Dirk-Oliver Heckmann: Heute ist es genau ein Jahr her, dass Angela Merkel erneut zur Kanzlerin gewählt wurde – wieder einmal als Chefin einer schwarz-roten Koalition, die groß zu nennen, angesichts der Mehrheitsverhältnisse, sich mittlerweile verbietet. Schon ein Jahr später wird heftig darüber debattiert, ob Merkel, die erst kürzlich ihren Parteivorsitz abgegeben hat, bald auch ihr Regierungsamt zur Verfügung stellt.
Am Telefon begrüße ich jetzt den Politikberater Michael Spreng. Schönen guten Tag, Herr Spreng.
Michael Spreng: Guten Tag, Herr Heckmann.
Heckmann: "In dieser Regierung steckt mehr Ende als Anfang." So lautet die Kommentarüberschrift des Kollegen Nico Fried von der "Süddeutschen Zeitung". Ich habe es gerade schon mal zitiert. Sehen Sie das auch so?
Heckmann: Ja. Diese Koalition ist in keiner guten Verfassung. Sie macht einerseits ganz ordentliche Politik; sie ist andererseits auf dem Tiefpunkt ihres Ansehens. Frau Merkel ist einerseits eine Kanzlerin auf Abruf; andererseits will eine Mehrheit der Bevölkerung, dass sie bis 2021 weitermacht. Das ist eine paradoxe Situation.
Heckmann: Wie ist das zu erklären, Herr Spreng?
Spreng: Es hängt damit zusammen, dass es A in der CDU einen Führungswechsel gegeben hat und natürlich die Frage gestellt wird, wann Frau Kramp-Karrenbauer auch das Amt von Frau Merkel übernimmt, und andererseits natürlich die nach wie vor desolate Lage der SPD. Beide Parteien haben interne Probleme, die sich dann natürlich auch auf die Koalition auswirken.
"Die Wirren des letzten Jahres"
Heckmann: Dennoch! Man muss sagen: Parität in der Gesundheitsversorgung, Pflegestärkungsgesetz, Stabilisierung der Rente, Kitaoffensive, Baukindergeld, Mietpreisbremse, Kohleausstieg – ich könnte die Aufzählung fortsetzen. Jetzt auch das Terminservice- und Versorgungsgesetz im Bundestag. Weshalb gelingt es auch Angela Merkel nicht, daraus was zu machen?
Spreng: Da wirken immer noch die Wirren des letzten Jahres nach, der Streit Seehofer-Merkel, der Fall Maaßen. Zum zweiten hat Frau Merkel natürlich nicht mehr die Autorität, die sie hatte, als sie noch beide Ämter inne hatte. Ihre Autorität ist geschwächt. Frau Kramp-Karrenbauer gibt immer wieder, auch durch ihre politischen Statements, Signale, dass sie gerne die große Politik machen möchte, und in dieser Lage ist die Kanzlerin in ihrer Autorität so geschwächt, dass sie keinen Kurs mehr vorgibt, wobei sie das ja ohnehin nur selten getan hat.
Heckmann: War das ein Fehler, den Parteivorsitz abzugeben?
Spreng: Frau Merkel hat ja selbst gesagt, die beiden Ämter gehören zusammen. Auf der anderen Seite musste sie Druck aus der CDU nehmen und verhindern, dass sie gewissermaßen öffentlich auf dem CDU-Parteitag abgestraft wird. Es ist eine ganz schwierige Operation und es ist ja bis heute auch kein einziger Weg in Sicht, wie Frau Kramp-Karrenbauer vor 2021 Kanzlerin werden könnte.
Heckmann: In der Tat: Die Diskussion läuft ja im politischen Berlin. Der SPD-Parteirechte Johannes Kahrs, der hat ja schon eine Wahl von Kramp-Karrenbauer in dieser Legislaturperiode ausgeschlossen, und er ist auch nicht der einzige Sozialdemokrat. Ist das eine Scheindiskussion, oder ist sie logisch?
Spreng: Die Diskussion entsteht ja dadurch, dass diese Ämter geteilt wurden und Frau Kramp-Karrenbauer die potenzielle nächste Kanzlerin ist. Und die SPD hat völlig recht. Sie könnte ja nicht, nehmen wir an, Frau Merkel würde zurücktreten und Frau Kramp-Karrenbauer würde kandidieren für das Amt der Kanzlerin, die SPD kann ja nicht einfach Frau Kramp-Karrenbauer wählen, sondern sie müsste einen neuen Koalitionsvertrag aushandeln, den erneut der Partei vorlegen, und es ist schier ausgeschlossen, dass die SPD das mitmacht. Dieser Weg ist schon mal versperrt.
Neustart der Koalition ausgeschlossen
Heckmann: Aber es ist doch nicht so, dass Koalitionsverträge zwischen Personen abgeschlossen werden, sondern zwischen Parteien.
Spreng: Ja. Aber die SPD wird dann sagen, es ist eine völlig neue Lage. Es wäre ein Neustart der Koalition mit neuen Vertragsverhandlungen. Ich sehe diesen Weg auf keinen Fall. Ich sehe auch nicht den Weg über eine mögliche Jamaika-Koalition, denn die Grünen stehen heute doppelt so gut da wie die FDP, müssten sich aber nach den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen mit einem Platz auf der Rückbank zufriedengeben. Das können die Grünen auch nicht machen. Auch ein Jamaika-Wechsel ist nicht im Interesse der Grünen. Insofern blieben nur Neuwahlen, aber SPD und CDU dümpeln da eher in den Umfragen auf der Stelle. Keine dieser Optionen ist überzeugend.
Heckmann: Das sollte auch nicht gerade motivieren, die SPD jedenfalls, zu sagen, wir wählen Annegret Kramp-Karrenbauer nicht mit, die schlechten Umfragewerte für die Sozialdemokraten.
Spreng: Ja. Aber warum sollten sie? Sie haben eine Koalition abgeschlossen unter bestimmten politischen, personellen Bedingungen. Im Herbst kommt ja ohnehin diese sogenannte Evaluierung, die Überprüfung, was die Koalition bisher erreicht hat und ob man sich neue Ziele setzt, und dieses Datum ist ja für die SPD von doppelter Bedeutung. Entweder, dass sie neue Bedingungen stellt, um wieder eine CDU-Frau zur Kanzlerin zu wählen, einen neuen Koalitionsvertrag aushandelt, oder andererseits diese Überprüfung der Großen Koalition zum Anlass nimmt, aus ihr auszusteigen. Aber dass sie einfach so weitermacht und sich gewissermaßen ein zweites Mal in diese Rolle fügt, halte ich für ausgeschlossen.
Heckmann: Aber noch mal nachgefragt: Kann sich die SPD wirklich leisten, aus der Koalition auszusteigen, angesichts dieser Umfragewerte, die ja nicht unbedingt – so sieht es jedenfalls nicht aus – besser werden dürften in den nächsten Monaten?
Spreng: Bei der SPD gibt es ja eine starke Gruppe, die ohnehin gegen die Große Koalition ist, und wenn die Europawahl und die Landtagswahlen in Ostdeutschland dramatisch verloren würden, könnte in der SPD eine Lage entstehen, in der die nicht mehr beherrschbar ist, die durch die Parteiführung nicht mehr kontrollierbar ist. Insofern ist da auch die Möglichkeit auf dem Tisch, dass die SPD die Nerven verliert und die Große Koalition verlässt.
"Der Weg wird Frau Kramp-Karrenbauer geebnet"
Heckmann: In diesen Tagen ist man schnell in der Gefahr, schnell über die SPD zu sprechen, angesichts der Situation der Partei. Kommen wir mal zurück auf Angela Merkel, auf die Kanzlerin, die heute vor einem Jahr noch mal gewählt wurde zur Kanzlerin. Sie selbst hat ja Annegret Kramp-Karrenbauer auf dem Feld der Europapolitik in diesen Tagen den Vortritt gelassen und hat sie antworten lassen auf Emmanuel Macron. Das heißt, Angela Merkel hat den Rückzug selbst schon eingeleitet?
Spreng: Ja! Sie eröffnet Frau Kramp-Karrenbauer auch neue bundespolitische und außenpolitische Spielfelder. Das finde ich auch vernünftig, denn alle wissen ja in der CDU, oder zumindest Frau Merkels Wunsch ist es, dass Frau Kramp-Karrenbauer ihr nachfolgt. Aber auch Frau Merkel kennt keinen Weg, dies zu bewerkstelligen. Das ist das Problem. Der Weg wird Frau Kramp-Karrenbauer geebnet, aber keiner weiß, wie sie das Kanzleramt erreichen soll vor 2021.
Heckmann: Monatelang wird jetzt möglicherweise über die Zukunft von Angela Merkel debattiert. Was heißt das für ihr politisches Vermächtnis?
Spreng: Ihr Vermächtnis hängt entscheidend von der Flüchtlingsfrage ab. Das wird natürlich bleiben. Deshalb will sie ja auch die Zeit noch bis 2021 nutzen, um auf diesem Gebiet weitere Fortschritte zu erzielen. Ihre Amtszeit wird ja außenpolitisch zumindest eine bedeutende Amtszeit bleiben, auch mit massiven innenpolitischen Veränderungen, aber sie ist jetzt ein Auslaufmodell. Sie hat sich selbst durch ihren Rückzug vom Parteivorsitz zum Auslaufmodell erklärt.
Heckmann: Was würden Sie ihr raten?
Spreng: Angesichts der Lage, wie wir sie gerade diskutiert haben, dass es im Grunde keinen überzeugenden Weg gibt, Frau Kramp-Karrenbauer vor 2021 zu installieren, würde ich ihr raten, so gut wie möglich bis zu diesem Zeitpunkt weiterzumachen.
Heckmann: Und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommt?
Spreng: Die halte ich für sehr groß.
Heckmann: Michael Spreng war das, Politikberater. Wir haben gesprochen über ein Jahr Angela Merkel als Kanzlerin der Großen Koalition. Herr Spreng, danke Ihnen für das Gespräch!
Spreng: Danke auch, Herr Heckmann.
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