Stephanie Rohde: Heute vor genau einem Jahr haben die EU und die Türkei ein Abkommen geschlossen, mit dessen Hilfe weniger Geflüchtete nach Europa kommen sollen. Die Türkei verpflichtete sich, Flüchtlinge, die in Griechenland keine Aussicht auf einen erfolgreichen Asylantrag haben, zurückzunehmen, dafür nimmt die EU syrische Flüchtlinge aus der Türkei auf. Das ist aber nicht alles. Die EU hat der Türkei auch Finanzhilfen zugesagt, drei Milliarden Euro insgesamt. Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Gerald Knaus von der "European Stability Initiative", ESI. Knaus gilt als Kopf hinter dieser Vereinbarung. Guten Morgen!
Gerald Knaus: Ja, guten Morgen!
"Sehr viel größere Probleme ohne Abkommen"
Rohde: Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl bezeichnen das Abkommen als menschenverachtenden Großversuch in der Ägäis, die Türkei droht immer wieder damit, das Abkommen aufzukündigen. Das hört sich nicht wirklich nach einem erfolgreichen Abkommen an, oder?
Knaus: Na ja, die Frage ist bei all diesen Fragen immer: Was ist die Alternative? Wie war die Situation davor, wie wäre sie ohne dieses Abkommen? Wir sehen das ja derzeit sehr gut im zentralen Mittelmeer, wo im letzten Jahr mehr Leute als je zuvor sich in kleine Boote begeben haben auf dem Weg nach Italien, mehr Leute ertrunken sind als je zuvor: 4.500, von denen man es weiß. In der Ägäis ist die Zahl derjenigen, die ertrunken sind, dramatisch zurückgegangen. Die ersten drei Monate letzten Jahres kurz vor dem Abkommen waren die tödlichsten Monate in der Ägäis. Über 360 Menschen sind ertrunken, die Hälfte davon Kinder. Also, wenn man das Abkommen fair beurteilt und auch die Probleme – und es gibt viele – analysiert, muss man natürlich schon auch berücksichtigen, dass die Abwesenheit dieses Abkommens ganz sicherlich zu sehr, sehr viel größeren Problemen geführt hätte, sowohl in Griechenland als auch in der Ägäis, und dass das Fehlen jedes Plans im zentralen Mittelmeer eben auch tödliche Folgen hat. Also, in dieser Frage geht es eben darum, Wege zu finden, Kontrolle der Grenzen mit Aufrechterhaltung der Flüchtlingskonvention und bestehendem Asylrecht zu verbinden. Das ist schwierig, es ist möglich, es bedarf allerdings einer größeren Anstrengung als die, die wir in den letzten zwölf Monaten von der EU gesehen haben.
"Zustände in den Lagern in Griechenland sind katastrophal"
Rohde: Dazu kommen wir gleich noch. Viele sagen, dass nicht der Türkei-Deal dazu geführt hat, dass weniger Geflüchtete im Endeffekt nach Europa kommen, sondern die sogenannte Schließung der Balkanroute. Stimmt das?
Knaus: Na ja, also, eines ist klar und das muss man auch immer bei der Vielzahl an Kritik an dem EU-Türkei-Abkommen berücksichtigen: Die Schließung der Balkan-Route ist ja in einigen Schritten erfolgt und die endgültige Schließung war am 6./7. März 2016, also am gleichen Tag, an dem der türkische Premierminister Davutoglu die Idee des EU-Türkei-Abkommens Frau Merkel und Herrn Rutte, dem niederländischen Premierminister, vorgeschlagen hat. Und zu dem Zeitpunkt waren die Erwartungen der UN-Organisationen vor Ort in Athen, dass innerhalb kürzester Zeit 200.000 Menschen in Griechenland festsitzen würden. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung damals in Athen mit dem EU-Kommissar Avramopoulus und den UN-Hilfsorganisationen, die sich schon darauf vorbereitet haben. Jetzt wissen wir, derzeit sind auf den griechischen Inseln ungefähr 9.000 Menschen, auf dem Festland geschätzt 30.000, und die griechischen Behörden kommen damit nicht zurecht, trotz viel Geld. Die Zustände in vielen dieser Lager sind katastrophal, man kann sich vorstellen, wie das gewesen wäre mit 200.000. Andererseits, um auf den Effekt der Schließung der Balkan-Route zurückzukommen, wissen wir auch, dass viele, wahrscheinlich die Hälfte derjenigen, die heute angeblich auf dem griechischen Festland festsitzen, dort nicht mehr sind. Wenn Sie sich die Zahlen ansehen von Leuten, die in Österreich angekommen sind nach der Schließung der Balkan-Route, dann merken Sie, dass immer noch Zehntausende den Weg nach Mitteleuropa gefunden haben, nur eben jetzt mit Schleppern, mit viel größerer Gefahr. Und natürlich destabilisiert das auch die fragilen Staaten auf dem Westbalkan. Denn wenn man den einzigen Weg, den diese Leute haben, wenn man sie dazu drängt, sich Schleppern anzuvertrauen, ihr Leben zu riskieren, dann verdient daran das organisierte Verbrechen, aber den Flüchtlingen geht es schlechter. Also, was man eigentlich bräuchte, wäre, das EU-Türkei-Abkommen ordentlich umzusetzen, auch das Versprechen …
"Manche in der EU setzen auf Abschreckung der Flüchtlinge"
Rohde: Was heißt das, was würde das konkret heißen?
Knaus: Ja, konkret würde das heißen, dass man einerseits das Versprechen umsetzt, das man gemacht hat der Türkei, eben auch Leute in einem ordentlichen Verfahren umzusiedeln. In der Türkei leben viele Menschen, die etwa Verwandte jetzt schon in der EU haben. Wenn diese Menschen sich in ein Boot begeben und nach Griechenland fahren, dann darf man sie nach dem EU-Recht ohnehin nicht in die Türkei zurückschicken. Warum bietet man hier kein geregeltes Verfahren an, das diese Umsiedlung über die knapp 4.000, die bereits umgesiedelt wurden, einfacher macht? Das Zweite ist – und das passiert, das ist wichtig und muss fortgesetzt werden – die Unterstützung für die Flüchtlinge in der Türkei. Und das Dritte ist, man muss die Bedingungen in Griechenland verbessern. Also, ich habe auch oft den Eindruck auf den griechischen Inseln, und erst letzte Woche war ich mit dem Bürgermeister von Chios, der zweitwichtigsten dieser Ägäisinseln, unterwegs, auch auf den Inseln hat man diesen Eindruck, dass manche in der EU darauf setzen, dass, wenn die Bedingungen auf den Inseln nur schlecht genug sind, also wenn die Lager abschreckend sind, dass das auch dazu führt, dass auch ohne Zusammenarbeit mit der Türkei weniger Leute kommen. Und das ist natürlich im Widerspruch zum EU-Recht, denn es gibt klar definierte Standards, wie Ankommende, auch Asylsuchende zu behandeln sind. Also, da muss man dringend die Dinge vor Ort verbessern.
"In der EU ist niemand wirklich verantwortlich für das Abkommen"
Rohde: Das heißt, Sie unterstellen der EU hier auch Zynismus in diesem Punkt?
Knaus: Nein, ich unterstelle … wir haben eine Mischung. Also, ich glaube, eines der Probleme ist, dass in der EU niemand wirklich verantwortlich ist für dieses Abkommen. Es ist wie ein Waisenkind, es hat keinen wirklichen Sprecher. Ich werde jetzt hier heute fünf Radiointerviews führen. Das sollte nicht ein gemeinnütziger Verein tun, der hier über das Abkommen spricht. Das sollte jemand machen, der von der EU den Auftrag bekommt, über das Abkommen nicht nur zu sprechen, sondern die konkreten Probleme vor Ort auch jeden Tag zu lösen, darüber zu kommunizieren, mit den Bürgermeistern auf den Inseln zu kommunizieren, mit der Türkei, auch mit den NGOs und den Kritikern, die es bei diesem Abkommen ja viele gibt. Aber diese Person fehlt, die Umsetzung ist mangelhaft, die Berichte, die die Kommission im letzten Jahr regelmäßig über die Situation auf den Inseln veröffentlicht hat, waren zum Teil grob irreführend. Da werden Probleme gar nicht angesprochen. Die Kommission fühlt sich allerdings auch verlassen, denn wenn dann die Staaten einmal etwas beschließen wie die Umsiedlung aus Griechenland von Flüchtlingen vom Festland, dann fehlen wiederum die Mitgliedsstaaten. Also, mit wenigen Ausnahmen, die Niederlande, Deutschland, Frankreich beteiligen sich an dieser Umsiedlung von Flüchtlingen vom Festland, andere EU-Staaten machen nicht mit. Hier fehlen die Strukturen, hier fehlt der Wille. Ich habe manchmal das Gefühl, jetzt wo die Zahlen zurückgegangen sind, wenden sich auch die Regierungen ab. Darum ist es wichtig, dass die Medien und die NGOs weiterhin genau hinschauen.
"Von einer Massenabschiebung kann keine Rede sein"
Rohde: Ich würde gern noch einen Punkt besprechen: Seit gut einer Woche verhandelt das höchste griechische Gericht über die Frage, ob die Türkei ein sicherer Drittstaat ist. Wenn dieses Gericht zu dem Schluss kommt, nein, dann ist das Abkommen doch tot, oder? Was passiert dann?
Knaus: Na ja, bis jetzt … Das Abkommen funktioniert seit einem Jahr und bis jetzt war diese Frage eben ungeklärt. Eine Erste Kammer dieses Gerichts hat vor einigen Wochen mit sechs zu eins entschieden, dass am Fall von zwei konkreten Klägern die Türkei für diese Kläger ein sicherer Drittstaat ist. Jetzt erwarten die meisten Griechen, mit denen ich in Athen gesprochen habe, dass das Gesamturteil diesem ersten Entscheid folgen wird. Aber die wirkliche Frage ist ja eine andere, nämlich: Wie kann die EU garantieren – und das ist von ihrem eigenen Asylrecht her erforderlich –, dass jeder, der zurückgeschickt wird in die Türkei, dass diesen Personen die von der Türkei zugesagten und auch im türkischen Gesetz vorgesehenen Rechte, dass die garantiert sind. Dazu braucht man wieder eine Struktur. Also, ich habe vorgeschlagen schon vor einigen Monaten, eine Ombudsperson einzusetzen für dieses Abkommen. Jeder, der zurückgeschickt wird: Es muss nachvollziehbar sein, was mit den Personen passiert. Wenn es Syrer sind, ob sie sofort und wie schnell sie den Status wiedererlangen, den sie in der Türkei hatten, und für Nicht-Syrer, ob sie die Möglichkeit haben, schnell, wenn sie wollen, einen Asylantrag zu stellen. Wenn man das nicht hat – und die gleiche Voraussetzung gibt es ja auch innerhalb der EU, etwa bei Dublin-Transfers, also wenn man jemand aus Deutschland nach Italien zurückschicken will, auch da muss man ja nach dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof nachweisen, auch im Einzelfall, dass diese Personen dann etwa in Italien gut behandelt werden. Wenn es da keine Strukturen gibt, dann kann das nicht passieren. Und es ist auch nicht passiert, es wurden ja, wie Ihr Korrespondent auch berichtet hat, bis jetzt in den letzten zwölf Monaten weniger Menschen von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgeschickt als in den drei Monaten von Griechenland in die Türkei geschickt wurden vor und ohne das Abkommen. Das heißt, von einer Massenabschiebung, wie manche Menschenrechtsorganisationen am Anfang unterstellt oder befürchtet haben, kann keine Rede sein. Es sind weniger als 80 Menschen im Monat in die Türkei zurückgeschickt worden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.