Archiv

Ein Jahr #MeToo-Debatte
"Wir haben mittlerweile ein Klima der Denunziation"

Seit einem Jahr berichten Frauen unter dem Hashtag #MeToo von ihren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. Durch die Initiative werde Gewalt gegen Frauen viel stärker thematisiert, sagte die Philosophin Svenja Flaßpöhler im Dlf. Die Debatte habe aber auch eine extreme Schlagseite.

Svenja Flaßpöhler im Gespräch mit Katja Lückert |
    Svenja Flaßpöhler
    Svenja Flaßpöhler findet, dass sich Frauen pauschal in die Rolle des Opfers hineinschreiben und -reden durch die MeToo-Initiative. "Damit machen sie sich viel kleiner als sie sind". (Svenja Flaßpöhler)
    Katja Lückert: Svenja Flasspöhler, heute am Tag, an dem sich die MeToo-Bewegung zum ersten Mal jährt, wurden auch die Friedensnobelpreise bekannt gegeben. Und sie gehen in diesem Jahr an zwei Menschen, die sich gegen Gewalt gegen Frauen richten, nämlich den kongolesischen Gynäkologen Denis Mukwege und die Jesidin Nadia Murad. Besteht für Sie da ein Zusammenhang, haben Sie das Gefühl, Gewalt gegen Frauen ist im allgemeinen Diskurs stärker zum Thema geworden – obwohl wir doch deutliche Unterscheidungen machen müssen zwischen sexueller Gewalt, die im Kriegsfalle eingesetzt – und sexueller Gewalt in relativ friedlichen Gesellschaften des Westens?
    Svenja Flaßpöhler: Zunächst einmal ist es natürlich vollkommen richtig beobachtet, dass unsere Aufmerksamkeitsschwelle enorm gesunken ist. Das heißt, wir nehmen viel mehr wahr. Wir sehen viel mehr Gewalt gegen Frauen. Wir thematisieren die Gewalt gegen Frauen viel, viel stärker. Das wird klar an so prominenten Beispielen wie Cristiano Ronaldo, gegen den es jetzt Vergewaltigungsvorwürfe gibt. Natürlich aber auch der Supreme Court-Kandidat Brett Kavanaugh, der in der Diskussion steht. Das heißt, wir reden eigentlich gerade ständig über Gewalt gegen Frauen.
    Insofern ist es sicher so, dass wir sensibilisiert sind für dieses Thema durch die MeToo-Debatte. Ich würde sagen, das ist zunächst einmal gut so. Ich finde aber, dass die gesamte Debatte auch eine extreme Schlagseite und eine hohe Problematik hat. Und diese Problematik liegt zum einen darin, dass ja MeToo als Initiative oder als Bewegung sich - wenn man es jetzt mal rein quantitativ nimmt - sich gar nicht primär für Vergewaltigung interessiert, sondern dass die meisten Fälle, die bei MeToo beschrieben wurden im vergangenen Jahr, viel diffusere Fälle sind. Da geht es um sexuelle Belästigung, da geht es um verbale Überschreitungen, vielleicht auch um einen misslungenen Flirt. Und das, finde ich, ist ein ganz, ganz großes Problem, weil da nicht mehr differenziert wird zwischen Situationen, in denen Frauen wirklich handfester Gewalt ausgesetzt sind, in denen sie klar Opfer sind, und aber eben auch solchen Situationen, wo Frauen durchaus Handlungsoptionen hätten, wenn sie sie denn nutzen würden.
    Und was ich schwierig finde, ist, dass sich Frauen pauschal und ganz strukturell in die Rolle des Opfers hineinschreiben und -reden durch diese MeToo-Initiative. Und damit machen sie sich viel kleiner als sie sind. Und sie zeichnen ein absolut unterkomplexes Bild von der gesellschaftlichen Realität.
    "Es gibt da einen extremen Sexismus von weiblicher Seite"
    Lückert: In der konservativen Pariser Tageszeitung "Le Figaro" liest man heute, ein Sündenbock-Feminismus leugne jeden Unterschied zwischen den Geschlechtern und die Andersartigkeit der Veranlagung und der Liebe. Die Vorstellung, dass Weiblichkeit ein soziales Konstrukt und Männlichkeit eine Gefahr für andere sei, habe seitdem zahlreiche Anhänger und lautstarke Fürsprecherinnen gefunden. Wie sehen Sie das?
    Flaßpöhler: Dass natürlich der Mann oder Männlichkeit stark kriminalisiert wird durch die MeToo-Initiative, das liegt, glaube ich, wirklich auf der Hand. Es gibt da einen extremen Sexismus von weiblicher Seite, eine Reduktion des Männlichen auf Übergriffigkeiten, Aggressivität, Triebsteuerung usw. Ich finde es schwierig, dass MeToo die weibliche Position, das Mitwirken auch an bestimmten Machtkonstellationen komplett ausblendet.
    Es geht überhaupt nicht um die Frage, warum sich Frauen in Situationen, in denen sie sich durchaus verhalten könnten, passiv bleiben, vielleicht auch dem Mann gefallen wollen, ihn nicht verletzen wollen, seinen Narzissmus nicht kränken wollen – und das sind alles Verhaltensmuster, die aufs engste zusammenhängen mit kulturellen Konstruktionen, mit kulturellen Bildern, in denen eben nicht nur Männer, sondern auch Frauen gefangen sind. Und diese Verschränkung zu sehen und auch den weiblichen Anteil an den Strukturen, die man zu Recht beklagt, das halte ich wirklich für selbstgefällig und für blind.
    Das andere, was ich aber auch noch wirklich sagen will, ist, dass es natürlich richtig ist, wie eingangs gesagt, dass wir Gewalt gegen Frauen, dass wir dafür stärker sensibilisiert sind, das ist richtig. Aber wenn wir uns die gegenwärtige Diskurslage ansehen und die Art und Weise, wie sich diese Dynamik entwickelt – dann muss man doch sagen: Es geht hier nicht einfach nur um Aufklärung und darum, dass Frauen endlich ihre Stimmen erheben, sondern was wir mittlerweile haben, ist ganz klar ein Klima des Misstrauens, ein Klima der Denunziation, ein Klima von Schauprozessen. Und man könnte sogar sagen - soweit gehe ich jetzt einfach mal - auch von einer ganz gewissen Vergangenheitsfixierung. Wieviel Energie wir in den letzten Monaten gesteckt haben, um Ereignisse zu beleuchten und ans Licht zu bringen, die sich in den 80er-Jahren ereignet haben, in die man wahrscheinlich nie wieder Licht bringen wird, wie übrigens jetzt auch im Fall Brett Kavanaugh, also, das heißt, die Frage, ob diese Fixierung, die wir da gerade erleben, ob das wirklich eine positive Entwicklung nehmen wird, das halte ich für sehr fraglich.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.