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Ein Husarenstück aus Liebe

Die französische Widerstandskämpferin Lucie Aubrac holte ihren zum Tode verurteilten Mann am 21. Oktober 1943 aus einem Gefängnis in Lyon, in das ihn der dortige Gestapochef Klaus Barbie gesteckt hatte. Schon früh hatte sich die am 29. Juni 1912 geborene Winzertochter der Résistance angeschlossen.

Von Peter Hölzle | 29.06.2012
    "Die Sängerin Anna Marly ist die Attraktion des Lokals. Sie hat die Musik des Chant des Partisans komponiert, das Emmanuel d'Astier und Joseph Kessel geschrieben haben und mit dem die BBC uns im Januar bekanntgemacht hat; die ganze Résistance hat es sofort übernommen. Sie wird es für uns singen. ... Ich sitze da, mit Tränen in den Augen, und denke an die, die ich in Frankreich zurückgelassen habe", … "

    … notiert Lucie Aubrac unter dem 8. Februar 1944 in ihr Tagebuch, in dem sie neben der Begegnung mit der Komponistin und Interpretin der Hymne der Résistance auch ihr abenteuerliches Doppelleben als Gymnasiallehrerin und Untergrundkämpferin in Lyon unter deutscher Besatzung festhält - bis hin zur soeben glücklich gelungenen Flucht mit Mann und Kind nach London.

    Die am 29. Juni 1912 im Mâconnais geborene Winzertochter stieß schon früh zum Widerstand gegen Nazi-Deutschland und dessen französischen Verbündeten, Marschall Philippe Pétain, der vom Badeort Vichy aus einen südfranzösischen Satellitenstaat von Hitlers Gnaden regierte. Ja - sie gehörte zusammen mit ihrem Mann, Raymond Aubrac, zu den Gründern eines Zweiges der Résistance, wie sie in einem im Februar 2006 ausge-strahlten Interview mit "Radio France Inter" erzählt:

    ""Wir haben die Bewegung Libération gegründet; nicht allein, aber mit dem, der ihr Repräsentant und Chef war, dem Marineoffizier d'Astier de la Vigerie, dann mit Jean Cavaillès, einem Philosophieprofessor der 'Ecole normale supérieure' und schließlich mit einem Journalisten der Zeitung 'La Montagne' ... Jean Rochon, der bei der Deportation ums Leben kam."

    Doch vor der Gründung der Befreiungsbewegung "Libération-Sud" standen kleinere individuelle Protestaktionen auf eigene Faust. Lucie Aubrac:

    "Heute haben sie Spraydosen, um die Wände zu besprühen. Wir mussten uns mit Kreide oder Holzkohle behelfen, um mit Parolen wie 'Nazis raus!', 'hau' ab Pétain!', 'es lebe die Freiheit!' zu protestieren. ... Die Résistance beginnt mit Protest, und sie setzt sich fort mit der Hilfe für diejenigen, die in Not sind. Als das Vichy-Regime 1940 fieberhaft nach dem Direktor der 'Air France' fahnden ließ, um ihn, der ein ausgezeichneter Manager und obendrein auch noch Jude und Sozialist war, an die Deutschen auszuliefern, haben wir ihn eine Zeit lang bei uns versteckt, bis er nach England fliehen konnte."

    Berühmt wurde Lucie Aubrac durch spektakuläre Befreiungsaktionen. Eine ging in die Geschichte der Résistance ein. Am 21. Juni 1943 sprengt Klaus Barbie, der als "Schlächter von Lyon" berüchtigte Gestapo-Chef der Rhône-Stadt, eine Geheimsitzung der Résistance in Caluire bei Lyon und setzt neben dem Inlandschef Jean Moulin auch den Generalinspekteur der Geheimarmee der Südzone, Raymond Aubrac, fest. Während Moulin an den Folgen der Folter Barbies stirbt, überlebt Aubrac die Tortur, wird aber zum Tode verurteilt. Doch ehe das Urteil vollstreckt wird, gelingt es Lucie, ihren Mann mit List und Kaltblütigkeit aus den Fängen seiner Henker zu befreien. Sie gibt sich als unschuldiges Mädchen aus adligem Hause aus, das von dem Verhafteten geschwängert wurde, und erwirkt zur Rettung ihres Rufes eine Notheirat. Diese schafft die Gelegenheit zur Befreiung Aubracs und weiterer Mithäftlinge durch ein Kommandounternehmen der Résistance, das die hochschwangere Lucie am 21. Oktober 1943 selbst leitet.

    Widerstehen sei kein Wort, das nur aus der Vergangenheit lebt. Das sei eine Lebensform, die verlangt, an den Lebensabschnitt angepasst zu werden, in dem man gerade lebt, sagte Lucie Aubrac im eingangs zitierten Interview vom Februar 2006. Sie hielt sich daran. Bis zu ihrem Tod am 14. März 2007 leistete sie Widerstand - als Menschenrechtsaktivistin, Frauenrechtlerin und Verteidigerin des Sozialstaates.