Doris Schäfer-Noske: Ein Jahr ist es jetzt her, da hat ein Expertenbericht zur kolonialen Raubkunst in Frankreich für Aufsehen gesorgt. Die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und der senegalesische Ökonom Felwine Sarr forderten darin: Alle Objekte aus Afrika in französischen Museen, die dorthin während der Kolonialzeit gelangt sind, müssen zurückgegeben werden – und zwar sofort, ohne weitere Erforschung der Herkunft. Das heißt auch: Wenn man nicht belegen kann, dass Objekte auf legitime Weise in französischen Besitz kamen, dann müssen sie restituiert werden. Staatspräsident Macron hatte den Bericht in Auftrag gegeben. Und ich habe den Historiker und Afrikawissenschaftler Jürgen Zimmerer gefragt, wie er diesen Bericht damals empfunden hat - als eine Wende beim Thema koloniale Raubkunst, eine Art Befreiungsschlag?
Jürgen Zimmerer: Ja, auf alle Fälle. Ich denke, man kann die Bedeutung dieses Berichts überhaupt nicht überschätzen. Also man kann in der Diskussion um koloniale Objekte in europäischen Museen jetzt zählen, die Zeit vor dem Bericht und die Zeit nach dem Bericht, weil der Bericht eine unglaubliche Wirkung entfaltet hat, auch über Frankreich hinaus. Also auch in die deutsche Politik kam Bewegung rein. Dieses Thema wird jetzt etwas ernster genommen. Das heißt, der Bericht und auch die Ankündigung ein Jahr vorher von Macron, dass er sich diesem Thema überhaupt annehmen will, das hat eigentlich den Druck entfaltet, dass Regierungen auch in anderen Ländern etwas unternehmen mussten, auch wenn die konkreten Ergebnisse in Frankreich bisher sehr überschaubar sind, weil die Objekte, die nach Benin zurückgegeben werden sollen, noch nicht zurückgegeben werden können, weil dort zuerst ein Museum gebaut wird, da haben also die Empfänger sozusagen, die rechtmäßigen Eigentümer drum gebeten, um die Verschiebung, und weil generell Frankreich etwas zurückgerudert ist, welche Objekte und wie viele das eigentlich umfasst.
"Man müsste die Objekte treuhänderisch übergeben"
Schäfer-Noske: Ja, manche Museen in Frankreich wussten ja gar nicht ohne Recherche und Verhandlungen, an wen sie es jetzt eigentlich zurückgeben sollten.
Zimmerer: Ja, das ist ja ein Argument, das man ja auch in internationalen Diskussionen immer wieder hört. Ich denke, die europäischen Museen müssen einfach samt und sonders für sich entscheiden, ob sie geraubte Objekte, unfair erworbene Objekte behalten wollen, oder ob sie restituieren wollen. Und dann müsste man, das wäre mein Vorschlag zur Debatte, eben das an die UNESCO oder eine Stiftung übergeben treuhänderisch, bis die rechtmäßigen Eigentümer genau geklärt haben, wie das jetzt intern in den verschiedenen afrikanischen Ländern und Regionen und Gesellschaften verteilt wird. Es kann nicht die Position in Europa oder das darf es nicht sein: Wir geben nicht zurück, weil noch nicht genau geklärt ist die Modalitäten in den Empfängergesellschaften, bei den rechtmäßigen Eigentümern.
"In Deutschland setzt man zu sehr auf Provenienzforschung"
Schäfer-Noske: Sie haben schon angesprochen, dass die Diskussion auch in Deutschland ja in Gang gekommen ist. Aber wie sieht es denn derzeit mit der Situation in Deutschland aus, wo ja die Museen auch schon mit den Restitutionen im Zusammenhang mit der NS-Raubkunst Schwierigkeiten haben?
Zimmerer: Na ja, also in Deutschland ging man einen anderen Weg als in Frankreich. Macron hat eben zwei Intellektuelle, die über jeden Zweifel erhaben waren, damit beauftragt, eine große Lösung zu suchen. In Deutschland hat man das eigentlich auf Kommissionen verteilt, in der vorhersehbar war, dass im Grunde kein großer Wurf dabei rauskommen wird. Und ich habe den Eindruck, dass man in Deutschland zu sehr auf Provenienzforschung setzt und im Grunde hier die Restitutionen, die möglich und erforderlich wären, verzögert. Denn man lässt Konvolute erforschen, man lässt Bestände erforschen, und auf der anderen Seite liegen in Berlin und demnächst im Humboldt-Forum 440 Benin-Bronzen aus dem heutigen Nigeria, die eindeutig Raubkunst sind, und an die wagt man sich eigentlich nicht ran, darüber diskutiert man nicht. Stattdessen arbeitet man sich an Trommeln oder Pfeilspitzen ab, die im Grunde ja als Dutzendware hier liegen und nicht diese große symbolische Kraft haben.
Schäfer-Noske: Liegt es auch daran, dass die Politik zwar moralische Appelle formuliert, aber die Rückgabe dann doch den Museen überlassen bleibt?
Zimmerer: Also das Problem ist, dass man die Museen alleine lässt. Was es braucht, ist einfach eine politische Entscheidung, zu sagen: Wie gehen wir mit geraubten Objekten um? Also zum einen, man darf nicht sagen, wir geben geraubte Sachen zurück, aber nicht alles ist geraubt. Denn vieles ist nun mal unfair erworben, das ist ja auch diese Beweislast-Umkehr, die wir fordern, zu sagen: Also wenn man nicht beweisen kann, dass es rechtmäßig erworben wurde, dann war es wahrscheinlich unrechtmäßig, da der Kolonialismus einfach ein System strukturellen Rassismus' und Ausbeutung darstellt.
"Dekolonisierung heißt auch: Kontrolle abgeben"
Schäfer-Noske: So wie es ja in Frankreich jetzt in dem Bericht auch heißt.
Zimmerer: Genau. Also Sarr und Savoy teilen da meine Meinung. Und man muss mit diesen Objekten anfangen, die eindeutig Raubkunst sind. Die Benin-Bronzen, die sind wohl die berühmtesten Objekte kolonialer Raubobjekte überhaupt, die es weltweit gibt. Und da operiert man dann damit, zu sagen: Wir geben die nur als Leihgabe zurück. Ich habe ja gesagt, das geht nicht. Also wenn es geklaut ist, muss es zurückgegeben werden, meiner Meinung nach sofort das Eigentum restituieren und dann einige Objekte als Leihgabe aus Nigeria in Berlin zeigen, und zwar in einem Humboldt-Forum, das man ganz oder in Teilen in Benin-Forum umbenennt, um endlich diese Raubgeschichte dieser Sammlungen auch offen anzuerkennen.
Schäfer-Noske: Das heißt also, die Deutungshoheit im Humboldt-Forum würden Sie dann den afrikanischen Ländern überlassen.
Zimmerer: Ja. Wenn man das nicht macht, dann behalten wir ja die Kontrolle, und Dekolonisierung ist ja auch: Kontrolle abgeben. Die Dekolonisierung muss notwendigerweise den entgegengesetzten Schritt gehen.
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