich hat das eine Menge damit zu tun, wie die Welt heute ist. Viele Menschen haben diese Freiheit nicht und sie fordern sie jetzt ein.
Ich glaube, dass ein Schriftsteller, der für junge Menschen schreibt, auch die Verantwortung hat, zu unabhängigem Denken zu ermutigen. Kinder zu ermutigen, sich selber zu erleben, und zwar nicht, indem sie kontrolliert sind und gezwungen werden, eine bestimmte Rolle zu spielen, sondern indem sie die Möglichkeit haben, zu experimentieren, zu spielen und sich auf diese Weise zu der Person zu entwickeln, die sie sein können.
Wegmann: England blickt auf eine lange Tradition herausragender Kinder- und Jugendbuchautoren. Auf literarisch hohem Niveau, spannend und psychologisch einfühlsam erzählt und heiter, mit gutem Witz das bescheinigt man dem englischen Kinderroman. Dazu gehört zweifelsohne auch Ihr Werk.
Sie geben Ihren Figuren Lieblingsbücher und -autoren: William Blake, Helen Oxenbury, Maurice Sendak: Sind das die Autoren, die Sie geprägt haben?
Almond: Diese Autoren, ganz besonders William Blake, hatten großen Einfluss auf mich. Als ich "Zeit des Mondes" schrieb, wusste ich noch nicht, dass Blake mein Schreiben so sehr bestimmen würde. Aber als ich anfing zu schreiben und "Mina" in mein Buch sprang, brachte sie Blake mit. So musste ich Blake einen Platz einräumen. Blake hat einen immensen Einfluss auf mich, die Art und Weise, wie ich denke und wie ich schreibe. Ich glaube sowieso, dass man als Autor sehr stark durch alle Schriftsteller beeinflusst ist, die man gern gelesen hat und verehrte.
Damit komme ich zu einer wichtigen Aufgabe eines Schriftstellers: Denn seitdem ich für junge Leute schreibe, stelle ich fest, dass ich eine Zuhörerschaft von Autoren vor mir habe. Alle jungen Menschen schreiben, ob sie wollen oder nicht. Falls ich also überhaupt ein Ziel habe, dann ist es das Ziel, Kinder zu ermuntern, sich selber als Schriftsteller zu sehen.
Maurice Sendak oder William Blake werden in "Mina" namentlich erwähnt, weil es mir sehr wichtig erscheint, Folgendes zu sagen: Guckt mal, das hier ist ein besonderes Buch, aber rundherum gibt es eine Vielzahl fantastischer Schriftsteller, die ihr lesen solltet, die Bestandteil eures Lebens werden sollten. Denn wir alle wissen es: Die literarische Kultur ist wirklich wichtig, und Bücher sind so wichtig und Geschichten sind so wichtig. Deshalb sollte jedes einzelne Buch auf irgendeine Weise die gesamte Literatur lebendig halten. Als ich diese Autoren nannte, dachte ich an die Kinder, an meine Leser und ich wollte damit sagen: Ja, lest mein Buch, aber lest auch diese anderen Bücher. Erforscht die ganze Welt der Literatur. Sie wartet auf euch.
Wegmann: William Blake: Gelebt hat der englische Dichter, Naturmystiker, Maler und Erfinder der Reliefradierung in London zwischen 1757 und 1827. Man sagte, er verfüge über das Zweite Gesicht. Immer wieder finden wir in Ihren Romanen Figuren, die etwas Mystisches oder Übermenschliches verkörpern: In "Zeit des Mondes" findet ein Junge ein vogelähnliches Wesen in der Garage des neuen Hauses. Dieses Wesen versteckt er gemeinsam mit dem Nachbarmädchen Mina. Ein Wesen, das wohl später die kleine kranke Schwester vor dem Tod retten wird. Ein Schutzengel? Glauben Sie an Gott und Engel?
Almond: Nein, eigentlich nicht. Ich wurde katholisch erzogen, also wurde ich auch erzogen, an Gott zu glauben und an solche Sachen wie Schutzengel. Schutzengel, die auf meiner Schulter sitzen und auf mich aufpassen. Ich glaube nicht an so was. Auch nicht an andere Welten oder Wesen aus anderen Welten. Ich glaube, dass alles in dieser Welt und in diesem Universum existiert. Und der Sinn dieses Universums für uns, das sind wir selber. Wir haben eine große Vorstellungskraft, uns in dieser Welt etwas zu konstruieren, etwas zu erschaffen, was uns hilft, egal ob es real ist oder nicht. Diese Dinge haben einen großen Einfluss auf unser Leben. Deshalb glaube ich an erfundene Engel. Das haben die Menschen immer schon gemacht, sich eine Menge eingebildet, Wesen erfunden, Kreaturen, die unsere Geschichte beeinflusst haben. Deshalb können wir auch nicht sagen, sie seien nicht wichtig. In "Zeit des Mondes" haben Michael und Mina Skellig vielleicht erfunden. Er hatte einen großen Einfluss auf ihr Leben. Vielleicht haben sie aber auch nur etwas entdeckt, was vorher schon da war. Das ist eine der Ideen der Kunst, eine Absicht des Schreibens, dass man etwas erfindet, etwas Neues schafft, dass dann in der Welt existiert. So wie dieses Wesen Skellig, das wie ein Kunstwerk Einfluss auf seine Umwelt nimmt.
Wegmann: Gott spielen, menschenähnliche Wesen erschaffen, Wesen und Menschen instrumentalisieren, nicht immer zum Guten - darum geht es in dem Roman "Lehmann oder die Versuchung". Davie und seine Freunde werden von anderen Jungs bedroht, einer von ihnen sticht durch seine Bösartigkeit hervor. Ein neuer Junge taucht im Dorf auf, man sagt ihm künstlerische Fähigkeit nach - er gestaltet lebensechte Figuren aus Ton. Der Neue beginnt Davie in seine Dienste zustellen. Er verspricht, mit ihm gemeinsam eine Lehmfigur zum Leben zu erwecken, die seinen Widersacher besiegen kann. Es beginnt ein bedrohliches Spiel.
Beziehen Sie sich in dieser Geschichte auf die Golem-Legende, die Erschaffung einer Lehmfigur durch den Rabbi Löw, die den Juden zur Seite stehen sollte?
Almond: Das Buch ist extrem beeinflusst von der Golem-Legende. Ich habe eine Menge darüber gelesen, bevor ich Lehmann oder die Versuchung geschrieben habe. In einer ersten Fassung erzählt der Lehrer die Geschichte von Rabbi Löw und dem Golem, aber ich habe das wieder herausgenommen. Es erschien mir zu konstruiert. Ich wollte unbedingt ein Buch schreiben, das diese Legende enthält, aber auch die Genesis reflektiert, als Gott den Menschen Leben einhauchte. Ich wollte die Geschichte in eine normale Stadt verlegen. Jetzt ereignet sich alles in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, mit völlig normalen Jugendlichen. Und einer sagt; Wir können das, was dieser Rabbi kann. Wir können ein Wesen aus Lehm erschaffen, wir können ihm Leben einhauchen, sodass es aufsteht und sich bewegt. Es war ein bisschen so, als ob man sagt, wir können vielleicht auch mal so sein wie Gott. Wir können ein Wesen zum Leben erwecken. Aber wenn wir das tun, haben wir immense Verantwortung. Denn es ist auch eine sehr gefährliche Angelegenheit.
Wegmann: Dieses Motiv, Dingen Leben einzuhauchen, taucht in Ihren Romanen immer wieder auf. Auch in dem Kinderbuch "Mina". Dort ist von einer Romanfigur die Rede, einem Jungen, der Federn, Knochen von Tieren und Stöcke sammelt, um sie zu lebendig aussehenden Figuren zusammengebastelt, zum Leben zu erwecken. (S. 201)
In "Mina" findet man ebenfalls Anspielungen auf William Blake. Denn genau wie William Blake, der in der Schule aneckte, wird auch Mina nach einer erneuten Auseinandersetzung mit ihrer Lehrerin von ihrer Mutter unterrichtet. So sitzt sie oft wie ein Vogel im Baum und beobachtet das Leben, schreibt Texte, über Dinge, die ihr passiert sind, erfindet Außergewöhnliche Tätigkeiten. All das dient dazu, die Ängste zu überwinden und so beginnt sie, das Leben zu lieben und den Tod des Vaters zu überwinden.
Vom ersten Satz an lieben wir Ihre kleine Hauptfigur und tauchen in ihre kindliche und tief-philosophische Welt ein. Dabei erlebt sie gar keine spektakuläre Geschichte, im Gegenteil: Es ist die Geschichte eines Alltags eines sehr besonderen Mädchens. Was ist das Geheimnis Ihrer Romananfänge?
Almond: Ich habe Mina entdeckt, als ich "Zeit des Mondes" schrieb. Sie sprang einfach in die Geschichte. Ich bin noch nie so jemanden wie "Mina" begegnet. Und sie war von Anfang so wichtig. Sie war diejenige, die die Geschichte vorantrieb. Ohne sie gäbe es das Buch gar nicht. Und zehn Jahre später fing ich wieder an, mich mit Mina zu beschäftigen. Ich hatte vor, ihre Notizhefte zu schreiben, ihre täglichen Aufzeichnungen und dann wollte ich sehen, was passiert. Sobald ich mit der ersten Seite begonnen hatte, kam es mir vor, als ob Mina in meinem Kopf gewartet hätte und sagen würde: Warum hat das denn so lange gedauert? Und es war wirklich so, als ob Mina in mir drin wäre. Als ich das bemerkte, habe ich mir "Zeit des Mondes" noch mal angeschaut und ich fand das, von dem ich glaubte, dass es der interessanteste Satz zu Mina sei: "Ich liebe die Nacht. Nachts, wenn die anderen schlafen, scheint alles möglich zu sein." Und ich dachte, das ist ein guter Anfang. Und es war, als ob Mina mich bestärken würde: Okay, lass uns hier anfangen.
Wegmann: Warum hat das zehn Jahre gedauert?
Almond: Ich hatte andere Dinge zu tun. Es ist wundervoll, ihr Leben zu erkunden, ihre Experimente, die Art und Weise wie sie mit Sprache spielt. Ich denke, ich habe zehn Jahre gebraucht, um Mina zu begreifen. Ich brauchte zehn Jahre Vorbereitung, um dieses Buch zu schreiben.
Wegmann: Es gibt ein Zitat in dem Roman: "Vogelfänger sind Menschen, die den Geist einfangen, die Seele in Käfige sperren." Der Roman könnte in gewisser Weise auch politisch gelesen werden, denn
"Mina" ist der Inbegriff von Freiheit: Sie sagt und tut, was sie denkt und was sie möchte. Mina ist ein Plädoyer für Freiheit. Oder beschränkt sich Freiheit auf die Toleranz gegenüber Menschen, die anders sind als die Masse?
Almond: Ich glaube ja. Einige Leute betrachten Mina als Außenseiterin. Einige glaubten, sie brauche psychologische Hilfe, man solle sie psychologischen Tests unterziehen, sie leide an einer bestimmten Krankheit. Sie brauche medizinische Hilfe. In Wahrheit ist ihr Problem das Erwachsenwerden, das Menschsein, einen Weg zu finden, sie selbst zu sein. Und womöglich ist ein weiteres Problem ihre Trauer. Sie trauert um ihren toten Vater. Diese Probleme hat sie und sie erscheinen mir alle sehr menschlich. Es sind normale, aber sehr einflussreiche Probleme. Im Laufe der Geschichte und durch ihr eigenes Schreiben überwindet sie die Schwierigkeiten.
Damit ihr das gelingt, beschreitet sie den Weg der Kunst. Sie spielt herum. Sie spielt mit Sprache, sie sitzt in Bäumen, denkt über William Blake nach, beobachtet Fliegen, schaut in die Sterne.
Ich denke, dass es sehr gefährlich ist, wenn wir jedes außergewöhnliche, unübliche Verhalten als Krankheit betrachten, als eine Art Problem. Denn es ist doch Teil unseres Menschseins, mal in Schwierigkeiten zu sein oder auch mal eine Zeit lang sonderbar zu sein.
Wegmann: Es ist also wichtig, über Toleranz zu sprechen?
Almond: Unbedingt. Es ist absolut wichtig. Einige Leute in dem Buch bezeichnen Mina als verrückt. Sie muss damit zurechtkommen. Und sie muss sich zuerst selber akzeptieren, und dann akzeptieren sie auch die anderen. Die Geschichte beschreibt den Prozess des Erwachsenwerdens.
Wegmann: Ist Mina auch eine Hommage an William Blake?
Almond: In mehrfacher Hinsicht ist es eine Hommage an William Blake. Ich wollte diese Art Buch seit zwanzig Jahren machen. Eine Geschichte, die mit Sprache spielt, die großzügig mit Seitenlayouts umgeht, die Gedichte, Kurzgeschichten, Lieder und leere Seiten beinhalten.
Wegmann: In "Mina" vereinen sich viele Ihrer Themen und Motive. In "Zwischen gestern und morgen" heißt es: Lass die Dunkelheit in den Büchern, das ist der richtige Ort für sie." Mina zum Beispiel formuliert ihre schrecklichen Erlebnisse in auktorial erzählten Geschichten. In "Feuerschlucker" lesen wir das Hohelied auf die Liebe zum Leben. Auch Mina verkörpert die Lust am Leben. "Lehmann oder die Versuchung" ist eine Auseinandersetzung mit dem Tod. In "Mein Papa kann fliegen" finden wir Minas Liebe zu den Vögeln.
An sich selbst zu glauben und mutig zu sein, ist wichtiger, als zu gewinnen. Tapfer zu sein, ist das Größte, was Mina schaffen will. Tapfer war sie von Beginn an, weil sie sich nicht hat verbiegen lassen, weil sie gemacht hat, was sie wollte.
Meinen Sie mit Tapferkeit vor allem, den Mut, eine Beziehung einzugehen, Freunde zu finden?
Almond: Ich glaube, sie ist sehr mutig. Sie ist intellektuell und auf der Ebene ihrer Vorstellungskraft sehr stark und auch emotional. Aber der mutigste Schritt zum Schluss ist tatsächlich der Schritt, sich einer anderen Person zuzuwenden. Und bevor sie sich traut, Michael anzusprechen, muss sich selbst aufbauen, sich immer wieder auffordern, stark zu sein: Sei mutig! Sei mutig! Und so gelang ihr der Schritt über sich selbst hinaus zu anderen Menschen. Die Geschichte handelt also von Minas Erfahrungen und bewegt sich auf den Punkt hin, dass sie fähig ist, anderen Menschen zu begegnen und aufhört, nur mit sich selber beschäftigt zu sein.
Wegmann: Die Kinder, die Sie beschreiben, stehen oft in ungewöhnlichen Familiensituationen. In "Mein Vater kann fliegen" und in "Mina" müssen die Kinder den Tod eines Elternteils verwinden. Sie tabuisieren den Tod weder in ihren Jugendromanen noch im Kinderbuch. Wie wichtig ist für Sie das Thema Tod?
Almond: Zu meinem eigenen Erstaunen wurde das Thema Tod immer präsenter. Als Schriftsteller suchst du dir ja nicht wirklich aus, worüber du schreibst. Themen kommen und finden dich. In allen Büchern nach "Zeit des Mondes" sind die Hauptfiguren mit jemandem sehr verbunden, der schon tot ist. Jemand, der einfach nicht mehr da ist. Ich glaube, das hat was mit meiner eigenen Erfahrung zu tun. Als ich klein war, habe ich Menschen verloren, die mir sehr nah standen.
Als Schriftsteller denkst du nicht darüber nach, etwas durch eine fiktive Geschichte zu verarbeiten. Aber wenn dich etwas antreibt, so zu schreiben, wie ich es tue, dann muss dich etwas bewegen, was heraus will.
Ja, Tod eines Elternteils, Tod der Schwester, das waren wichtige Momente in meinem Leben. Und ich finde sie immer wieder, sehe sie in meinen Geschichten auftauchen. Das bedeutet nicht, dass ich der Meinung bin, Kinder müssten mit dem Thema Tod konfrontiert werden. Es handelt sich um eine Tatsache, dass der Tod in der Welt ist.
Wir leben in einer bewundernswerten, freudvollen, wundervollen, erstaunlichen Welt, aber es ist eine Welt, in der der Tod seinen Platz hat. Und wir müssen einen Weg finden, das zu akzeptieren und unser Leben so erfüllt wie möglich leben, mit dem Wissen: Der Tod ist auch da.
Wegmann: Es gibt keinen Zweifel, nach der Studie ihrer Romane weiß man, dass Sie ein großer Vogelfreund sind. Die Tiere tauchen - mehr oder weniger wichtig - in jeder Geschichte auf. Welche Bedeutung haben sie?
Almond: Vögel erstaunen mich ebenfalls. Ich stelle fest, dass ich ständig über Vögel schreibe. Zu meiner eigenen Verwunderung. Es hat etwas mit meiner Kindheit zu tun. Ich bin am Stadtrand aufgewachsen, in einem Vorort von Newcastle upon Tyne. Es gab dort Felder und viele Hecken mit Vögeln. Und ich erinnere mich an das Gefühl, wenn ich das Haus verließ, und den Hügel hinauf ging zum Feld, wo wir damals spielten, wie die Vögel aus dem Gras und den Hecken aufstiegen und der Himmel erfüllt war von Vogelgezwitscher. Das ist eine der stärksten Erinnerungen an meine Kindheit: den Hügel hinaufsteigend mit dem Himmel voller Vögel. Und viele Jahre später, als ich zu schreiben begann, da kamen die Vögel zurück. Und Vögel sind so etwas erstaunlich Kraftvolles.
Wenn wir im Universum eine andere Welt entdecken würden und wir würden feststellen: In dieser Welt gibt es Lebewesen aus Knochen und Federn und sie springen hoch und fliegen durch die Luft. Wäre das nicht verblüffend? Und wir haben diese Lebewesen in unserer Welt. .... Für mich sind Vögel die perfekten Lebewesen.
Wegmann: Sprechen wir über kurz über die Form: Sie wählen überwiegend Ich-Erzähler. Dabei gelingt es Ihnen, sich ebenso in eine Kinderseele hinein zu versetzen, wie in die Seele eines gemobbten Jugendlichen.
Ist es einfacher, in der ersten Person zu schreiben?
Almond: Es scheint so, weil ich die meisten meiner Bücher so geschrieben habe. Es führt zu einer Art Kontrolle des Buches, weil man alles nur aus einer Perspektive sieht. Die Gefahr ist, dass man nur die Sicht der Person erfasst, die die Geschichte erzählt. Diese Schreibweise der Geschichte ermöglicht aber auch eine organische Entwickelung, so wie sich auch ein Mensch entwickelt. Deshalb ist es schwer zu beschreiben, was man macht, wenn man aus der 1. Person heraus schreibt, weil man wie die Person ist. Und im Leben weiß man ja auch nicht, was passiert. Man kann sein Leben planen, aber es kann auch schief gehen oder eben nicht nach Plan verlaufen. Diese Form gibt einem die Möglichkeit, sich auszuprobieren.
Ich habe aber auch Bücher in der dritten Person geschrieben: "Mein Papa kann fliegen" zum Beispiel. Das war spannend. Weil ich mehr Distanz hatte, war ich irgendwie lustiger. Die Form ließ eine andere Art von Humor zu. Das ist interessant und ich liebe es, in verschiedenen Formen zu schreiben. Kinder akzeptieren ohnehin alle Formen. Und alle Formen sind in der Kinderliteratur vertreten. Das ist fantastisch.
Wegmann: Sie zitieren Picasso in ihrem Roman: "Picasso meinte, es würde Jahre dauern, bis man gelernt hätte wie ein Meister zu malen und ein Leben lang, bis man gelernt hätte, wie ein Kind zu malen." Kann man das auf das Schreiben übertragen? Braucht man ein ganzes Leben, um für Kinder in ihren Worten zu schreiben?
Almond: Ich denke ja...Ich mag dieses Zitat, denn ich glaube, dass es stimmt. Wenn wir erwachsen sind und werden Schriftsteller, denken wir, wir wären sehr schlau und sehr intelligent. Aber auf dem Weg zur intelligenten Person verlieren wir einiges an Spontaneität und die Begeisterungsfähigkeit eines Kindes. Jedes Mal, wenn ich ein neues Buch beginne, versuche ich wieder sehr, sehr jung zu sein und ich tue so, als ob ich das Schreiben gerade für mich entdeckt hätte. Schaut man sich jüngere Kinder an, wie sie die ersten Geschichten schreiben, das sollte eine Lektion für uns sein.
Ich glaube, wir können eine Menge von ihnen lernen. Als ich "Mina" schrieb und Picasso zitierte, dachte ich : Ja, ich werde das hier versuchen. Und das bedeutete: Ich habe versucht, wie "Mina" zu schreiben. Und nicht Mina hat versucht, wie ich zu schreiben. Ich möchte wie Mina schreiben.
Wegmann: Herzlichen Dank für das Gespräch, David Almond. Der englische Schriftsteller und Gewinner der Hans-Christian-Andersen-Medaille war heute Gast im Büchermarkt.
Bibliografie
"Zeit des Mondes". Aus dem Englischen von Johanna und Martin Walser, 184 Seiten, Ravensburger Buchverlag
"Zwischen Gestern und Morgen". Aus dem Englischen von Mechthild Testroet, 191 Seiten, Ravensburger Buchverlag
"Feuerschlucker". Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther, 203 Seiten, Hanser Verlag
"Lehmann oder die Versuchung". Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther, 237 Seiten, Hanser Verlag
"Klick! Zehn Autoren schreiben einen Roman". Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann, Reihe Hanser
"Mein Papa kann fliegen". Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther, Illus von Polly Dunbar, 121 Seiten, Hanser Verlag
"Mina". Aus dem Englischen von Alexandra Ernst, 255 Seiten, Ravensburger Buchverlag