Gott ist ein Mörder: Das ist die Botschaft schon der Titelseite dieser Extra-Ausgabe von Charlie Hebdo: "1 an après - l'assassin court toujours" – "Ein Jahr danach: der Mörder läuft immer noch frei herum" – und neben dieser Zeile ist ein bärtiger Mann zu sehen: im langen, blutbefleckten Gewand, mit wallendem Haar und ebensolchem Bart, der Schnurrbart lang, der Blick grimmig, wie in höchster Erregung, er schaut sich um wie auf der Flucht, auf dem Rücken eine Maschinenpistole, über seinem Kopf: ein Dreieck, mit einem Auge in der Mitte. Mit solcher Physiognomie ähnelt dieser "Mörder" eher den kitschigen Vorstellungen von einem christlichen, wenn auch bizarr entstellten Gottvater als einer muslimischen oder jüdischen Karikatur.
Extra-Ausgabe lacht über alle Religionen
Dass so ein Titel indes für alle Religionen und ihre Vertreter eine enorme Provokation sein kann, haben die teilweise heftigen ersten Reaktionen schon gezeigt. Später wird übrigens Salman Rushdie im Heft auftauchen: auch er im weißen Gewand und mit besagtem Dreieck über dem Kopf, aber er ohne Blut und verschmitzt grinsend. Der Text dazu: "Ein Jahr danach: Charlie ist konvertiert!" – und daneben sieht man die auf den Knien betenden Zeichner von Charlie Hebdo, die ausrufen: "Rushdie akbar!"
Das Heft lässt keinen Zweifel daran, dass Charlie Hebdo seiner Linie treu bleibt: Man darf über alles Witze machen, auch und selbstverständlich über alle Religionen. Riss alias Laurent Sourisseau, der neue Chef von "Charlie Hebdo": er hat die Titelkarikatur gezeichnet und beschwört in seinem Leitartikel die Trennung von Staat und Religion und damit das Recht auf jedweden Atheismus. Gerade ihre Auffassungen, die der Atheisten und der Laizisten, schreibt er, könnten noch eher Berge versetzen als "das Glauben der Gläubigen." Zu verurteilen seien die "vom Koran abgestumpften Fanatiker" wie auch "die Frömmelnden anderer Religionen", zu verurteilen seien alle, die "Charlie Hebdo" den Tod gewünscht hätten, nur weil die Zeitschrift es "gewagt" habe, über Religion zu lachen.
"Wir werden noch sehr lange zusammen lachen!"
Es gibt viel zu lesen in diesem neuen Heft: Die Ereignisse vor einem Jahr werden nachgezeichnet, die getroffenen Anti-Terror-Maßnahmen ironisch-kritisch reflektiert – auf dass das "El Dorado der Menschenrechte" nicht in einen "Überwachungsstaat" verwandelt werde. Und es gibt einiges zu lachen und das meiste davon hat mit Religiösem zu tun. Zeichnungen spielen kenntnisreich mit religiösen Ikonographien: So wird etwa die Geschichte der Anschläge auf die Redaktionsräume von "Charlie Hebdo" vor einem Jahr detailliert nacherzählt und illustriert in der Art eines "Letzten Abendmahls": an einer langen Tafel sitzen weitaus mehr als zwölf sehr fröhliche Jünger und – natürlich! – Jüngerinnen, sie alle gruppieren sich um die Zentralfigur der Zeichnung, um Charb, den Redaktionsleiter Stéphane Charbonnier, dessen Worte den gesamten Bildtext ausmachen: "Wahrlich, ich sage euch, wir werden noch sehr lange zusammen lachen!"
Mit Zeichnungen von ihm und vielen anderen der vor einem Jahr Ermordeten erinnert das neue Heft an sie. Da finden sich verschleierte Frauen, die sich zusammen mit ihrem Ehemann über Laizität lustig machen, da finden sich Priester, deren Penis zum Kreuz erigiert ist, eine Gruppe von Rabbinern, die ihre Thorarolle nicht mehr findet, und auch ein Krüppel, der sich auf Krücken den Weg entlang schleppt, dazu der Text: "Wunder in Lourdes – Charlie Hebdo geht wieder alleine!"
Neue Zeichner zu finden, ist schwer
Ob Charlie Hebdo wirklich wieder alleine geht? Finanziell steht die Zeitschrift glänzend da, doch zur Wahrheit gehört auch, dass dem Blatt der Nachwuchs fehlt. Das Arbeiten in der polizeilich dauerbewachten Anonymität macht es schwer, neue Zeichner zu finden – was man als Leser und Betrachter nicht merkt, noch nicht wirklich merkt – eben weil so viele alte Zeichnungen verwendet wurden. Doch die Lücke ist da und fühlbar, worüber auch der schöne Gastbeitrag von Ralf König nicht hinwegtäuschen kann.
Die große neue Provokation sucht das Heft nicht – mag auch eine gezeichnete Figur, die man als "Gott" verstehen könnte (man muss das aber nicht), mag auch diese Figur auf dem Titelbild als Mörder dargestellt worden sein. Das Heft ist eher eine Verbeugung vor den Ermordeten und ihrer Kunst – vielleicht verbunden mit dem Versuch, durch Nacherzählen des Schrecklichen dieses – so das denn geht – zu verstehen. Die Selbstvergewisserung, sich nicht unterkriegen zu lassen, kommt hinzu. Wie heißt es an einer Stelle so schön? "Zeichnen heißt glauben".